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Tagebuch

1952

AOk

260

Tagebuch

von Sa 28.6.1952

bis ... So 3.8.1952

Samstag, 28.6.52:

Bürofrei.

Vormittag Wäsche geholt von der Linzerstraße und dann Ordnungen gemacht.

Leicht bewegter Vormittag.

Nachmittags gründlich ausgeruht, mit leichtem Schwindelgefühl. Ich bin möglicherweise überarbeitet.


Sonntag, 29.6.52:

Fast unbewölkter Vormittag. Auf der Wiese gelegen, mit Kein und Gedichten von Benn, und verschiedenem anderen. Erzählte Kein auch von Brigitte Kahr.

Bin etwas müde. "Komisches Land."

Habe die Abtreibungsgeschichte, die preisgekrönte, von Aichinger im Bändchen der Weigel-Serie vorgefunden.

Nicht besonders angeregt.

Gegen Nachmittag wurde es wolkiger und kühler.

Reinschriften, Auslese in alten Gedichten gehalten.

Lebhaft am Abend. Wünsche die nun wieder nirgends hinführen.

Nachts träumte ich von Hilde Schinko. Ich erwartete sie im obersten Stockwerk eines Hauses.


Montag, 30.6.52:

Ich kam im Büro darauf, daß heute der letzte Junitag ist.

Huber erschien wieder im Büro, nach zwei Wochen Urlaub, verregnetem Camping.

Schwüler Tag, aber es freut einen, daß es nun wenigstens sommerlich ist.

Cysarz 20.-, 1. Wm.


Dienstag, 1. Juli 52:

Heißer Tag.

Nach dem Büro angenehmer Abend.


Mittwoch, 2. Juli:

"Hundstag-" Hitze. Abends wieder sehr schön.


Donnerstag, 3. Juli:

Wahnsinnig heiß. Viel Arbeit. Müde. Behördliche Schwierigkeiten im Büro. Idee: Medea.


Freitag, 4. Juli:

Nach anstrengendem Tag abends zu Weltsch in den Garten. Er erzählte uns von seiner Barettmacher-Karriere am Theater.

Sehr ermüdet heim.


Samstag, 5. Juli:

Bei anhaltender Hitze, nachmittags noch steigender, den Tag verbracht.

Schrieb nachmittags (+41°), in einem Lavoir plantschend, an der "Medea" weiter.


Sonntag, 6. Juli:

Mit Kein an den Wienfluß gesetzt. Dort Gedichte von Ringelnatz kennengelernt. Er ist menschlich bezogener als verschiedene Wortspieler, sogar unmittelbarer hierin als Morgenstern.

(Einstweilen letzte Zusammenkunft mit Kein. Er fährt auf Urlaub.)

Nachmittag kam niemand. Sengende Hitze.

Ich schrieb nahe dem Fenster an der "Medea" weiter.


Montag, 7.7.52:

Hitze.

Nach dem Büro zu Artmann: Er war schon in die Schweiz gefahren, mit Esther. Seine Mutter erzählte mir viel von ihm.

Fensterscheiben.

Verschiedene Korrespondenz und Anrufe; vom Jandl für Donnerstag eingeladen worden.


Dienstag, 8. Juli:

Früh hatte ich noch Zeit für eigene Arbeiten. Diese Woche wird bewegter.

Abends zu Matejka. Über "moderne Kunst" gesprochen. Er lieh mir die "polit. Gedichte" von Paul Eluard.

Danach zu den jungen Polakovics', in deren neue Wohnung.

Brunnengasse, ein Neubau, 5. Stock. Sehr angenehmer Eindruck. Einige Möbelstücke aus naturfarbenem Holz, Küche modern, Radio. Vor einem Jahr, wie er sagt, war noch gar nichts da, auch noch nicht die Frau.

Viel gesprochen. Vor allem: über Volkstümlichkeit und Kitsch.


Mittwoch, 9. Juli:

Die polit. Gedichte von Eluard haben in mir einen Eindruck hinterlassen.

Wieder ein sehr heißer Tag.

1600.- (1 1/2 Gehälter) ausbezahlt bekommen Entschädigung für die Überbeanspruchung der Angestellten.

(Von Dr. Machwitz, einer maßlosen Person, erkämpft.)

Angenehmer Abend.


Donnerstag, 10. Juli:

Einer der anstrengendsten Tage im Büro.

Danach (und immer wieder Hitze) in den Art Club, wo ich Jandl treffen wollte. Art Club geschlossen.

Die Bar-Damen aus dem gleichen Haus ließen mich trotzdem dort warten. Jandl kam, weniger extrem als ich angenommen hatte, weniger extrem als zum Beispiel Raimund Ferra.

Volksgarten, neue Gedichte (gute), Innere Stadt (ödeste Gegend der Welt, Stephansplatz), Stadtpark: beim Fluß gesessen.

Jandl fährt schon im August auf ein Jahr nach England. Sonntag, 10. August, kommt er noch einmal zu mir heraus.

Kurioser Brief abends aus Kanada.


Freitag, 11. Juli:

Viel Arbeit.

Nach dem Büro zu Artmanns. Trug Schuhe zur Reparatur dorthin.


Samstag, 12. Juli:

Nachmittags für mich gearbeitet. Dann besoffener Abend mit Tante und Frau Fini Pobisch (zufällig gekommen). Produktion wieder gelähmt.


Sonntag, 13. Juli:

Wieder etwas trüb. Leichte Anzeichen von Katzenjammer. Ordnungen, nachmittag abgequält mit Medea.


Montag, 14. Juli:

Früh noch genug Zeit. Ich müßte freier sein, um mehr arbeiten zu können, oder literarisch unter Druck stehen. So brav ich schreiben will, werde ich doch leicht träge, da sich konkret niemand drum schert, wenn ich nichts hervorbring. Die abstrakte "Menschheit" ist nicht immer gegenwärtig.

Viel zu tun.

Dr. L. fährt auf Urlaub. Abends Schuhe von Artmanns abgeholt.

Mir wurden häßliche Gedichte eingeschickt.


Dienstag, 15. Juli:

Nicht genug kann ich loben die neue Bürokraft, Frau Anni M., die Ruhe und Freundlichkeit verbreitet.

Tante fehlte im Büro: Sie hatte einen argen Nierenanfall erlitten. Mittags besuchte ich sie: Sie leidet sehr.

Abends regnete es. Tagsüber Korrespondenzen erledigt.

(U.a.: Kneis.)


Mittwoch, 16. Juli:

Regen.

Tante geht es schon besser.

Abends: steriler Brief von der Diem.


Donnerstag, 17. Juli:

Abends nach aufreibendem Büro Bažata-Besuch. (Nach sehr langer Zeit.)

Schöne Landschaft, wenn auch spätsommerlich. Wientalstraße mit ihrer Lichter-Allee, von weitem.


Freitag, 18. Juli:

Mehr und mehr Arbeit. Bauer von heute an auf Urlaub.

Szenen mit Huber.


19/20 7 52 Sa, So:

Versuche mit Prosa. Sogar die Wochenend-Ruhe entfällt.

Nichts gelingt.

Ich weiß nicht, ist die Prosa für mich wichtiger oder das Gedicht. Auf jeden Fall habe ich zu wenig Zeit, und die verbleibende Freizeit ist meistens wertlose Zeit.

Kein kam Sonntag vormittags. Ich konnte ihn nur geschwätzig langweilen.


Medea ist bis daher gut.


So 20 7 52 nm.:

Ich schrieb an Medea weiter: erhielt auf diese Weise acht Zeilen dazu.

Abends überkam mich die Erkenntnis, daß ich, solang die heutigen Bedingungen anhalten, allein bleiben werde.


Mo 21 7 52:

Aufheiterung im Wetter.


Di 22 7 52:

Begann, mich an französischen Geschäftsbriefen in dieser Sprache etwas zu üben.

Abends Vokabel gelernt.


Mi 23 7 52:

früh Sommeranzug gekauft. Strahlend heißer Tag. Am Wasser ist es sehr schön.

Büro wie immer.

Abends Vokabel gelernt.


Do 24 7 52:

Donnerstag, 24. Juli, fuhr ich um dreiviertel sechs Uhr abends auf der Strassenbahn vom Büro nach Hause.

Wie gewöhnlich, sah ich bei jedem Zeitungstand der einzelnen Stationen nach den Zeitungstiteln, da ich die Nummer 10 der "Stimme der Mitte" suchte, jener Zeitung, die auf Hans Weigel schimpft.

