Die Wiederholung; Phantasien der Wiederholung

Notizbuch, 160 Seiten, 24.04.1982 bis 18.08.1982

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ÖLA SPH/LW/W100Mit diesem zwischen 24. April und 18. August 1982 entstandenen Notizbuch wird Der Chinese des Schmerzes am vorderen Vorsatz erstmals konkret mit dem vorläufigen Projekttitel »Losers Geschichte« benannt (S. I). Überlegungen zur Erzählung waren bereits in den beiden vorangehenden Notizbüchern zu bemerken, die Entwicklung der wesentlichen Motive zeichnet sich allerdings erst mit der namentlichen Nennung des Protagonisten »Loser« ab. Das Symbol »«, das Handke zur Kennzeichnung von Notizstellen (z.B. das für die Erzählung zentrale Schwellenmotiv) zu Der Chinese des Schmerzes verwendet, wird neben dem Projekttitel am vorderen Vorsatz eingeführt (im vorangehenden Notizbuch war das Symbol noch nicht einem einzelnen Werkprojekt zuzuordnen). Alternativ werden die Notizen zur Erzählung auch mit »L.’s G.« oder »L.’s Geschichte« gekennzeichnet.

Die Aufzeichnungen für Der Chinese des Schmerzes entstanden hauptsächlich in Salzburg, von 24. bis 30. April, sowie nach Handkes Rückkehr von einer Karstreise ab 8. Mai 1982. Die Italienreise Ende Juni ist in Bezug auf den Chinesen unbedeutend. Erst Handkes längerer Aufenthalt in Sardinien vom 10. Juli bis 8. August bildet den Hintergrund für die Reise des Protagonisten Loser im letzten Kapitel der Erzählung.

Die Bibel (das Buch Jesaja), Vergils Georgica sowie mehrere Romane Georges Simenons sind als hauptsächliche literarische Quellen für die Erzählung auszumachen. Im ersten Eintrag, am 24. April 1982, nennt Handke – in Anspielung auf seine begleitende Simenon-Lektüre (Der Mörder) – seinen künftigen Protagonisten »mein Mörder (Salzburg-Geschichte)«. Der zentrale Konflikt der Erzählhandlung stand damit bereits zu diesem frühen Zeitpunkt fest, obwohl die Notizen im Übrigen den Eindruck erwecken, dass sich Handke der Erzählung noch in vielen kleinen Einzelüberlegungen annäherte. Dies geht aus eher unverbindlich-fragend wirkenden Anmerkungen hervor, wie etwa am 28. April 1982: »[Aber wie nähere ich mich L.’s Geschichte? Ich erwarte täglich ein bißchen von ihr] (nur nicht recherchieren)«.

Vom 12. Mai 1982 an fallen vermehrt kommentierende Notizen zur Textkonzeption auf, etwa zum Protagonisten: »Wieder einmal wurde es Abend, und L.... (so ungefähr muß L.’s Geschichte gehen)«, »Grundton von L.’s G.: Bitterkeit, Trauer, Schärfe«, »L.’s Geschichte soll so lange dauern, wie vielleicht die Dreharbeiten zu einem Film dauern (Ende – April – Mitte Juni; dann hat er seine Geschichte)«, »L. hat immer ein Exemplar der Georgica bei sich, in das er sich was auch immer hineinschmiert«; zur Erzählzeit: »Jeder Zeitsprung gekennzeichnet durch einen Sprung in der Pflanzen- und Tierwelt (so fängt es an: die Kastanien, die Schwalben, die Krähen etc.), so lakonisch, monumental und leicht wie möglich« (alle S. 44). Am 15. Mai 1982 notiert Handke: »Alte Zeitformen müssen in L.’s Geschichte vorkommen, deutlich; auch die Vorvergangenheit, und die Vorzukunft!!«, »der Hauptstrang ist freilich die Mitvergangenheit« (beide S. 49); zur Erzählhaltung am 3. Juli 1982: »L.’s Geschichte muß zornig, bitter zornig, wild zornig enden, nach einer großen Begütigung freilich: "Aber ich muß zum Zorn zurückkommen" (andere Rede über Ö.); und wer hält die Rede? [...]« (S. 109). Diesen »Zorn« ergänzt er am 3. August 1982 wieder durch Beiläufigkeit: »Ein Autobus fuhr vorbei, in dem einige Kaugummiblasen platzten ; (so L.'s Geschichte erzählen)« (S. 144).

