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Emigration und Karriere

 

 

 


Ankunft in der Neuen Welt

 

Im September 1947 setzen Ruth Klüger und ihre Mutter auf der S.S. Ernie Pyle nach Amerika über und erreichen nach der zweiwöchigen Fahrt New York. Gleich nach ihrer Ankunft erleben Mutter und Tochter zuvor unbekannte Freiheiten. Auf die Frage Almas, wohin sie nun gehen sollten, werden sie und Ruth mit den Worten „Wherever you like, lady. It’s a free country.“1 empfangen. In ihrer neuen Heimat zeigt sich sogleich eine neue Möglichkeit – Ruth Klüger beginnt am Hunter College zu studieren. Demgegenüber jedoch steht eine prekäre Lebenssituation. In ihrer Autobiografie bekommt das verklärte Bild des Exils realistische Facetten: Ungeziefer bei ihrer Ankunft, harte Arbeit für wenig Geld und als Neuankömmlinge einen Platz auf der untersten Stufe in der Hierarchie der Einwanderer. Nicht zuletzt für ihr schlechtes Englisch verspotten sich die ExilantInnen gegenseitig. Die eigene Muttersprache aber ist belastend, „wie ein Buckel, den man loswerden wollte. Wir wollten uns assimilieren und Amerikaner werden.“2 Dieser Wunsch wird mit der Einbürgerung am 17. August 1953 erfüllt. Während ihrer ersten Jahre in den USA verfasst Ruth Klüger englische Gedichte. Das Gedicht „A post war sonnet“ zeugt von den fürchterlichen Erfahrungen der Kriegsjahre, aber auch vom Wissen um einen neuen Anfang. In diesem Spannungsverhältnis wandelt sich die Todesangst unter dem NS-Regime in „die Todesversuchung der Depression“.

weiter leben. Eine Jugend. dtv 1994, S. 223.
2 Vorlass Ruth Klüger 466/W520 – Interview mit Ruth Klüger.

 

 


Zwiegespräch mit einem Todesengel

 

„An sich bin ich wohl ein depressiver Mensch. […] Selbstmordgedanken hatte ich eigentlich mein ganzes erwachsenes Leben.“, konstatiert Ruth Klüger rückblickend in einem Interview, das 2012 in der » „TAZ“ veröffentlicht wird. Die notwendige Selbstständigkeit im Angesicht des Todes beschleunigt die Entwicklung, ihr erwachsenes Leben beginnt verfrüht. Während sie den unbedarften Optimismus der jungen Erwachsenen in Amerika als naiv und unglaubwürdig abtut, durchstreift die 17-Jährige in tiefen Nachtstunden die dunklen Straßen von New York und leidet an ihren seelischen Verletzungen. In einem intensiv bearbeiteten, in mehreren Fassungen vorliegenden Gedicht greift Ruth Klüger die depressiven Stimmungen ihrer ersten Monate in der neuen Heimat sowie die der vorherigen und nachfolgenden Lebensstationen auf und verwebt sie zu einem Kunstwerk der Lebensbejahung trotz aller Leiderfahrung. „Colloquy with the Angel of Death“ ist das Zwiegespräch einer starken Frau mit ihrem Todesengel, der geduldig an ihrer Seite weilt, bis sie endlich dazu bereit ist, Frieden zu schließen. Die Kraft zum Weiterleben zieht Ruth Klüger einmal mehr aus altbekannten Beschäftigungen: Das literarische Schreiben als Möglichkeit zur Bewältigung und innige Freundschaften mit Gleichgesinnten als Inspirations- und Glücksquellen. Diese Passagen des autobiografischen Werks erzählen von vier unterschiedlichen Freundinnen, die sich dazu entschließen, das Leben gemeinsam zu meistern.

 

 

 

 


Mit englischen Klassikern in die Welt der Literatur

 

Bevor Ruth Klüger Deutschland verlässt, legt sie in Straubing ein Notabitur ab und studiert im Sommersemester 1947 an der Hochschule Regensburg. Im Amerika der späten 1940er Jahre sind die beruflichen Möglichkeiten für Frauen stark limitiert. Das Reifezeugnis und die Studienausweise aus Deutschland ermöglichen einen Studienplatz am New Yorker Hunter College. Seit jeher begeistert für Poesie, belegt Ruth Klüger im Hauptfach englische Literatur. Für welche Epochen und AutorInnen sie sich damals besonders interessiert, wird sie in einem Interview viele Jahre später gefragt – „Für alles, absolut alles […], von ‚Beowulf‘ bis Virginia Wolf."Schon als Studentin wird ihre literarische Tätigkeit wahrgenommen und ihr dafür unter anderem der „Blanche Lewy Joseph Memorial Prize“ zugesprochen. Nach ihrem Umzug in den Westen der USA, ein Schritt, der für sie auch Abstand zu ihrer Mutter bedeutet, setzt sie ihr Studium an der University of California in Berkeley fort. Da ihr Abschluss in Englisch nur „zum Abtippen von Rechnungen für Brillenfassungen reicht"4, studiert sie wenige Jahre später Bibliothekswissenschaften. Die Arbeit als Bibliothekarin macht ihr Spaß, sie fährt mit einem Bus, dem Bookmobile, durch Vororte und versorgt die unterschiedlichsten LeserInnengruppen mit individuellen Buchempfehlungen.