Ein Mädchen fuhr in meinem Waggon, die sehr schlecht aussah. In ihrer Nähe aber sass eine jüngere Frau, die in den "Salzburger Nachrichten" las und die ein Gesicht mit ausgeglichenen Zügen hatte. Ich dachte mir, es ist schön, wenn eine Frau in diesen Jahren so aussieht. Ich verfolgte weiter die Hypothese, ich sei ein Mann vom Film, der improvisierter Weise alles dreht, was ihn beeindruckt, und ich würde die Frau zu diesem Zweck ansprechen. Das würde sie möglicherweise übel nehmen. Nicht alle wollen gefilmt werden. Ich dachte: Ich kann sie ja äusserlich ein bisschen verändern, mit ein bisschen Maske und verändertem Mund und anderer Haartracht. Den vorangegangenen Gedanken hatte ich abgelehnt. Er hatte so gelautet: Ich kann sie schliesslich photographieren und nachträglich jemand anderen, der ihr ähnlich sieht, zu meinem Film heranziehen; jemand, der eher bereit ist zu drehen, als sie. Diesen Gedanken aber lehnte ich aus dem Grunde ab, wonach nicht die Aeusserlichkeit das Wichtigste an diesem Gefallen ist, sondern die Substanz, die sich im Aeusseren ausdrückt. Die würde im ersten Moment vielleicht, für mich, noch dasein, weil ich an die "Richtige" denken würde, dann aber zerflattern: der Ersatz würde den originalen Eindruck nicht länger bewahren können als meine Erinnerung das könnte. /Nachträgliche Variation: Meine Erinnerung wird ihn unter Umständen bewahren können, jetzt wenigstens, wo ich ihn ziemlich deutlich niedergeschrieben habe./

Sie würde sich also das Photographieren nicht gefallen lassen. Einige Verwandte würden sie, auch wenn sie von mir verändert werden würde, erkennen. Aber ich stelle mir vor, dass ich, gewandt, /als Filmmann, wie auf Karikaturen zu sehen/ sie überrede: "Sie dürfen wegen einiger Leute nicht DEM PUBLIKUM fehlen", oder "DER MENSCHHEIT", ich weiss nicht genau, wie ich sagen würde. Dann würde sie es vielleicht, etwas verwirrt über meine Exaltiertheit, zulassen.

Nicht aber ihr Mann: Der sass, wie ich jetzt erst bemerkte, neben ihr und las die Wochenausgabe der "Presse". Ich bemerkte, dass die beiden zusammengehörten, da sie ihm ihre Zeitung hinschob, was er aber abwies, worauf sie /sehr viel wissend .../ lächelte und weiterlas. Jetzt erst bemerkte ich Details wie ihre doch verbrauchte Gesichtshaut, mehrere Impfnarben auf ihrem Oberarm, Nagellack an den Fingern. Ich glaube, es liegt ganz an den Stimmungen oder der Gruppierung der Gegebenheiten, ob ein Gesicht, ob ein Mensch gefällt. Man müsste /sagt die Stimme in einem/ immer so leben, dass alles in der Umgebung schön ist.

2
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Als erstes war mir übrigens das Kleidmuster dieser Dame aufgefallen. Ich hatte es als eigentümlich und dabei angenehm empfunden. Dann hatte ich mir die Aufgabe gestellt, es präzis zu beschreiben. Leichter, als mein Pessimismus hinsichtlich meiner Leistungsfähigkeit angenommen hatte, war es gelungen. Das Kleid besteht aus Teilen eines senkrecht rot und weiss gestreiften Stoffes, auf dem schwarze Zeilen mit landwirtschaftlichen Darstellungen stehen. Die Streifen sind breit, die Zeilen sind durch zwei Linien gegeben, deren untere jeweils, alle zwei Zeilen abwechselnd, von einer Linie dicker schwarzer Punkte oder schwarzer Herzen untermalt ist. Diese Zusammenstellung variiert das alte Thema rot-weiss-schwarz wirklich originell. Ich denke nach, ob man die Schalheit durch Neues wirklich ausschalten kann, oder ob dies nur Augenblickswirkungen sind. Ich schliesse den Gedankengang aber optimistisch und sage, dass das Wesenhafte immer aus aller Schalheit hervorbrechen wird und dass weiters seine neuernde Wirkung nur die eine, äussere, Seite von ihm darstellt.

nach abschliessendem Bedauern, dass die Frau, mit der ich mich befasst hatte, so zwischen "Presse", "Salzburger Nachrichten" und einem Mann, wie er sich mir gegenüber ein bisschen manifestiert hatte, eingeklemmt sitzt - x ging ich zum schlecht aussehenden Mädchen hinüber.

Ich begutachtete ihre Kleidung und bedauerte das Fehlen eines gewissen persönlichen Geschmacks. Sie trug Blau und Rosa, die blaue Bluse aber bis zum Hals hinauf geschlossen und dies noch mit zwei Reihen silberglänzender Perlen fixiert. Ihr Gesicht war rund gebaut, aber mager, das Hervorstechende an ihr waren ihre Augen, die gross und sehr beweglich waren. Mir fielen die Ziegelteiche ein, die in der Umgebung von Wien liegen. Sonntag, wenn nichts dazwischen kommt, fahre ich mit Polakovics nach Oberlaa, vielleicht sehe ich welche. Ein Mädchen aus Oberlaa fiel mir ein, das ich gekannt hatte, und dessen etwas dumpfes Wesen einen immer wiederkehrenden Typ darstellt. Feindlichkeit von Typusglauben und Persönlichkeitsglauben. Die Persönlichkeit ist natürlich zuletzt das Entscheidende, und alles bloss Typische tritt in den Schatten.

Was sollte ich antworten, wenn ich nach dem Alter des Mädchens von der Stadtbahn gefragt würde? Ich beschloss anfangs, "25" zu sagen. Es war eine Zeitlose. Dann sah ich ihr wiederholt in die Augen und beobachtete das kaum sichtbare Zucken im Profil. Kann man sie zeitlos nennen? Es schien mir viel wahrscheinlicher, dass sie achtzehn oder siebzehn Jahre alt war.

In zunehmendem Masze gefiel sie mir, und ich verglich diese neue Beobachtung eines stetig sich wandelnden Eindruckes mit der Beobachtung vorhin an der jungen Frau.

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Bei der Haltestelle "Meidling Hauptstrasse" wurden wir getrennt. Ich dachte flüchtig, als die Leute anstürmten: "Das ist ein feindlicher Ueberfall." /Bei dieser Haltestelle steigen nämlich die Leute von der anderen als der gewohnten Wagenseite zu, und wer bisher Rückendeckung hatte, steht nun in allererster Front./

Ich vergnügte mich ein bisschen: das obligate Schimpfen. Der übliche Gedanke: Was wirst du im nächsten Moment antworten, wenn du angegriffen wirst? Warum das Stadtbahnpublikum so soldatisch ist.

Das Mädchen wurde mir hierbei verdeckt. Wenn sie an mir Gefallen gefunden hat, wird sie jetzt denken: Warum ist er so klein, dass er die Leute nicht überragt.

Ich nahm mir vor, bei der Haltestelle Hietzing nach ihr zu sehen. Aber das Publikum bedrängte mich so, dass ich, ohne in die Fleischmaschine zu kommen, nicht wenden konnte und äusserlich sicher, aber auf den Geh-Rhythmus bedacht wie ein Seiltänzer auf sein Gleichgewicht, die Stadtbahnstufen hinaufging. Das Mädchen geriet dadurch in Verlust, und ich fand sie auch nicht mehr, als ich auf der Hietzinger Brücke das erste Mal wieder um mich sehen konnte.

Ich stieg in die Strassenbahn Linie Zehn und suchte in einer geschmacklosen Blauen noch einmal das Mädchen von vorhin. Sie war es jedoch nicht. Dafür lehnte ein Mädchen am Ausgang der Plattform, die mir weit weniger gefiel, aber ganz jung war. Hinter mir war ein Fenster offen, sodass der etwas kalte Juliwind hereinwehte. Ein Bursch mit grossen Händen lehnte symmetrisch zu ihr an der anderen Plattformtür. Ich dachte "grosse Hände haben immer den Vorzug". Als er ausstieg, wandte ich mich um und sah zum Plattformfenster hinaus. /Habe ich das seinetwegen vorhin nicht getan?/ Ich freute mich an meiner Ruhe und Fahrgeduld und sah rückwärtsschauend die Gloriette und von Schönbrunn her viele Autos und Motorräder. Beim Gloriette-Kino auf der Linzerstrasse ärgerte ich mich wie immer über die dort ausnahmslos laufenden "Reisser"-Filme und parodierte dann: "Der Mörder sah ... Filme" /Dreisilbiges Wort. "amerikanische" geht leider nicht, das hat sechs Silben. "englische" trifft nicht zu. Man kann es umgekehrt machen und einen Amerikaner diesen Satz sprechen lassen, der lautet dann: "Der Mörder sah russische Filme." Damit wäre die Charakterisierung eines amerikanischen Spiessers gegeben, die Substanz aber hätte sich verändert, und nur noch das Wortspiel hätte sich herübergerettet. Darum gab ich die Idee auf./

Unter den jungen Leuten, die sich vor dem Kino herumtrieben, sah ich übrigens auch einen typischen jungen Intelligenzler mit schwarzer Brille und ziemlich rund gebautem Gesicht. Also ein Verstoss gegen die Typenlehre des Gloriette-Kinos.

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Das Mädchen stieg aus, stellte sich dann in ein Haustor, das mir von früher in Erinnerung ist, und stand dort zwei Burschen gegenüber. Die wurden mir im gleichen Moment unsympathisch, und ich sah die ganze Szene als feindliche an. Ich gab mir darüber Rechenschaft: Wenn jemand ein Mädchen, das er gar nicht begehrt, plötzlich mit anderen Männern beisammensieht, rührt der entstehende instinktive Aerger von der Hypothese, dass "alles schon vergeben sei", selbst das, was in der Peripherie seines Geschmacks oder Gefühles liegt. An Hand einer kleinen Erzählung könnte man darüber eine der "fünfzig Kurzgeschichten" schreiben, die sich mit Mädchen und Männern befassen. /Ich habe bisher zwei solcher Kurzgeschichten geschrieben, Polakovics aber hat verlangt, ich müsse die fünfzig voll machen./

Die Reinlgasse hinauf. Während dieser Strecke befasste ich mich teils abstrakt mit dem Thema "Die Kurzgeschichte", teils ärgerte ich mich über den Pissoirgeruch aus der katholischen Kirche oder dem Pfarrheim in der Reinlgasse. Nur dieser Geruch und noch der Leichengeruch entlang dem Wilhelminenspital "beleidigen" richtig die Nase.

