Werk und Wirkung
Marcel Reich-Ranickis begeisterte Besprechung im Literarischen Quartett 23 am 14. Jänner 1993. Sie gilt als Ruth Klüges Durchbruch als Schriftstellerin.
„weiter leben“ – Erfolg einer außergewöhnlichen Autobiografie
Nach einem schweren Verkehrsunfall schwebt Ruth Klüger tagelang zwischen Leben und Tod. Die Kindheitserinnerungen kehren wieder – so lebendig wie noch nie zuvor. Klüger entschließt sich, ihre Erinnerungen niederzuschreiben. Trotz des begeisterten Zuspruchs von einflussreichen deutschen SchriftstellerInnen lehnt der renommierte Suhrkamp-Verlag das Romanmanuskript ab. Durch das Buch nimmt die Geschichte des kleinen Göttinger Wallstein-Verlags hingegen eine überraschende Wendung: „weiter leben. Eine Jugend“ avanciert 1992 zum Bestseller, KritikerInnen und LeserInnen sind begeistert. Ruth Klüger entwickelt einen literarischen Schreibstil, der die Perspektive des heranwachsenden Kindes mit den scharfsinnigen Analysen der erwachsenen Überlebenden verknüpft. Mit klug platzierten Fragen und der Darlegung von unerwarteten Sichtweisen werden LeserInnen zum Mitdenken angeregt. In ihren Beschreibungen ist die Autorin aufrichtig und schonungslos und verweigert die Annahme einer bloßen Opferrolle. Zuletzt steht eine vielfach ausgezeichnete, in vielen Auflagen erscheinende, in viele Sprachen übersetzte Autobiografie.
Im regen Austausch mit ihren LeserInnen
Mit der Veröffentlichung von „weiter leben. Eine Jugend“ wird Ruth Klüger zunächst im deutschsprachigen Raum, später auch in anderen Ländern berühmt. Von den unbeschönigten Berichten aus ihrer Kindheit tief bewegt, nehmen viele LeserInnen Kontakt mit der Autorin auf. Die „Fanpost“ gibt Einblicke in das Leseverhalten von unterschiedlichsten Menschen aller Altersgruppen und zeigt die Spannweite an Reaktionen, die das Buch im individuellen Befinden auslöst. Die zumeist überschwänglichen Rückmeldungen bekunden Dankbarkeit für das Lektüreerlebnis und sie betonen die Bedeutung der Autobiografie für ein besseres Verständnis von Verfolgung und Holocaust. Obgleich in vielen Briefen Unsicherheit und die Sorge mitschwingt, nicht die angemessenen Worte zu finden, vermitteln die AbsenderInnen das Bedürfnis, ihre Gedanken auszudrücken. Nicht selten vertrauen sie sich Ruth Klüger in intimen Details an und berichten von persönlichen Erlebnissen während der Zeit des Nationalsozialismus. Besondere Wirkung erzielt ihr feministisches Engagement, durch das sie als Vorbild für vor allem junge Frauen fungiert. Der Austausch mit ihren LeserInnen ist ihr eine Herzensangelegenheit, der sie – zum großen Erstaunen ihrer Fans – mit sehr ausführlichen Antwortschreiben nachgeht.
„unterwegs verloren“ – Zeugnisse eines unermüdlichen Kampfes
2008 erscheint im Wiener Zsolnay Verlag Ruth Klügers Fortsetzung ihrer Autobiografie. Anknüpfend an „weiter leben. Eine Jugend“ schildert sie in „unterwegs verloren. Erinnerungen“ ihr Leben nach der Auswanderung in die USA, ihre akademische Laufbahn samt allen Widrigkeiten, ihre gescheiterte Ehe und das distanzierte Verhältnis zu ihren Söhnen und Enkelkindern. Das Buch ist eine Befreiung von der traumatisierenden Familiengeschichte. Nach dem Tod der Mutter schließt sie auch mit ihren Gespenstern der Vergangenheit – dem Vater und dem Bruder – ab. Äußeres Zeichen ist die Entscheidung, sich die eintätowierte KZ-Nummer entfernen zu lassen. Als Jüdin und Frau erkämpft sie sich ihren Platz in der Gesellschaft, im Wissenschafts- und Literaturbetrieb und geht rigoros gegen jegliche Art von Diskriminierung vor. In der Zeitung „Die Welt“ wird die Autobiografie als eine „erbarmungslose Bestandsaufnahme – wie immer bei Ruth Klüger voller Trotz, Mut und Verstand“1 beschrieben. Trotz der Ressentiments, trotz der Verletzungen, die sie benennt, zeigen ihre Berichte eines: » „dass es besser geworden ist“.