Vorlass Ruth Klüger 466/W517 – Interview von Beatrix Müller-Kampel mit Ruth Klüger.
unterwegs verloren. Erinnerungen. dtv 2010, S. 76.

 

 


Eine unglückliche Ehe

 

Während ihrer Studienjahre lernt Ruth Klüger den Historiker Tom Angress kennen. Der gebürtige Berliner, der seit 1939 in Amerika lebt und im Zweiten Weltkrieg auf Seiten der Alliierten kämpfte, macht einen starken Eindruck auf die junge Frau. Nach wenigen Monaten des Zusammenlebens heiratet das Paar im März 1953. Das Gedicht „Before a mirror on my wedding morning“, in dem Klüger fragt „Is there an error?“, zeugt schon an ihrem Hochzeitstag von Zweifeln. Ist es Liebe oder doch nur Schein? In der Ehe werden die Rollen traditionell aufgeteilt. Während sich Tom auf seine berufliche Karriere konzentriert, kümmert sich Ruth Klüger um die 1954 und 1957 geborenen Söhne Percy und Dan Angress und trägt als „Bookmobile Lady“ zum Einkommen der Familie bei. Emotional entfernt sich das Ehepaar immer mehr voneinander. Die letzten Jahre überdauert die Ehe nur aufgrund Toms Bitte, die Scheidung erst nach Veröffentlichung seines Buches einzureichen. Klüger resümiert später: „Diese Beziehung war der größte Fehler, den ich je gemacht habe. Ich fühlte mich wie im Gefrierfach eines Kühlschranks. Ich war von Anfang an nicht für die Ehe gemacht. Ich tauge nicht zur Hausfrau. Ich wollte meinen eigenen Beruf haben.“5

Vorlass Ruth Klüger 466/W520 – Interview mit Ruth Klüger.

 

 

 

 


Of Kids and Cats

 

„Kinder sind ein Ersatz für Katzen. Wenn sie erwachsen sind, kehrt man zu seiner ersten Liebe zurück.“Ruth Klügers leidenschaftliche Liebe zu Katzen nimmt bisweilen – und das gesteht sie sich selbst wohl ein – neurotische Züge an. Lolita, Golda Miau und allen anderen Vierbeinern, die sie zumeist ohne Erlaubnis in ihren Wohnungen hält, widmet sie hingebungsvolle Passagen in ihren Memoiren. Sie verbindet sie untrennbar mit dem Abnabelungsprozess ihrer beiden Söhne. Klügers energische Unabhängigkeit als Frau, als alleinerziehende und berufstätige Mutter unterstützt die frühe Selbstständigkeit von Percy und Dan Angress. Trotzdem sie die Lebensentscheidungen ihrer heranwachsenden Söhne befürwortet und sich später über die stabilen Ehen und die Enkelkinder freut, fühlt sich Ruth Klüger ausgegrenzt und einsam. Ihr distanziertes Verhältnis zu den Kindern, ihre enttäuschten Erwartungen als Mutter und ihr schlechtes Gewissen, der Fürsorge nicht gerecht geworden zu sein, projiziert sie auf die Verhaltensmuster der Haustiere. In Katzen, mit ihrem robusten Lebenswillen und ihrer Ungebundenheit, erkennt sie sich wieder. Deren Natur und die anthropomorphen Projektionen reflektiert sie 1958 in dem Gedicht „Cats“, das in einem gleichnamigen Magazin abgedruckt und später in eine Anthologie für KatzenliebhaberInnen aufgenommen wird. Mit Selbstironie und wahrhaftiger Begeisterung für die Tiere stilisiert sie sich als eigenbrötlerische „Catlady“.

6 unterwegs verloren. Erinnerungen. dtv 2010, S. 26.

 


Die Erforschung der Barocklyrik

 

Nachdem die seit Kindheitstagen bestehende Lust auf Literatur durch das Anglistikstudium gestillt und der Broterwerb durch das bibliothekswissenschaftliche Studium gesichert ist, stellt sich Ruth Klüger jener Angst, aus der sich schwere „Albtraumgedichte“7 formen: der Angst vor ihrer Muttersprache, deren Klang Unbehagen auslöst. Auf Anraten eines befreundeten Professors schreibt sie sich an der University of Berkeley am Institut für Germanistik ein und stellt damit die Weichen für ihre erfolgreiche akademische Karriere. Der objektiv-wissenschaftliche Zugang zur emotional aufgeladenen Sprache ist aber nicht weniger intensiv. Die Germanistik bezeichnet sie als ihre Droge. Denn genauso wie sie Furcht auslöst, eröffnet sie auch die Möglichkeit, mit dem Vergangenen ins Reine zu kommen. Nach der schnellen Beendigung des Masterstudiums taucht sie in ihre Dissertation ein. Wie im Rausch schreibt sie eine Grundlagenstudie über das Epigramm in der deutschen Barocklyrik. Bewusst vertieft sie sich in eine Epoche, die den historischen Abstand zur neueren deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts wahrt. Bereits vor dem Einreichungstermin legt sie ihre Dissertation den FachkollegInnen vor. Die Bemängelung einiger Ungenauigkeiten im Umgang mit der Forschungsliteratur tut dem Erfolg keinen Abbruch. Die Studie wird vielbeachtet und positiv besprochen. Über den Umweg der Germanistik findet Ruth Klüger schließlich zurück in die deutsche und österreichische Literatur und damit auch zurück in ihre Muttersprache.