Vor einer Konditorei in der Breitenseerstrasse stand ein Lieferwagen. Die Läden des Geschäftes waren aber schon heruntergelassen. Ich überlegte, ob das Auto wohl die ganze Nacht dort stehen würde. Ich weiss nicht, ob für Kaugummi oder Toiletteartikel auf der Seitenwand des Autos Reklame gemacht wurde; wenn ich mich recht zurückerinnere, habe ich vor einigen Tagen etwas wie Kau..mi gelesen.

Artmann, an dessen Wohnung ich in einiger Entfernung vorüberfuhr, ist in der Schweiz, dachte ich, und meldet sich nicht.

Ein Invalider, Mann mit einem Bein, sprang auf die Strassenbahn, knapp bevor sie abfuhr. Ich schaute ihn absichtlich nur kurz an, um ihm nicht wehzutun. Gleichzeitig dachte ich bei mir: Ich will ihm nichts Böses. Ich will Ihnen nichts Ekelhaftes, ich möchte nur denen, die Sie in diese Lage gebracht haben, ein Bein in kleinen Würfelchen herunterschneiden. Wenn ich sage, in Kubikzentimetern, klingt es unanschaulich. Wie müsste man das tun? Zuerst einen Raster ziehen: Längsschnitte, Querschnitte, endlich jedes Quadrat mit dem Messer untergreifen und das Würfelchen herausheben. Dann verlor ich mich in den Gedanken, wer die Schuldigen sind.

Auf dem J.-Platz, nahe dem sie bauen /vormittags fiel mir ein: ich müsste längere Zeit auf dem Bauplatz arbeiten/, versperrten mir mehrere Strassenbahnzüge den Durchlauf. Als die Bahn frei wurde, rannte ich zum wartenden 47-er und sprang auf. Ich liess zuvor einen älteren Mann, Siedler aus einem der Gärten dieser Strecke, aufsteigen, der laut in ein grosses Taschentuch geniest hatte.

5
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Ich schlug zwischen mir und einem sehr lackierten Mädchen, das mit einem jungen Mann auf der Plattform stand, die Tür aus dem Innenraum der Strassenbahn zu.

Die Schaffnerin war von grossem Volumen. Ich dachte: Wenn die einen schmalen Mann daheim hat, muss das seine traurigen Gründe haben.

Dann sah ich, vom trüb gelben Licht sehr bald eingeschläfert, nur noch das Holzmuster der Bänke in der Strassenbahn.

/1952/


Sa 26 Juli:

Freier Samstag.

Ausmisten für die kommende Übersiedlung.

Seit gestern regnerisch und kalt.

Abends die Laaer Geschichte versucht.


So 27 Juli:

Nach vergeblichen quälenden Schreibversuchen bis Mittag (das Wetter hellte sich auf) besuchte mich Polakovics mit Maja.

Ich lernte eine nicht uninteressante Regel kennen.

Polakovics und Maja sind sehr liebe Menschen.

Irgendwie Heimweh nach der Möglichkeit, B. K. als Mädchen zu finden.


Mo, 28. Juli:

Besonders anstrengender Tag.


Di, 29. Juli:

Abends Post vom "ophir".

Kalkuliert, ziemlich bald niedergelegt. (Vm. Regen, nm. schön, ab. aber sehr kühl.)


Mi, 30. Juli:

Diese Woche fahre ich auf einer anderen Linie zum Büro. (46, E2).

Viel Arbeit.


Do, 31. Juli:

Abends zu Polakovics. Angenehm. Deutsche Einsendungen gesehen; dort sind die Dilettanten noch häßlicher als die hiesigen.

Im Radio internationale Friedenslyrik gehört. Nur ein Grieche und Neruda klangen echt. Hermlin enttäuschte mich. Jandl-Gedichte gesehen: Odysseus 2 gefiel mir besonders, auch Gasthausszene Rucksackgedicht ist eigentümlich, nicht reizlos.

Gab Pol und Maja mein Bändchen-Manuskript (1949/50) zum Lesen und Begutachten.

Abends im 47-er ein Betrunkener.


Fr, 1. August:

Fini Pobisch fuhr für länger aufs Land (Mamas Freundin).

Mama begleitete sie zum Bahnhof.

Heute früh wieder ein Gedicht-Einfall. Hatte aber keine Zeit. (Ingeborg).


Sa, 2. August:

Nach dem Büro ausgeruht.

Abends zu Hakel. (War von ihm eingeladen worden.)

Abende bei ihm sind sehr anregend. Ich verzichte absichtlich, hier darüber zu berichten. (Habe 5 Minuten noch Zeit vor der Abfahrt ins Büro [Es ist Montag, 8h.] ...)

Auf der Straßenbahn, Kopf zum Plattformfenster hinaus, fast die gleiche Szene wie neulich nach Jirgal. Erhitzte Tänzerinnen, sehr geschminkt und besoffen, aus einem Vororte-Tanzsaal, diesmal mit zwei Männern. Einer in dunkelm Anzug und mit Hut (+20° Hitze), mit sonorer Stimme, war, wie ich hörte, der Mann von L. K., die auch auf der Plattform stand. Er sagte: "Die Kinder wer'n ei'gspirrt, dann mach ma a wüste Li-i-i- beees-naaacht". (L. K. hatte ich seinerzeit geliebt und seither nicht gesehn.)

Zu Hause 23 Uhr 15.


So, 3. August:

Unausgeschlafen von gestern.

Expressionisten-Anthologie, von Hakel entliehen, gelesen.

Kein kam. Ergebnisreichere Gespräche, Wiese über der Dehnegasse, Sonne scheinte, Himmel wolken los.

Nachmittag vergeblich "Medea". Hoffe aber, aus einer Sackgasse herauszufinden.

Persönliche Situation. Ich kenne jetzt, buchstäblich, kein Mädchen, die ich gerne hätte.


Tagebuch

1952

AOk

2  60

Tagebuch

von Sa 28.6.1952

bis ... So 3.8.1952

Samstag,
28.6.52:

Bürofrei.

Vormittag Wäsche geholt
von der Linzerstraße
und dann Ordnungen
gemacht.

Leicht bewegter
Vormittag.

Nachmittags gründlich
ausgeruht, mit
leichtem Schwindel-
gefühl. Ich bin
möglicherweise
überarbeitet.


Sonntag,
29.6.52:

Fast unbewölkter
Vormittag. Auf der
Wiese gelegen, mit
Kein und Gedichten
von Benn, und
verschiedenem anderen.
Erzählte Kein auch
von Brigitte Kahr.

Bin etwas müde.
"Komisches Land."

Habe die Abtreibungs-
geschichte
, die preis-
gekrönte, von Aichinger
im Sam Bändchen der Weigel-Serie
vorgefunden.

Nicht besonders
angeregt.

Gegen Nachmittag
wurde es wolkiger
und kühler.

Reinschriften,
Auslese in alten
Gedichten gehalten.

Lebhaft am Abend.
Wünsche die nun
wieder nirgends
hinführen.

Nachts träumte ich von
Hilde Schinko. Ich
erwartete sie im obersten
Stockwerk eines Hauses.


Montag,
30.6.52:

Ich kam im Büro darauf,
daß heute der letzte
Junitag ist.

Huber erschien wieder
im Büro, nach zwei
Wochen Urlaub,
verregnetem Camping.

Schwüler Tag, aber
es freut einen, daß
es nun wenigstens sommer-
lich ist.

Cysarz 20.-, 1. Wm.


Dienstag,
1. Juli 52:

Heißer Tag.

Nach dem Büro
angenehmer Abend.


Mittwoch,
2. Juli:

"Hundstag-" Hitze.
Abends wieder sehr
schön.


Donnerstag,
3. Juli:

Wahnsinnig heiß.
Viel Arbeit. Müde.
Behördliche Schwie-
rigkeiten im Büro.
Idee: Medea.


Freitag,
4. Juli:

Nach anstrengendem
Tag abends zu
Weltsch in den
Garten. Er erzählte
uns von seiner
Barettmacher-Karriere
am Theater.

Sehr ermüdet heim.


Samstag,
5. Juli:

Bei anhaltender
Hitze, nachmittags
noch steigender,
den Tag verbracht.

Schrieb nachmittags
(+41°), in einem
Lavoir plantschend,
an der "Medea"
weiter.


Sonntag,
6. Juli:

Mit Kein an den Wien-
fluß
gesetzt. Dort
Gedichte von Ringelnatz
kennengelernt. Er
ist menschlich bezogener
als verschiedene
Wortspieler, sogar
unmittelbarer hierin
als Morgenstern.

(Einstweilen letzte
Zusammenkunft
mit Kein. Er fährt
auf Urlaub.)

Nachmittag kam niemand.
Sengende Hitze.

Ich schrieb nahe dem
Fenster an der "Medea"
weiter.


Montag,
7.7.52:

Hitze.

Nach dem Büro zu
Artmann: Er war
schon in die Schweiz
gefahren, mit Esther.
Seine Mutter erzählte
mir viel von ihm.

Fensterscheiben.