1 Vorlass Ruth Klüger 466/S43
Jüdische Identität und Religionskritik
Ruth Klüger spricht an der Klagemauer in Jerusalem über die Stellung der Frau im Judentum (Quelle: Renata Schmidtkunz: Das Weiterleben der Ruth Klüger 2011).
„Ich muss gestehen, dass ich tatsächlich eine sehr schlechte Jüdin bin.“2 Anhand von provozierenden Aussagen wie dieser reflektiert Ruth Klüger ihre paradoxe Haltung zum Judentum. Aufgewachsen in einem emanzipierten, nicht aber assimilierten jüdischen Haus, verstärkt sich das Bewusstsein jüdischer Identität durch die antisemitische Ausgrenzung in Wien. Sie interessiert sich für die jüdische Geschichte und Kultur und ändert 1938, nach dem Anschluss an Hitler-Deutschland, ihren Rufnamen von Susanne in ihren Zweitnamen Ruth – den in ihren Augen eindeutig jüdischeren Namen. Die Erfahrung des Zusammenhalts im KZ Theresienstadt bewirkt, dass sie sich zeitlebens der zionistischen Bewegung verbunden fühlt. Nach der Flucht aus dem KZ Christianstadt und auch später in den USA spielt sie mehrfach mit dem Gedanken, nach Israel zu emigrieren. Letztendlich bleibt Ruth Klüger aber die „schlechte Jüdin“, die sich nicht vom patriarchalen System einfangen und in eine stumme und unsichtbare Rolle pressen lässt. Auch als sie sich kurzzeitig dem javanisch islamisch-mystischen Subud anschließt, scheitert sie an der unkritischen und frauenverachtenden Denkweise des Kults. Ohne ihre jüdische Identität abzulegen, bricht Ruth Klüger schließlich mit allen Religionen und richtet ihr Engagement auf kultur-, geschlechts- und sozialpolitische Missstände.
2 weiter leben. Eine Jugend. dtv 1994, S. 44.
Ruth Klüger spricht über ihre Haltung zum Judentum
Quelle: » Literaturepochen.at
Verfeindete FreundInnen: Ruth Klüger und Martin Walser
„Die Freundschaft, deren Ende mir am schwersten im Magen liegt, ist die mit Martin Walser.“3 Mit diesen Worten schließt Ruth Klüger – zumindest für sich – einen der aufsehenerregendsten Skandale in der zeitgenössischen Literaturdebatte ab. Nach der Veröffentlichung des Romans „Tod eines Kritikers“ im Jahr 2002 wird Martin Walser von führenden deutschsprachigen Feuilletons beschuldigt, auf antisemitische Klischees zurückzugreifen, um Marcel Reich-Ranicki persönlich zu diffamieren. Als eine der vehementesten KritikerInnen tritt Ruth Klüger auf. Sie veröffentlicht in der „Frankfurter Rundschau“ einen offenen Brief an den umstrittenen Autor und leitet damit den Bruch ihrer jahrzehntelangen intensiven, aber dennoch ambivalenten Freundschaft ein. Ruth Klüger und Martin Walser, die bereits 15- und 19-jährig an der Universität Regensburg über Stefan George, Franz Kafka und die Zukunft Europas diskutierten, ihr ganzes Leben im produktiven Austausch stehen und sich nach gesundheitlichen Rückschlägen im Krankenhaus besuchen, stehen sinnbildlich für die zerrüttete Gesellschaft nach dem Holocaust: Die jüdische Überlebende, der in seinem Land verwurzelte Deutsche und ein Gespräch, das trotz aller freundschaftlicher Zuneigung und fachlicher Bewunderung scheitert. Denn letztendlich, so schließt Ruth Klüger: „Erinnerung verbindet uns, Erinnerung trennt uns.“4
3 unterwegs verloren. Erinnerungen. dtv 2010, S. 168.
4 weiter leben. Eine Jugend. dtv 1994, S. 220.
Ruth Klüger über Martin Walser als der „problematische Deutsche“
Quelle: » Literaturepochen.at
"Fuck the Patriarchy"
Ruth Klügers Überzeugung, dass der Nationalsozialismus und der Holocaust extreme, aber schlüssige Resultate des Patriarchats sind und das Männlichkeitsideal zu allen Zeiten ein toxisches ist, lösen kontroverse Diskussionen und heftige Reaktionen aus. Trotz des Widerstandes und vieler aggressiver Anfeindungen von Männern ordnet sie ihr Leben und Schaffen dem Ziel unter, das vorherrschende System zu zerschlagen, künftige humane Katastrophen abzuwehren und für sich und andere Frauen solidarisch einzustehen. Ihre Biografie liest sich wie ein Rundumschlag gegen das traditionelle weibliche Rollenbild. Mit drastischen Metaphern prangert sie das Schwangerschafts- und Geburtensystem in den USA an, macht auf die Ausbeutung in der Ehe und im Haushalt aufmerksam, sensibilisiert für den Gender Pay Gap und die mangelnde Karrieremöglichkeit für berufstätige Frauen. Während sie selbst die universitäre Karriereleiter erklimmt, lehrt sie ihren Söhnen als geschiedene und alleinerziehende Mutter feministische Werte. Ihre preisgekrönten literarischen und essayistischen Texte bürsten die gängigen Meinungen gegen den Strich und legen Vorurteile offen. Ruth Klügers feministisches Engagement erstreckt sich von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis zu ihrem Tod im Jahr 2020, von den ersten Wellen der Frauenemanzipation bis zu #metoo, von Protestrufen auf Demonstrationen bis zu schriftlichen Statements und Beschwerdebriefen.