unterwegs verloren. Erinnerungen. dtv 2010, S. 112.

Ruth Klüger über Wien als ihre sprachliche Heimat.

Quelle: » Literaturepochen.at

 


Passionierte Arbeit mit Studierenden

 

In ihrem zweiten autobiografischen Buch „unterwegs verloren. Erinnerungen“, zeichnet Ruth Klüger vorwiegend ihren akademischen Werdegang und die damit einhergehenden Umzüge quer durch das Land nach. An bezeichnender Stelle schreibt sie über ihren „wunderbaren Beruf“ und die „unvergleichlichen Höhepunkte“8 ihres alltäglichen Lebens. Mehr noch als die zurückgezogenen Schreibstunden, genießt sie die Lehrtätigkeit an den Universitäten und die gemeinsam in der Gruppe erarbeiteten Erkenntnismomente. Mannigfaltige Materialsammlungen belegen Ruth Klügers engagierte Arbeit mit Studierenden und NachwuchswissenschafterInnen. In fundiert recherchierten und akribisch vorbereiteten Seminaren zu praktisch allen Epochen der deutschsprachigen Literaturgeschichte lehrt sie das gefürchtete Mittelhochdeutsche, rezitiert barocke Vanitas-Gedichte oder diskutiert erbittert die „guten“ wie „bösen“ Aspekte in der antiken wie zeitgenössischen Literatur. Die allgemeine Beliebtheit der Dozentin spiegelt sich in den jährlichen Evaluationen wider: So wie ihre Wärme im Umgang mit Menschen beeindruckt, fasziniert ihre unbestechliche Härte als Wissenschafterin. Ruth Klügers Vorbildwirkung beschränkt sich damit nicht nur auf die Kompetenz in ihrem Fachgebiet, sondern manifestiert sich in ihrer Hartnäckigkeit als Frau in der männerdominierten Auslandsgermanistik. Als erste Frau wird sie als „Chairwoman“ nach Princeton berufen, als erste Frau übernimmt sie die Herausgeberschaft der traditions- und einflussreichen Fachzeitschrift „German Quarterly“.

unterwegs verloren. Erinnerungen. dtv 2010, S. 143.

 


Preisgekrönte Essays und Rezensionen

 

Ruth Klügers außergewöhnliches Gespür für Literatur zeigt sich besonders in den literaturwissenschaftlichen Essays und Rezensionen. Mit dem Ziel, ein möglichst großes Publikum anzusprechen und die persönliche Begeisterung für literarische Stoffe weiterzugeben, verfasst sie ihre wissenschaftlichen Analysen mit Spannung und Witz. In scharfen Schlussfolgerungen und Spitzen zersetzt sie den männerzentrierten Kanon der Weltliteratur und legt unauffällige, aber implizit wirkende Stereotype und Klischees frei. Durch die gründliche Suche nach handlungsunfähigen weiblichen Randfiguren oder jüdischen Bösewichten enthüllt sie die gesellschaftlichen Zustände, in denen die literarischen Werke entstehen. Klügers Essays fungieren somit als Spiegel, die sie der Gesellschaft und ihren LeserInnen vorhält. Ihre Rezensionen für diverse Zeitungen und Zeitschriften decken ein breites Spektrum von Werken ab: von Jugend- und Kultbüchern wie „Harry Potter“ über Krimis von John Le Carré bis hin zu Gedichten der Nobelpreisträgerin Herta Müller. Besondere Aufmerksamkeit legt sie auf weibliche Lebensrealitäten und Werke von Frauen, die sie in ihrer Reihe „Ruth Klüger hat Bücher von Frauen gelesen“ in der Zeitung » „Die Welt“ oder in ihren Besprechungen zur Lyrik für die „Frankfurter Anthologie“ veröffentlicht. Ruth Klüger nimmt in ihren Ausführungen die LeserInnen gerne an der Hand und navigiert sie durch die Gattung der Lyrik, die oftmals Unsicherheit hervorruft. Für ihre Arbeit als Rezensentin wird sie unter anderem mit dem Österreichischen Staatspreis für Literaturkritik und dem Preis der Frankfurter Anthologie gewürdigt.

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