Verschiedene Kor-
respondenz und
Anrufe; vom Jandl
für Donnerstag
eingeladen worden.


Dienstag,
8. Juli:

Früh hatte ich noch
Zeit für eigene Arbeiten.
Diese Woche wird
bewegter.

Abends zu Matejka.
Über "moderne
Kunst" gesprochen.
Er lieh mir die
"polit. Gedichte"
von Paul Eluard.

Danach zu den jungen
Polakovics', in deren
neue Wohnung.

Brunnengasse, ein Neubau,
5. Stock. Sehr angenehmer
Eindruck. Einige
Möbelstücke aus natur-
farbenem Holz,
Küche modern, Radio.
Vor einem Jahr, wie
er sagt, war noch gar
nichts da, auch
noch nicht die
Frau.

Viel gesprochen.
Vor allem: über
Volkstümlichkeit und Kitsch.


Mittwoch,
9. Juli:

Die polit. Gedichte von
Eluard haben in mir
einen Eindruck hin-
terlassen.

Wieder ein sehr
heißer Tag.

1600.- (1 1/2 Gehälter)
ausbezahlt bekommen
Entschädigung für die
Überbeanspruchung der Angestellten.

(Von Dr. Machwitz, einer
maßlosen Person,
erkämpft.)

Angenehmer Abend.


Donnerstag,
10. Juli:

Einer der anstrengend-
sten Tage im Büro.

Danach (und immer
wieder Hitze) in
den Art Club, wo
ich Jandl treffen wollte. Art Club geschlossen.

Die Bar-Damen aus dem
gleichen Haus ließen
mich trotzdem dort
warten. Jandl kam,
weniger extrem als
ich angenommen hatte,
weniger extrem als
zum Beispiel Raimund
Ferra
.

Volksgarten, neue
Gedichte (gute),
Innere Stadt (ödeste
Gegend der Welt,
Stephansplatz),
Stadtpark: beim Fluß
gesessen.

Jandl fährt schon im
August auf ein Jahr
nach England.
Sonntag, 10. August,
kommt er noch einmal
zu mir heraus.

Kurioser Brief
abends aus Kanada.


Freitag,
11. Juli:

Viel Arbeit.

Nach dem Büro zu
Artmanns. Trug
Schuhe zur Reparatur
dorthin.


Samstag,
12. Juli:

Nachmittags für mich
gearbeitet. Dann
besoffener Abend
mit Tante und
Frau Fini Pobisch
(zufällig gekommen). Produktion wieder
gelähmt.


Sonntag,
13. Juli:

Wieder etwas trüb.
Leichte Anzeichen von
Katzenjammer.
Ordnungen, nach-
mittag abgequält
mit Medea.


Montag,
14. Juli:

Früh noch genug Zeit.
Ich müßte freier sein,
um mehr arbeiten zu
können, oder
literarisch unter
Druck stehen. So
brav ich schreiben
will, werde ich doch
leicht träge, da
sich konkret niemand
drum schert, wenn
ich nichts hervorbring.
Die abstrakte "Mensch-
heit" ist nicht immer
gegenwärtig.

Viel zu tun.

Dr. L. fährt auf Urlaub.
Abends Schuhe von Artmanns
abgeholt.

Mir wurden häßliche
Gedichte eingeschickt.


Dienstag,
15. Juli:

Nicht genug kann ich
loben die neue Büro-
kraft., Frau Anni M.,
die Ruhe und
Freundlichkeit ver-
breitet.

Tante fehlte im Büro:
Sie hatte einen argen
Nierenanfall erlitten.
Mittags besuchte ich sie:
Sie leidet sehr.

Abends regnete es.
Tagsüber Korrespon-
denzen erledigt.

(U.a.: Kneis.)


Mittwoch,
16. Juli:

Regen.

Tante geht es schon
besser.

Abends: steriler
Brief von der Diem.


Donnerstag,
17. Juli:

Abends nach
aufreibendem Büro
Bažata-Besuch.
(Nach sehr langer Zeit.)

Schöne Landschaft,
wenn auch spätsommer-
lich. Wientalstraße
mit ihrer Lichter-Allee,
von weitem.


Freitag,
18. Juli:

Mehr und mehr Arbeit.
Bauer von heute an
auf Urlaub.

Szenen mit Huber.


19/20 7 52
Sa, So:

Versuche mit
Prosa. Sogar die
Wochenend-Ruhe
entfällt.

Nichts gelingt.

Ich weiß nicht,
ist die Prosa für
mich wichtiger
oder das Gedicht.
Auf jeden Fall
habe ich zu wenig
Zeit, und die
verbleibende Freizeit
ist meistens
wertlose Zeit.

Kein kam Sonntag
vormittags. Ich
konnte ihn nur
geschwätzig lang-
weilen.


Medea ist bis daher
gut.


So 20 7 52
nm.:

Ich schrieb an Medea
weiter: erhielt auf
diese Weise acht
Zeilen dazu.

Abends überkam mich
die Erkenntnis, daß
ich, solang diese heutigen
Bedingungen anhalten,
allein bleiben werde.


Mo 21 7 52:

Aufheiterung im Wetter.


Di 22 7 52:

Begann, mich an franzö-
sischen Geschäftsbriefen
in dieser Sprache
etwas zu üben.

Abends Vokabel gelernt.


Mi 23 7 52:

früh Sommeranzug gekauft.
Strahlend heißer Tag.
Am Wasser ist es sehr
schön.

Büro wie immer.

Abends Vokabel gelernt.


Do 24 7 52:

Donnerstag, 24. Juli, fuhr ich um dreiviertel sechs Uhr
abends auf der Strassenbahn vom Büro nach Hause.

Wie gewöhnlich, sah ich bei jedem Zeitungstand der einzelnen
Stationen nach den Zeitungstiteln, da ich die Nummer 10
der "Stimme der Mitte" suchte, jener Zeitung, die auf Hans
Weigel
schimpft.

Ein Mädchen fuhr in meinem Waggon, die sehr schlecht aussah.
In ihrer Nähe aber sass eine jüngere Frau, die in den
"Salzburger Nachrichten" las und die ein Gesicht mit ausge-
glichenen Zügen hatte. Ich dachte mir, es ist schön, wenn
eine Frau in diesen Jahren so aussieht. Ich verfloolgte weiter
die Hypothese, ich sei ein Mann vom Film, der improvisierter
Weise alles dreht, was ihn beeindruckt, und ich würde die Frau
zu diesem Zweck ansprechen. Das würde sie möglicherweise
übel nehmen. Nicht alle wollen gefilmt werden. Ich dachte:
Ich kann sie ja äusserlich ein bisschen verändern, mit ein
bisschen Maske und verändertem Mund und anderer Haartracht.
Den vorangegangenen Gedanken hatte ich abgelehnt. Er hatte
so gelautet: Ich kann sie schliesslich photographieren und
nachträglich jemand anderen, der ihr ähnlich sieht, zu meinem
Film heranziehen; jemand, der eher bereit ist zu drehen, als
sie. Diesen Gedanken aber lehnte ich aus dem Grunde ab,
wonach nicht die Aeusserlichkeit das Wichtigste an diesem
Gefallen ist, sondern die Substanz, die sich im Aeusseren
ausdrückt. Die würde im ersten Moment vielleicht, für mich,
noch dasein, weil ich an die "Richtige" denken würde, dann
aber zerflattern: der      Ersatz würde den originalen Eindruck
nicht länger bewahren können als meine Erinnerung das könnte.
/Nachträgliche Variation: Meine Erinnerung wird ihn unter
Umständen bewahren können, jetzt wenigstens, wo ich ihn ziemlich
deutlich niedergeschrieben habe./

Sie würde sich also das Photographieren nicht gefallen lassen.
Einige Verwandte würden sie, auch wenn sie von mir verändert
werden würde, erkennen. Aber ich stelle mir vor, dass ich,
gewandt, /als Filmmann, wie auf Karikaturen zu sehen/ sie
überrede: "Sie dürfen wegen einiger Leute nicht DEM PUBLIKUM
fehlen", oder "DER MENSCHHEIT", ich weiss nicht genau, wie ich
sagen würde. Dann würde sie es vielleicht, etwas verwirrt über
meine Exaltiertheit, zulassen.

Nicht aber ihr Mann: Der sass, wie ich jetzt erst bemerkte,
neben ihr und las die Wochenausgabe der "Presse". Ich bemerkte,
dass die beiden zusammengehörten, da sie ihm ihre Zeitung
hinschob, was er aber abwies, worauf sie /sehr viel wissend .../
lächelte und weiterlas. Jetzt erst bemerkte ich Details wie ihre
doch verbrauchte Gesichtshaut, mehrere Impfnarben auf ihrem
Oberarm, Nagellack an den Fingern. Ich glaube, es liegt ganz
an den Stimmungen oder der Gruppierung der Gegebenheiten,
ob ein Gesicht, ob ein Mensch gefällt. Man müsste /sagt die
Stimme in einem/ immer so leben, dass alles in der Umgebung
schön ist.