Ruth Klüger stellt sich in ihrer Rede zum Staatspreis für Literaturkritik die Frage, weshalb ihre Literatur preiswürdig ist, Wien 1998.
Rassismus: Der Fall Frank L. Hereford
Persönlich betroffen von Antisemitismus und Misogynie und bedacht auf umfassend gerechte Lebensbedingungen, beschränkt sich Ruth Klüger in ihrem Engagement nicht nur auf selbst erlebte Benachteiligungen. „Jede Diskriminierung schnitt mir ins eigene Fleisch“5, schreibt sie in Bezug auf das Ende ihrer Zeit an der University of Virginia im Jahr 1976. Eine Begebenheit stellt sich dabei als „tip of the iceberg“ heraus: Der Präsident der Universität, Frank L. Hereford, ist Mitglied im Farmington Country Club, dessen Mitgliedschaft Menschen mit weißer Hautfarbe vorbehalten ist. Für Ruth Klüger und andere KollegInnen ist dies unvereinbar mit seiner Position und sie fordern ihn auf, seine Mitgliedschaft niederzulegen. Die Reaktionen auf Klügers anklagende Stellungnahme vor dem Universitätssenat sind gemischt und reichen von anonymen beleidigenden Zuschriften bis hin zu begeisterter Zustimmung. Der Präsident jedoch erachtet es als nicht notwendig, aus dem exklusiven Club auszutreten. Ruth Klüger zieht die Konsequenz und tritt von ihrer Funktion als „Chairwoman“ an der Universität zurück und reicht ihre Kündigung ein. Dabei ist dieser Vorfall nur einer im Gesamtkontext eines rassistischen Alltagsklimas: „the rotten core of it all is Southern racism“. Ruth Klüger scheut nicht davor zurück, Ungerechtigkeit aufzuzeigen, für ihre Werte einzustehen, auch wenn sie selbst dafür einen sicheren Job aufgeben muss.
5 unterwegs verloren. Erinnerungen. dtv 2010. S. 23.
Pazifismus: Vietnam
Filmausschnitt: Percy Angress über den politischen Einfluss seiner Mutter auf ihn (Quelle: Renata Schmidtkunz: Das Weiterleben der Ruth Klüger 2011).
„Don’t trust anyone over thirty”, ruft Jack Weinberg im November 1964 aus und begründet das „Free Speech Movement“, die Studierendenrevolte am Campus der University of Berkeley. Die gerade 31 Jahre alt gewordene und darum „leicht beleidigte“6 Seminarleiterin Ruth Klüger entlässt ihre Studierenden in die Demonstrationen und Kundgebungen der „Neuen Linken“, nur um kurz darauf mit ihren beiden kleinen Söhnen ebenfalls dazuzustoßen. Im politischen Tumult der 1960er Jahre vermischen sich die politischen Anliegen: Man kämpft für die Meinungsfreiheit und die sexuelle Befreiung, für die Emanzipations- und Bürgerrechtsbewegung. Mit den zunehmenden Einberufungen in den Krieg und dem fortwährenden Sterben in Vietnam erstarkt der pazifistische Aktivismus und die Antikriegstransparente werden auf den Straßen der amerikanischen Großstädte gehisst. Als bekennende Pazifistin unterstützt Ruth Klüger die „Inflation an guten Noten"7, um den jungen Männern aufgrund ihrer universitären Leistung die Kriegsteilnahme in Südostasien zu ersparen. Zeit ihres Lebens setzt sie sich für Friedensbestrebungen und gewaltfreie Konfliktlösungen ein und tritt mit AktivistInnen aller Nationen und Religionen ins Gespräch. Durch ihre eigene Lebensgeschichte sieht sie sich in der sozialen Verantwortung, auf Gewalt, Leid und Ungerechtigkeit hinzuweisen und als Stimme der Erinnerung auf das politische Geschehen einzuwirken.
6 unterwegs verloren. Erinnerungen. dtv 2010, S. 105.
7 Ebd., S. 127.