Die große Variation sich zum Teil widersprechender Überlegungen und Ideen zur sprachlichen Umsetzung der Erzählung fällt auf. Erst im folgenden Notizbuch im September 1982 kam es zu einer konkreten Verdichtung thematisch-inhaltlicher Festlegungen, bevor Handke im Oktober mit der Arbeit an der ersten Textfassung begann. (ck)

Siglenverzeichnis Editorische Zeichen

Tabellarische Daten

Titel, Datum und Ort

Eingetragene Werktitel (laut Vorlage): 

Die Wiederholung; (und immer noch: Die Geschichte des Bleistifts); und: Phantasien der Wiederholung (so heißt des Journal ab 1981); Losers Geschichte [Bl. I]

Zusätzlich eingetragene Werktitel:  [nicht erfasst]
Entstehungsdatum (laut Vorlage):  24. April 1982 [Bl. I] [bis] 18. August 1982 [Bl. 160]; April 82 – Aug 82 [Umschlag]; [nicht vollständig erfasst]
Datum normiert:  24.04.1982 bis 18.08.1982
Entstehungsorte (laut Vorlage): 

Salzburg; Sassari Santa Terésa; Porto Conte [Bl. I]

Zusätzlich eingetragene Entstehungsorte: 

Gnigl 26.4.1982]; Mbg.; [29.4.1982]; Fontaine Sainte-Marie [1.5.1982, rückblickend erwähnt]; Klagenfurt; Villach Velden;  Gr. [Griffen, 2.5.1982]; Görz [3.5.1982]; Solkan [4.5.1982]; Štanjel [4.5.1982]; Hruševica [4.5.1982]; Pliskovica [4.5.1982]; Sempeter [4.5.1982]; N. G. [Nova Gorica, 5.5.1982]; Die winzigen Gärten von Vipava [5.5.1982]; Vrhpolje [5.5.1982]; Vipava Rožna Dolina [6.5.1982]; Bahnhof Görz [6.5.1982]; nach Cormons [6.5.1982]; Tricesimo [6.5.1982]; von Tricesimo nach Gemona [7.5.1982]; Gestern in Udine [7.5.1982]; Chiusaforte [7.5.1982]; Dogna [7.5.1982]; Villach [7.5.1982]; im Café an der Alm = Albina [8.5.1982]; Mülln [18.5.1982]; Zürich [28.5.1982]; Offenburg [29.5.1982]; Anif [30.5.1982]; St. Peter a. Wallersberg [31.5.1982]; Sbg. [2.6.1982]; Innsbruck [22.6.1982]; Mantua [23.6.1982]; Brescia [24.6.1982]; Bergamo [24.6.1982]; Lecco [24.6.1982]; Colico am Comer See [24.6.1982]; Piadena [24.6.1982]; Sils [24.6.1982]; Nendeln/Liechtenstein [27.6.1982]; St. Anton a. Arlberg [27.6.1982]; Pietole [28.6.1982]; Rom (Flughafen) [10.7.1982]; am Swimmingpool, Corte Rosada, Porto Conte [10.7.1982]; Alghero [11.7.1982]; Capo Caccia [16.7.1982]; Sassari [20.7.1982]; Fertilia [20.7.1982]; Villanova [21.7.1982]; Lago di Baratz [27.7.1982]; Porto Torres [28.7.1982]; Fertilia Alghero [30.7.1982]; Olmedo [31.7.1982]; Bozen [1.8.1982]; St. Veit an der Glan, Naziland [1.8.1982]; Udine [2.8.1982]; Gor. [Goricia, 2.8.1982]; Triest [3.8.1982]; Kosov. [3.8.1982]; Pliskovica [3.8.1982]; Kobjeglava Kosovelje [3.8.1982]; Triest [4.8.1982]; Gemona [5.8.1982]; zurück im Heimatland (Wörthersee) [5.8.1982]; Velden [5.8.1982]; Viktring [6.8.1982]; Salzburger Hbhf [8.8.1982]

Materialart und Besitz

Besitz 1:  Deutsches Literaturarchiv Marbach
Art, Umfang, Anzahl: 

Notizbuch mit dunkelbraunem, lederartigem Einband, 160 Seiten, I-III, pag. 1-160, I*-III*; auf Buchrücken geklebter Papierstreifen mit eh. Datierung »April 82 – Aug 82«

Format:  10,3 x 14,6 cm
Schreibstoff:  Fineliner (blau, grün, rot, schwarz), Bleistift, Kugelschreiber (blau)
Weitere Beilagen: 

 

  • 1 Polaroid, Via Mario Borza Franco Taroni, Milano, 8.7.1982
  • getrocknete Pflanzen (am DLA aus konservatorischen Gründen separat abgelegt) lagen zwischen den Seiten S. 82/83, S. 84/85, S. 86/87, S. 88/89, S. 90/91, S. 92/93, S. 94/95, S. 96/97, S. 102/103, S. 110/111, S. 112/113, S. 114/115, S. 116/117, S. 120/121, S. 122/123, S. 124/125, S. 130/131, S. 132/133, S. 134/135, S. 136/137, S. 142/143, S. 144/145 und S. 156/157

Nachweisbare Lektüren

[Lektürenotizen oder -zitate in der Reihenfolge der frühesten Eintragung im Notizbuch. Wiederholte Lektürespuren sind nicht vollständig erfasst.]