2
2

Als erstes war mir übrigens das Kleidmuster dieser Dame
aufgefallen. Ich hatte es als eigentümlich und dabei
angenehm empfunden. Dann hatte ich mir die Aufgabe gestellt,
es präzis zu beschreiben. Leichter, als mein Pessimismus
hinsichtlich meiner Leistungsfähigkeit angenommen hatte,
war es gelungen. Das Kleid besteht aus Teilen eines
senkrecht rot und weiss gestreiften Stoffes, auf dem
schwarze Zeilen mit landwirtschaftlichen Dar-
stellungen stehen. Die Streifen sind breit, die Zeilen sind
durch zwei Linien gegeben, deren untere jeweils, alle zwei
Zeilen abwechselnd, von einer Linie dicker schwarzer Punkte
oder schwarzer Herzen untermalt ist. Diese Zusammenstellung
variiert das alte Thema rot-weiss-schwarz wirklich originell.
Ich denke nach, ob man die Schalheit durch Neues wirklich
aussechalten kann, oder ob dies nur Augenblickswirkungen
sind. Ich schliesse den Gedankengang aber optimistisch
und sage, dass das Wesenhafte immer aus aller Schalheit
hervorbrechen wird und dass weiters seine neuernde Wirkung
nur die eine, äussere, Seite von ihm darstellt.

Mit diesen Gedanken ging ich - nach abschliessendem Bedauern,
dass die Frau, mit der ich mich befasst hatte, so zwischen
"Presse", "Salzburger Nachrichten" und einem Mann, wie er sich
mir gegenüber ein bisschen manifestiert hatte, eingeklemmt
sitzt - x ging ich zum schlecht aussehenden Mädchen hinüber.

Ich begutachtete ihre Kleidung und bedauerte das Fehlen
eines gewissen persönlichen Geschmacks. Sie trug Blau und
Rosa, die blaue Bluse aber bis zum Hals hinauf geschlossen
und dies noch mit zwei Reihen silberglänzender Perlen
fixiert. Ihr Gesicht war rund gebaut, aber mager, das Hervor-
stechende an ihr waren ihre Augen, die gross und sehr
beweglich waren. Mir fielen die Ziegelteiche ein, die in der
Umgebung von Wien liegen. Sonntag, wenn nichts dazwischen
kommt, fahre ich mit Polakovics nach Oberlaa, vielleicht
sehe ich welche. Ein Mädchen aus Oberlaa fiel mir ein, das ich
gekannt hatte, und dessen etwas dumpfes Wesen einen immer
wiederkehrenden Typ darstellt. Feindlichkeit von Typusglauben
und Persönlichkeitsglauben. Die Persönlichkeit ist natürlich
zuletzt das Entscheidende, und alles bloss Typische tritt
in den Schatten.

Was sollte ich antworten, wenn ich nach dem Alter des Mädchens
von der Stadtbahn gefragt würde? Ich beschloss anfangs,
"25" zu sagen. Es war eine Zeitlose. Dann sah ich ihr wiederholt
in die Augen und beobachtete das kaum sichtbare Zucken im Profil.
Kann man sie zeitlos nennen? Es schien mir viel wahrschein-
licher, dass sie achtzehn oder siebzehn Jahre alt war.

In zunehmendem Masze gefiel sie mir, und ich verglich diese
neue Beobachtung eines stetig sich wandelnden Eindruckes
mit der Beobachtung vorhin an der jungen Frau.

3
3

Bei der Haltestelle "Meidling Hauptstrasse" wurden wir
getrennt. Ich dachte flüchtig, als die Leute anstürmten:
"Das ist ein feindlicher Ueberfall." /Bei dieser Haltestelle
steigen nämlich die Leute von der anderen als der gewohnten
Wagenseite zu, und wer bisher Rückendeckung hatte, steht nun
in allererster Front./

Ich vergnügte mich ein bisschen: das obligate Schimpfen.
Der übliche Gedanke: Was wirst du im nächsten Moment ant-
worten, wenn du ang        egriffen wirst? Warum das Stadtbahn-
publikum so soldatisch ist.

Das Mädchen wurde mir hierbei verdeckt. Wenn sie an mir
Gefallen gefunden hat, wird sie jetzt denken: Warum ist er
so klein, dass er die Leute nicht überragt.

Ich nahm mir vor, bei der Haltestelle Hietzing nach ihr zu
sehen. Aber das Publikum bedrängte mich so, dass ich, ohne
in die Fleischmaschine zu kommen, nicht wenden konnte und
äusserlich sicher, aber auf den Geh-Rhythmus bedacht wie ein
Seiltänzer auf sein Gleichgewicht, die Stadtbahnstufen
hinaufging. Das Mädchen geriet dadurch in Verlust, und ich
fand sie auch nicht mehr, als ich              auf der Hietzinger Brücke
das erste Mal wieder um mich sehen konnte.

Ich stieg in die Strassenbahn Linie Zehn und suchte
in einer geschmacklosen Blauen noch einmal das Mädchen
von vorhin. Sie war es jedoch nicht. Dafür lehnte ein
Mädchen am Ausgang der Plattform, die mir weit weniger gefiel,
aber ganz jung war. Hinter mir war ein Fenster offen, sodass
der etwas kalte Juliwind hereinwehte. Ein Bursch mit grossen

Händen lehnte symmetrisch zu ihr an der anderen Plattformtür.
Ich dachte "grosse Hände haben immer den Vorzug". Als er
ausstieg, wandte ich mich um und sah zum Plattformfenster
hinaus. /Habe ich das seinetwegen vorhin nicht getan?/
Ich freute mich an meiner Ruhe und Fahrgeduld und sah rück-
wärtsschauend die Gloriette und von Schönbrunn her viele Autos

und Motorräder. Beim Gloriette-Kino auf der Linzerstrasse
ärgerte ich mich wie immer über die dort ausnahmslos laufenden
"Reisser"-Filme und parodierte dann: "Der Mörder sah ...
Filme" /Dreisilbiges Wort. "amerikanische" geht leider nicht,
das hat sechs Silben. "englische"       trifft nicht zu. Man kann
es umgekehrt machen und einen Amerikaner diesen Satz sprechen
lassen, der lautet dann: "Der Mörder sah russische Filme."
Damit wäre die Charakterisierung eines amerikanischen Spiessers
gegeben, die Substanz aber hätte sich verändert, und nur noch
das Wortspiel hätte sich herübergerettet. Darum gab ich die
Idee auf./

Unter den jungen Leuten, die sich vor dem Kino herumtrieben,
sah ich übrigens auch einen typischen jungen Intelligenzler
mit schwarzer Brille und ziemlich rund gebautem Gesicht.
Also ein Verstoss gegen die Typenlehre des Gloriette-Kinos.

4
4

Das Mädchen stieg aus, stellte sich dann in ein Haustor,
das mir von früher in Erinnerung ist, und stand dort zwei
Burschen gegenüber. Die wurden mir im gleichen Moment unsym-
pathisch, und ich sah die ganze Szene als feindliche an.
Ich gab mir darüber Rechenschaft: Wenn jemand ein Mädchen,
das er gar nicht begehrt, plötzlich mit anderen Männern bei-
sammensieht, rührt der entstehende instinktive Aerger von der
Hypothese, dass "alles schon vergeben sei", selbst das, was
in der Peripherie seines Geschmacks oder Gefühles liegt.
An Hand einer kleinen Erzählung könnte man darüber eine
der "fünfzig Kurzgeschichten" schreiben, die sich mit Mädchen
und Männern befassen. /Ich habe bisher zwei solcher Kurz-
geschichten
geschrieben, Polakovics aber hat verlangt, ich
müsse die fünfzig voll machen./

Die Reinlgasse hinauf. Während dieser Strecke befasste ich
mich teils abstrakt mit dem Thema "Die Kurzgeschichte",
teils ärgerte ich mich über den Pissoirgeruch aus der
katholischen Kirche oder dem Pfarrheim in der Reinlgasse.
Nur dieser Geruch und noch der Leichengeruch entlang dem
Wilhelminenspital "beleidigen" richtig die Nase.

Vor einer Konditorei in der Breitenseerstrasse stand ein
Lieferwagen. Die Läden des Geschäftes waren aber schon her-
untergelassen. Ich überlegte, ob das Auto wohl die ganze
Nacht dort stehen würde. Ich weiss nicht, ob für Kaugummi oder
Toiletteartikel auf der Seitenwand des Autos Reklame gemacht
wurde; wenn ich mich recht zurückerinnere, habe ich vor einigen
Tagen etwas wie Kau..mi gelesen.

Artmann, an dessen Wohnung ich in einiger Entfernung vorüber-
fuhr, ist in der Schweiz, dachte ich, und meldet sich nicht.

Ein Invalider, Mann mit einem Bein, sprang auf die Strassenbahn,
knapp bevor sie abfuhr. Ich schaute ihn absichtlich nur kurz
an, um ihm nicht wehzutun. Gleichzeitig dachte ich bei mir:
Ich will ihm nichts Böses. Ich will Ihnen nichts Ekelhaftes,
ich möchte nur denen, die Sie in diese Lage gebracht haben,
ein Bein in kleinen Würfelchen herunterschneiden. Wenn ich
sage, in Kubikzentimetern, klingt es unanschaulich. Wie müsste
man das tun? Zuerst einen Raster ziehen: Längsschnitte,
Querschnitte, endlich jedes Quadrat mit dem Messer unter-
greifen und das Würfelchen herausheben. Dann verlor ich mich
in den Gedanken, wer die Schuldigen sind.

Auf dem J.-Platz, nahe dem sie bauen /vormittags fiel mir ein:
ich müsste längere Zeit auf dem Bauplatz arbeiten/, versperrten
mir mehrere Strassenbahnzüge den Durchlauf. Als die Bahn
frei wurde, rannte ich zum wartenden 47-er und sprang auf.
Ich liess zuvor einen älteren Mann, Siedler aus einem der
Gärten dieser Strecke, aufsteigen, der laut in ein grosses
Taschentuch geniest hatte.

