Österreichische Nationalbibliothek Zwei europäische Metropolen im Lauf der Jahrhunderte
 
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    Festrede von
Pavel Kohout

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GEGENEINANDER, OHNE EINANDER, MITEINANDER

Festrede zur Eröffnung der Ausstellung "Prag:Wien - Zwei europäische Metropolen im Lauf der Jahrhunderte", am 15. Mai 2003 in der Österreichischen Nationalbibliothek

Ganz unvergesslich bleibt mir jene Nacht, die mich mit diesem Dom der - nicht nur! - österreichischen Literatur auf eine höchst merkwürdige Art und Weise verband. Vom Heurigen zurückgekehrt, wurden wir etwa zwei hundert Meter Luftlinie von hier, am Kohlmarkt, nach Mitternacht von lautem Wiehern geweckt. In einer Zeit, wo keine Fiaker den Stadtverkehr dominieren, klang es ganz ungewöhnlich und hat uns ans Fenster gezogen. Was wir sahen, war ein Albtraum jener, die allzu gern in das Glas schauen, um so schlimmer, als dass der ganze Graben nicht von weißen Mäusen, sondern von weißen Pferden nur so wimmelte. Erst der Blick von der Terrasse ließ uns die wahre Katastrophe erkennen: Hoch über den Dächern stand eine feurige Wand.

Mit den üblichen Nachtvögeln, den Kellnern, Trunkenbolden, schweren Burschen und leichten Mädchen, führten auch wir die verscheuchten Lippizaner zum Volksgarten, an einer lebenden Kette vorbei: die der Polizisten, welche die Goldreserve des europäischen Geistes in Sicherheit brachten - die Bücher aus der Nationalbibliothek. Es war atavistische Angst, die mich dabei packte.

Aus dem historischen Gedächtnis tauchte die Erinnerung auf, dass viele verheerende Einbrüche in der Geschichte der Menschheit durch ähnliche Brände eingeleitet wurden - vom antiken Alexandria bis zu Sarajevo. Zum Glück wurde dieses Ereignis nur durch eine technische Panne verursacht und von gut ausgerüsteten Hilfskräften einer demokratischen Gesellschaft minimiert. Trotzdem war es wieder einmal ein Grund, an die düstere Vision zu denken, die Roy Bradbury in seinem Roman "Fahrenheit 451" so suggestiv darstellte: Der mechanische Hund, der Bücher aufspürt, die Feuerwehr, die sie in Brand steckt, und die letzten Leser, die sich nachts heimlich in den Wäldern treffen, um ihre auswendig gelernten Lieblingswerke anderen zu erzählen - Bilder, die keineswegs in die Welt der Phantasie gehören, weil sie bereits oft und vielerorts von der Realität überholt wurden.

Und ich verstehe das! Die eigene Lebenserfahrung brachte mir bei, dass Vernichtung von Büchern aus der Sicht der Tyrannen absolut unabkömmlich ist. Es gleicht manchmal der Vernichtung der gegnerischen Waffenarsenale, wobei in Einzelfällen das ganze Arsenal von einem einzigen Buch verkörpert war - ein historisches Beispiel wird bald folgen.

Die heute beginnende Ausstellung, die in enger nachbarschaftlicher Zusammenarbeit Schätze des Schrifttums zweier Völker präsentiert, ergänzt durch wichtige Dokumente aus allen Bereichen der Kultur, erreicht uns in einer anderen Welt, als der, die wir kannten. Wie einst Amerika, könnte jetzt auch Europa "Die neue Welt" genannt werden. Genau vor einem Monat wurde es in seiner griechischen Wiege neu geboren, als sich bereits 25 Staaten verpflichteten, diesen ewig blutenden Kontinent für eine gemeinsame Heimat zu halten. So sollen jetzt auch jene Zwillinge vereint werden, die über Jahrhunderte Bruderzwist betrieben - die Österreicher und die Tschechen.

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Prag:Wien