  • Johann Wolfgang von Goethe: West-östlicher Divan (Buch des Parsen) »Schwerer Dienste tägliche Bewahrung sonst bedarf es keiner Offenbarung (G.)« (S. I; noch einmal zitiert Handke im Eintrag vom 5.5.1982, S. 28)
  • Vergil: Georgica »galbanum: Harz einer doldentragenden Pflanze in Syrien (zum Ausräuchern!): Und mit Galbanumqualm verscheuche die schädlichen Schlangen (G III, 415) (galbaneoque agitare gravis nidore chelydros« (S. I); »IV, 264: hic iam galbaneos suadebo incendere odores (Bienen, wenn krank)«) (S. I), (u.a. 16.5.1982, S. 57); »(leider habe ich gerade die Georgica zuende)« (8.6.1982, S. 83)
  • Heraklit: Fragment 93 »Der Herrscher, dem das Orakel in Delphi gehört, sagt nicht und verbirgt nicht, sondern gibt Winke.« (Zitat notiert in griechischer Schrift, S. II)
  • Georges Simenon: Der Mörder (u.a. 24.4.1982, S. 1); En cas de malheur (u.a. 24.4.1982, S. 1); Kommentar: »Vielleicht sollte ich Simenon nicht mehr lesen; denn er rührt mich zu Tränen und läßt mich und seine Leute allein« (17.7.1982, S. 121)
  • Simone Weil (ab 8.5.1982, S. 38/39)
  • Emmanuel Bove: Départ dans la nuit (u.a. 10.5.1982, S. 40)
  • Ernst Jünger: »trotzdem lese ich weiter« (10.6.1982 S. 85)
  • René Char (u.a. S. 88)
  • Christian Wagner (u.a. S. 88)
  • Epikur (u.a. S. 88)
  • Joseph Conrad (u.a. S. 96)
  • Hesiod (u.a. S. 111)
  • Walter Benjamin: Passagenwerk (u.a. S. 115)
  • Henri Michaux (u.a. S. 118)
  • Buch Jesaja, V. 60 »Zions Herrlichkeit« (u.a. 11.8.1982, S. 156); »Wunderbare Ortsangabe bei Jesaja: "Gehe hinaus … an das Ende der Wasserleitung des Oberen Teichs, am Wege beim Acker des Walkmüllers…" [/] Als die Seraphine "Heilig, heilig…" rufen, BEBEN DIE ÜBERSCHWELLEN (des Tempels) (Jes. 6. K.) [/] "glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht" (7,9)« (S. I*)
  • Hermann Broch (u.a. 12.8.1982, S. 157)

Film:

  • Die verkaufte Braut mit Karl Valentin (1.5.1982, S. 10)

Ergänzende Bemerkungen

Illustrationen: 
  • Zeichnung mit der Bildunterschrift »Die 3 Könige in der Nische – St. Griffen« (2./3.5.1982, S. 12-13)
  • Zeichnung der Darstellung eines Fisches mit einem Rückenkorb voller Steine vom Altartuch in Pliskovica mit der Notiz »Christophorus, er taucht aus dem {x} auf mit einem R{x}korb voll {xxx} auf dem Rücken [...]«, und weiter unten: »das schönste Bild des Christophorus« (4.5.1982, S. 23)
  • Skizze, vermutlich eines Verkaufsstandes, mit der Notiz »Eistüten« (S. 24)
  • Zeichnung einer Blüte (Glyzinie?) (S. 26)
  • durchschraffiertes Muster, jeweils über eine halbe Seite (evtl. ein Stück Rinde durchgepaust) (S. 31 u. 33)
  • Zeichnung eines Löwenzahn (S. 40 u. S. 42)
  • Zeichnung mit der Notiz »Keltenfelsschriften am Dürrnberg« (26.5.1982, S. 63)
  • großflächig (1 Seite) abgepauste Oberfläche mit der Notiz »Anif (Kirche)« (29.5.1982 oder 30.5.1982, S. 67)
  • venetische Schriftzeichen und Skizze einer keltischen (?) Maske (1.6.1982, S. 74)
  • durchgepaustes Muster mit der Notiz »Das Relief des Hasen in der Wand des Pfarrhofs« (St. Peter a. Wallersberg {xxx}) (1.6.1982, S. 75)
  • Zeichnung eines Blattes (24.6.1982, S. 101).
  • Palmzweige, über den Text gezeichnet (15.7.1982, S. 119).
  • durchgepauste Inschrift (23.7.1982, S. 130-131).
  • durchgepauste Zeichnung mit Beschriftung »Auge des Vogels am romanischen Grabstein und die Kralle« (S. 153)