5
5

Ich schlug zwischen mir und einem sehr lackierten Mädchen,
das mit einem jungen Mann auf der Plattform stand, die Tür
aus dem Innenraum der Strassenbahn zu.

Die Schaffnerin war von grossem Volumen. Ich dachte:
Wenn die einen schmalen Mann daheim hat, muss das seine
traurigen Gründe haben.

Dann sah ich, vom trüb gelben Licht sehr bald eingeschläfert,
nur noch das Holzmuster der Bänke in der Strassenbahn.

/1952/


Sa 26 Juli:

Freier Samstag.

Ausmisten für die
kommende Übersiedlung.

Seit gestern regnerisch
und kalt.

Abends die Laaer
Geschichte
versucht.


So 27 Juli:

Nach vergeblichen
quälenden Schreib-
versuchen bis Mittag
(das Wetter hellte
sich auf) besuchte
mich Polakovics
mit Maja.

Ich lernte eine
nicht uninteressante
Regel kennen.

Polakovics und
Maja sind sehr
liebe Menschen.

Irgendwie Heimweh
nach der Möglichkeit,
B. K. als Mädchen
zu finden.


Mo, 28. Juli:

Besonders anstrengender
Tag.


Di, 29. Juli:

Abends Post vom
"ophir".

Kalkuliert, ziemlich
bald niedergelegt.
(Vm. Regen, nm.
schön, ab. aber
sehr kühl.)


Mi, 30. Juli:

Diese Woche fahre
ich auf einer anderen Linie zum Büro.
(46, E2).

Viel Arbeit.


Do, 31. Juli:

Abends zu Polakovics.
Angenehm. Deutsche
Einsendungen gesehen;
dort sind die Dilettanten
noch häßlicher als
die hiesigen.

Im Radio internationale
Friedenslyrik gehört.
Nur ein Grieche
und Neruda klangen
echt. Hermlin
enttäuschte mich. Jandl-Gedichte gesehen:
Odysseus 2 gefiel
mir besonders,
auch Gasthausszene
Rucksack-
gedicht
ist eigentümlich,
nicht reizlos.

Gab Pol und Maja
mein Bändchen-
Manuskript
(1949/50)
zum Lesen und
Begutachten.

Abends im 47-er
ein Betrunkener.


Fr, 1. JAugust:

Fini Pobisch fuhr
für länger aufs
Land (Mamas
Freundin).

Mama begleitete
sie zum Bahnhof.

Heute früh wieder
ein Gedicht-Einfall.
Hatte aber keine
Zeit. (Ingeborg).


Sa, 2. August:

Nach dem Büro
ausgeruht.

Abends zu Hakel.
(War von ihm einge-
laden worden.)

Abende bei ihm
sind sehr anregend.
Ich verzichte
absichtlich, hier darüber
zu berichten.
(Habe 5 Minuten
noch Zeit vor der
Abfahrt ins Büro
[Es ist Montag., 8h.] ...)

Auf der Straßenbahn,
Kopf zum Plattform-
fenster hinaus,
fast die gleiche Szene
wie neulich nach
Jirgal. Erhitzte
Tänzerinnen, sehr
geschminkt und
besoffen, aus einem
Vororte-Tanzsaal,
diesmal mit
zwei Männern.
Einer in dunkelm
Anzug und mit
Hut (+20° Hitze),
mit sonorer Stimme,
war, wie ich hörte,
der Mann von L. K., die auch auf der
Plattform stand. Er
sagte: "Die Kinder
wer'n ei'gspirrt,
dann mach ma
a wüste Li-i-i-
beees-naaacht".
(L. K. hatte ich
seinerzeit geliebt
und seither nicht
wieder gesehn.)

Zu Hause 23 Uhr 15.


So, 3. August:

Unausgeschlafen
von gestern.

Expressionisten-
Anthologie, von
Hakel au
entliehen,
gelesen.

Kein kam.
Ergebnisreichere
Gespräche,
Wiese über
der Dehnegasse,
Sonne scheinte,
Himmel wolken-
los.

Nachmittag vergeblich
"Medea". Hoffe
aber, aus einer
Sackgasse heraus-
zufinden.

Persönliche Situation:.
Ich kenne jetzt,
buchstäblich, kein
Mädchen, die ich
gerne hätte.


Laden...

Tagebuch

1952

AOk

260

Tagebuch

von Sa 28.6.1952

bis ... So 3.8.1952

Samstag, 28.6.52:

Bürofrei.

Vormittag Wäsche geholt von der Linzerstraße und dann Ordnungen gemacht.

Leicht bewegter Vormittag.

Nachmittags gründlich ausgeruht, mit leichtem Schwindelgefühl. Ich bin möglicherweise überarbeitet.


Sonntag, 29.6.52:

Fast unbewölkter Vormittag. Auf der Wiese gelegen, mit Kein und Gedichten von Benn, und verschiedenem anderen. Erzählte Kein auch von Brigitte Kahr.

Bin etwas müde. "Komisches Land."

Habe die Abtreibungsgeschichte, die preisgekrönte, von Aichinger im Bändchen der Weigel-Serie vorgefunden.

Nicht besonders angeregt.

Gegen Nachmittag wurde es wolkiger und kühler.

Reinschriften, Auslese in alten Gedichten gehalten.

Lebhaft am Abend. Wünsche die nun wieder nirgends hinführen.

Nachts träumte ich von Hilde Schinko. Ich erwartete sie im obersten Stockwerk eines Hauses.


Montag, 30.6.52:

Ich kam im Büro darauf, daß heute der letzte Junitag ist.

Huber erschien wieder im Büro, nach zwei Wochen Urlaub, verregnetem Camping.

Schwüler Tag, aber es freut einen, daß es nun wenigstens sommerlich ist.

Cysarz 20.-, 1. Wm.


Dienstag, 1. Juli 52:

Heißer Tag.

Nach dem Büro angenehmer Abend.


Mittwoch, 2. Juli:

"Hundstag-" Hitze. Abends wieder sehr schön.


Donnerstag, 3. Juli:

Wahnsinnig heiß. Viel Arbeit. Müde. Behördliche Schwierigkeiten im Büro. Idee: Medea.


Freitag, 4. Juli:

Nach anstrengendem Tag abends zu Weltsch in den Garten. Er erzählte uns von seiner Barettmacher-Karriere am Theater.

Sehr ermüdet heim.


Samstag, 5. Juli:

Bei anhaltender Hitze, nachmittags noch steigender, den Tag verbracht.

Schrieb nachmittags (+41°), in einem Lavoir plantschend, an der "Medea" weiter.


Sonntag, 6. Juli:

Mit Kein an den Wienfluß gesetzt. Dort Gedichte von Ringelnatz kennengelernt. Er ist menschlich bezogener als verschiedene Wortspieler, sogar unmittelbarer hierin als Morgenstern.

(Einstweilen letzte Zusammenkunft mit Kein. Er fährt auf Urlaub.)

Nachmittag kam niemand. Sengende Hitze.

Ich schrieb nahe dem Fenster an der "Medea" weiter.


Montag, 7.7.52:

Hitze.

Nach dem Büro zu Artmann: Er war schon in die Schweiz gefahren, mit Esther. Seine Mutter erzählte mir viel von ihm.

Fensterscheiben.

Verschiedene Korrespondenz und Anrufe; vom Jandl für Donnerstag eingeladen worden.


Dienstag, 8. Juli:

Früh hatte ich noch Zeit für eigene Arbeiten. Diese Woche wird bewegter.

Abends zu Matejka. Über "moderne Kunst" gesprochen. Er lieh mir die "polit. Gedichte" von Paul Eluard.

Danach zu den jungen Polakovics', in deren neue Wohnung.

Brunnengasse, ein Neubau, 5. Stock. Sehr angenehmer Eindruck. Einige Möbelstücke aus naturfarbenem Holz, Küche modern, Radio. Vor einem Jahr, wie er sagt, war noch gar nichts da, auch noch nicht die Frau.

Viel gesprochen. Vor allem: über Volkstümlichkeit und Kitsch.


Mittwoch, 9. Juli:

Die polit. Gedichte von Eluard haben in mir einen Eindruck hinterlassen.

Wieder ein sehr heißer Tag.

1600.- (1 1/2 Gehälter) ausbezahlt bekommen Entschädigung für die Überbeanspruchung der Angestellten.

(Von Dr. Machwitz, einer maßlosen Person, erkämpft.)

Angenehmer Abend.


Donnerstag, 10. Juli:

Einer der anstrengendsten Tage im Büro.

Danach (und immer wieder Hitze) in den Art Club, wo ich Jandl treffen wollte. Art Club geschlossen.

Die Bar-Damen aus dem gleichen Haus ließen mich trotzdem dort warten. Jandl kam, weniger extrem als ich angenommen hatte, weniger extrem als zum Beispiel Raimund Ferra.

Volksgarten, neue Gedichte (gute), Innere Stadt (ödeste Gegend der Welt, Stephansplatz), Stadtpark: beim Fluß gesessen.

Jandl fährt schon im August auf ein Jahr nach England. Sonntag, 10. August, kommt er noch einmal zu mir heraus.

Kurioser Brief abends aus Kanada.


Freitag, 11. Juli:

Viel Arbeit.

Nach dem Büro zu Artmanns. Trug Schuhe zur Reparatur dorthin.


Samstag, 12. Juli:

Nachmittags für mich gearbeitet. Dann besoffener Abend mit Tante und Frau Fini Pobisch (zufällig gekommen). Produktion wieder gelähmt.


Sonntag, 13. Juli:

Wieder etwas trüb. Leichte Anzeichen von Katzenjammer. Ordnungen, nachmittag abgequält mit Medea.


Montag, 14. Juli:

Früh noch genug Zeit. Ich müßte freier sein, um mehr arbeiten zu können, oder literarisch unter Druck stehen. So brav ich schreiben will, werde ich doch leicht träge, da sich konkret niemand drum schert, wenn ich nichts hervorbring. Die abstrakte "Menschheit" ist nicht immer gegenwärtig.

Viel zu tun.

Dr. L. fährt auf Urlaub. Abends Schuhe von Artmanns abgeholt.

Mir wurden häßliche Gedichte eingeschickt.


Dienstag, 15. Juli:

Nicht genug kann ich loben die neue Bürokraft, Frau Anni M., die Ruhe und Freundlichkeit verbreitet.

Tante fehlte im Büro: Sie hatte einen argen Nierenanfall erlitten. Mittags besuchte ich sie: Sie leidet sehr.

Abends regnete es. Tagsüber Korrespondenzen erledigt.

(U.a.: Kneis.)


Mittwoch, 16. Juli:

Regen.

Tante geht es schon besser.

Abends: steriler Brief von der Diem.


Donnerstag, 17. Juli:

Abends nach aufreibendem Büro Bažata-Besuch. (Nach sehr langer Zeit.)

Schöne Landschaft, wenn auch spätsommerlich. Wientalstraße mit ihrer Lichter-Allee, von weitem.


Freitag, 18. Juli:

Mehr und mehr Arbeit. Bauer von heute an auf Urlaub.

Szenen mit Huber.


19/20 7 52 Sa, So:

Versuche mit Prosa. Sogar die Wochenend-Ruhe entfällt.

Nichts gelingt.

Ich weiß nicht, ist die Prosa für mich wichtiger oder das Gedicht. Auf jeden Fall habe ich zu wenig Zeit, und die verbleibende Freizeit ist meistens wertlose Zeit.

Kein kam Sonntag vormittags. Ich konnte ihn nur geschwätzig langweilen.


Medea ist bis daher gut.


So 20 7 52 nm.:

Ich schrieb an Medea weiter: erhielt auf diese Weise acht Zeilen dazu.

Abends überkam mich die Erkenntnis, daß ich, solang die heutigen Bedingungen anhalten, allein bleiben werde.


Mo 21 7 52:

Aufheiterung im Wetter.


Di 22 7 52:

Begann, mich an französischen Geschäftsbriefen in dieser Sprache etwas zu üben.

Abends Vokabel gelernt.


Mi 23 7 52:

früh Sommeranzug gekauft. Strahlend heißer Tag. Am Wasser ist es sehr schön.

Büro wie immer.

Abends Vokabel gelernt.


Do 24 7 52:

Donnerstag, 24. Juli, fuhr ich um dreiviertel sechs Uhr abends auf der Strassenbahn vom Büro nach Hause.

Wie gewöhnlich, sah ich bei jedem Zeitungstand der einzelnen Stationen nach den Zeitungstiteln, da ich die Nummer 10 der "Stimme der Mitte" suchte, jener Zeitung, die auf Hans Weigel schimpft.

Ein Mädchen fuhr in meinem Waggon, die sehr schlecht aussah. In ihrer Nähe aber sass eine jüngere Frau, die in den "Salzburger Nachrichten" las und die ein Gesicht mit ausgeglichenen Zügen hatte. Ich dachte mir, es ist schön, wenn eine Frau in diesen Jahren so aussieht. Ich verfolgte weiter die Hypothese, ich sei ein Mann vom Film, der improvisierter Weise alles dreht, was ihn beeindruckt, und ich würde die Frau zu diesem Zweck ansprechen. Das würde sie möglicherweise übel nehmen. Nicht alle wollen gefilmt werden. Ich dachte: Ich kann sie ja äusserlich ein bisschen verändern, mit ein bisschen Maske und verändertem Mund und anderer Haartracht. Den vorangegangenen Gedanken hatte ich abgelehnt. Er hatte so gelautet: Ich kann sie schliesslich photographieren und nachträglich jemand anderen, der ihr ähnlich sieht, zu meinem Film heranziehen; jemand, der eher bereit ist zu drehen, als sie. Diesen Gedanken aber lehnte ich aus dem Grunde ab, wonach nicht die Aeusserlichkeit das Wichtigste an diesem Gefallen ist, sondern die Substanz, die sich im Aeusseren ausdrückt. Die würde im ersten Moment vielleicht, für mich, noch dasein, weil ich an die "Richtige" denken würde, dann aber zerflattern: der Ersatz würde den originalen Eindruck nicht länger bewahren können als meine Erinnerung das könnte. /Nachträgliche Variation: Meine Erinnerung wird ihn unter Umständen bewahren können, jetzt wenigstens, wo ich ihn ziemlich deutlich niedergeschrieben habe./

Sie würde sich also das Photographieren nicht gefallen lassen. Einige Verwandte würden sie, auch wenn sie von mir verändert werden würde, erkennen. Aber ich stelle mir vor, dass ich, gewandt, /als Filmmann, wie auf Karikaturen zu sehen/ sie überrede: "Sie dürfen wegen einiger Leute nicht DEM PUBLIKUM fehlen", oder "DER MENSCHHEIT", ich weiss nicht genau, wie ich sagen würde. Dann würde sie es vielleicht, etwas verwirrt über meine Exaltiertheit, zulassen.

Nicht aber ihr Mann: Der sass, wie ich jetzt erst bemerkte, neben ihr und las die Wochenausgabe der "Presse". Ich bemerkte, dass die beiden zusammengehörten, da sie ihm ihre Zeitung hinschob, was er aber abwies, worauf sie /sehr viel wissend .../ lächelte und weiterlas. Jetzt erst bemerkte ich Details wie ihre doch verbrauchte Gesichtshaut, mehrere Impfnarben auf ihrem Oberarm, Nagellack an den Fingern. Ich glaube, es liegt ganz an den Stimmungen oder der Gruppierung der Gegebenheiten, ob ein Gesicht, ob ein Mensch gefällt. Man müsste /sagt die Stimme in einem/ immer so leben, dass alles in der Umgebung schön ist.

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Als erstes war mir übrigens das Kleidmuster dieser Dame aufgefallen. Ich hatte es als eigentümlich und dabei angenehm empfunden. Dann hatte ich mir die Aufgabe gestellt, es präzis zu beschreiben. Leichter, als mein Pessimismus hinsichtlich meiner Leistungsfähigkeit angenommen hatte, war es gelungen. Das Kleid besteht aus Teilen eines senkrecht rot und weiss gestreiften Stoffes, auf dem schwarze Zeilen mit landwirtschaftlichen Darstellungen stehen. Die Streifen sind breit, die Zeilen sind durch zwei Linien gegeben, deren untere jeweils, alle zwei Zeilen abwechselnd, von einer Linie dicker schwarzer Punkte oder schwarzer Herzen untermalt ist. Diese Zusammenstellung variiert das alte Thema rot-weiss-schwarz wirklich originell. Ich denke nach, ob man die Schalheit durch Neues wirklich ausschalten kann, oder ob dies nur Augenblickswirkungen sind. Ich schliesse den Gedankengang aber optimistisch und sage, dass das Wesenhafte immer aus aller Schalheit hervorbrechen wird und dass weiters seine neuernde Wirkung nur die eine, äussere, Seite von ihm darstellt.

nach abschliessendem Bedauern, dass die Frau, mit der ich mich befasst hatte, so zwischen "Presse", "Salzburger Nachrichten" und einem Mann, wie er sich mir gegenüber ein bisschen manifestiert hatte, eingeklemmt sitzt - x ging ich zum schlecht aussehenden Mädchen hinüber.

Ich begutachtete ihre Kleidung und bedauerte das Fehlen eines gewissen persönlichen Geschmacks. Sie trug Blau und Rosa, die blaue Bluse aber bis zum Hals hinauf geschlossen und dies noch mit zwei Reihen silberglänzender Perlen fixiert. Ihr Gesicht war rund gebaut, aber mager, das Hervorstechende an ihr waren ihre Augen, die gross und sehr beweglich waren. Mir fielen die Ziegelteiche ein, die in der Umgebung von Wien liegen. Sonntag, wenn nichts dazwischen kommt, fahre ich mit Polakovics nach Oberlaa, vielleicht sehe ich welche. Ein Mädchen aus Oberlaa fiel mir ein, das ich gekannt hatte, und dessen etwas dumpfes Wesen einen immer wiederkehrenden Typ darstellt. Feindlichkeit von Typusglauben und Persönlichkeitsglauben. Die Persönlichkeit ist natürlich zuletzt das Entscheidende, und alles bloss Typische tritt in den Schatten.

Was sollte ich antworten, wenn ich nach dem Alter des Mädchens von der Stadtbahn gefragt würde? Ich beschloss anfangs, "25" zu sagen. Es war eine Zeitlose. Dann sah ich ihr wiederholt in die Augen und beobachtete das kaum sichtbare Zucken im Profil. Kann man sie zeitlos nennen? Es schien mir viel wahrscheinlicher, dass sie achtzehn oder siebzehn Jahre alt war.

In zunehmendem Masze gefiel sie mir, und ich verglich diese neue Beobachtung eines stetig sich wandelnden Eindruckes mit der Beobachtung vorhin an der jungen Frau.

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Bei der Haltestelle "Meidling Hauptstrasse" wurden wir getrennt. Ich dachte flüchtig, als die Leute anstürmten: "Das ist ein feindlicher Ueberfall." /Bei dieser Haltestelle steigen nämlich die Leute von der anderen als der gewohnten Wagenseite zu, und wer bisher Rückendeckung hatte, steht nun in allererster Front./

Ich vergnügte mich ein bisschen: das obligate Schimpfen. Der übliche Gedanke: Was wirst du im nächsten Moment antworten, wenn du angegriffen wirst? Warum das Stadtbahnpublikum so soldatisch ist.

Das Mädchen wurde mir hierbei verdeckt. Wenn sie an mir Gefallen gefunden hat, wird sie jetzt denken: Warum ist er so klein, dass er die Leute nicht überragt.

Ich nahm mir vor, bei der Haltestelle Hietzing nach ihr zu sehen. Aber das Publikum bedrängte mich so, dass ich, ohne in die Fleischmaschine zu kommen, nicht wenden konnte und äusserlich sicher, aber auf den Geh-Rhythmus bedacht wie ein Seiltänzer auf sein Gleichgewicht, die Stadtbahnstufen hinaufging. Das Mädchen geriet dadurch in Verlust, und ich fand sie auch nicht mehr, als ich auf der Hietzinger Brücke das erste Mal wieder um mich sehen konnte.

Ich stieg in die Strassenbahn Linie Zehn und suchte in einer geschmacklosen Blauen noch einmal das Mädchen von vorhin. Sie war es jedoch nicht. Dafür lehnte ein Mädchen am Ausgang der Plattform, die mir weit weniger gefiel, aber ganz jung war. Hinter mir war ein Fenster offen, sodass der etwas kalte Juliwind hereinwehte. Ein Bursch mit grossen Händen lehnte symmetrisch zu ihr an der anderen Plattformtür. Ich dachte "grosse Hände haben immer den Vorzug". Als er ausstieg, wandte ich mich um und sah zum Plattformfenster hinaus. /Habe ich das seinetwegen vorhin nicht getan?/ Ich freute mich an meiner Ruhe und Fahrgeduld und sah rückwärtsschauend die Gloriette und von Schönbrunn her viele Autos und Motorräder. Beim Gloriette-Kino auf der Linzerstrasse ärgerte ich mich wie immer über die dort ausnahmslos laufenden "Reisser"-Filme und parodierte dann: "Der Mörder sah ... Filme" /Dreisilbiges Wort. "amerikanische" geht leider nicht, das hat sechs Silben. "englische" trifft nicht zu. Man kann es umgekehrt machen und einen Amerikaner diesen Satz sprechen lassen, der lautet dann: "Der Mörder sah russische Filme." Damit wäre die Charakterisierung eines amerikanischen Spiessers gegeben, die Substanz aber hätte sich verändert, und nur noch das Wortspiel hätte sich herübergerettet. Darum gab ich die Idee auf./

Unter den jungen Leuten, die sich vor dem Kino herumtrieben, sah ich übrigens auch einen typischen jungen Intelligenzler mit schwarzer Brille und ziemlich rund gebautem Gesicht. Also ein Verstoss gegen die Typenlehre des Gloriette-Kinos.

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Das Mädchen stieg aus, stellte sich dann in ein Haustor, das mir von früher in Erinnerung ist, und stand dort zwei Burschen gegenüber. Die wurden mir im gleichen Moment unsympathisch, und ich sah die ganze Szene als feindliche an. Ich gab mir darüber Rechenschaft: Wenn jemand ein Mädchen, das er gar nicht begehrt, plötzlich mit anderen Männern beisammensieht, rührt der entstehende instinktive Aerger von der Hypothese, dass "alles schon vergeben sei", selbst das, was in der Peripherie seines Geschmacks oder Gefühles liegt. An Hand einer kleinen Erzählung könnte man darüber eine der "fünfzig Kurzgeschichten" schreiben, die sich mit Mädchen und Männern befassen. /Ich habe bisher zwei solcher Kurzgeschichten geschrieben, Polakovics aber hat verlangt, ich müsse die fünfzig voll machen./

Die Reinlgasse hinauf. Während dieser Strecke befasste ich mich teils abstrakt mit dem Thema "Die Kurzgeschichte", teils ärgerte ich mich über den Pissoirgeruch aus der katholischen Kirche oder dem Pfarrheim in der Reinlgasse. Nur dieser Geruch und noch der Leichengeruch entlang dem Wilhelminenspital "beleidigen" richtig die Nase.

Vor einer Konditorei in der Breitenseerstrasse stand ein Lieferwagen. Die Läden des Geschäftes waren aber schon heruntergelassen. Ich überlegte, ob das Auto wohl die ganze Nacht dort stehen würde. Ich weiss nicht, ob für Kaugummi oder Toiletteartikel auf der Seitenwand des Autos Reklame gemacht wurde; wenn ich mich recht zurückerinnere, habe ich vor einigen Tagen etwas wie Kau..mi gelesen.

Artmann, an dessen Wohnung ich in einiger Entfernung vorüberfuhr, ist in der Schweiz, dachte ich, und meldet sich nicht.

Ein Invalider, Mann mit einem Bein, sprang auf die Strassenbahn, knapp bevor sie abfuhr. Ich schaute ihn absichtlich nur kurz an, um ihm nicht wehzutun. Gleichzeitig dachte ich bei mir: Ich will ihm nichts Böses. Ich will Ihnen nichts Ekelhaftes, ich möchte nur denen, die Sie in diese Lage gebracht haben, ein Bein in kleinen Würfelchen herunterschneiden. Wenn ich sage, in Kubikzentimetern, klingt es unanschaulich. Wie müsste man das tun? Zuerst einen Raster ziehen: Längsschnitte, Querschnitte, endlich jedes Quadrat mit dem Messer untergreifen und das Würfelchen herausheben. Dann verlor ich mich in den Gedanken, wer die Schuldigen sind.

Auf dem J.-Platz, nahe dem sie bauen /vormittags fiel mir ein: ich müsste längere Zeit auf dem Bauplatz arbeiten/, versperrten mir mehrere Strassenbahnzüge den Durchlauf. Als die Bahn frei wurde, rannte ich zum wartenden 47-er und sprang auf. Ich liess zuvor einen älteren Mann, Siedler aus einem der Gärten dieser Strecke, aufsteigen, der laut in ein grosses Taschentuch geniest hatte.

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Ich schlug zwischen mir und einem sehr lackierten Mädchen, das mit einem jungen Mann auf der Plattform stand, die Tür aus dem Innenraum der Strassenbahn zu.

Die Schaffnerin war von grossem Volumen. Ich dachte: Wenn die einen schmalen Mann daheim hat, muss das seine traurigen Gründe haben.

Dann sah ich, vom trüb gelben Licht sehr bald eingeschläfert, nur noch das Holzmuster der Bänke in der Strassenbahn.

/1952/


Sa 26 Juli:

Freier Samstag.

Ausmisten für die kommende Übersiedlung.

Seit gestern regnerisch und kalt.

Abends die Laaer Geschichte versucht.


So 27 Juli:

Nach vergeblichen quälenden Schreibversuchen bis Mittag (das Wetter hellte sich auf) besuchte mich Polakovics mit Maja.

Ich lernte eine nicht uninteressante Regel kennen.

Polakovics und Maja sind sehr liebe Menschen.

Irgendwie Heimweh nach der Möglichkeit, B. K. als Mädchen zu finden.


Mo, 28. Juli:

Besonders anstrengender Tag.


Di, 29. Juli:

Abends Post vom "ophir".

Kalkuliert, ziemlich bald niedergelegt. (Vm. Regen, nm. schön, ab. aber sehr kühl.)


Mi, 30. Juli:

Diese Woche fahre ich auf einer anderen Linie zum Büro. (46, E2).

Viel Arbeit.


Do, 31. Juli:

Abends zu Polakovics. Angenehm. Deutsche Einsendungen gesehen; dort sind die Dilettanten noch häßlicher als die hiesigen.

Im Radio internationale Friedenslyrik gehört. Nur ein Grieche und Neruda klangen echt. Hermlin enttäuschte mich. Jandl-Gedichte gesehen: Odysseus 2 gefiel mir besonders, auch Gasthausszene Rucksackgedicht ist eigentümlich, nicht reizlos.

Gab Pol und Maja mein Bändchen-Manuskript (1949/50) zum Lesen und Begutachten.

Abends im 47-er ein Betrunkener.


Fr, 1. August:

Fini Pobisch fuhr für länger aufs Land (Mamas Freundin).

Mama begleitete sie zum Bahnhof.

Heute früh wieder ein Gedicht-Einfall. Hatte aber keine Zeit. (Ingeborg).


Sa, 2. August:

Nach dem Büro ausgeruht.

Abends zu Hakel. (War von ihm eingeladen worden.)

Abende bei ihm sind sehr anregend. Ich verzichte absichtlich, hier darüber zu berichten. (Habe 5 Minuten noch Zeit vor der Abfahrt ins Büro [Es ist Montag, 8h.] ...)

Auf der Straßenbahn, Kopf zum Plattformfenster hinaus, fast die gleiche Szene wie neulich nach Jirgal. Erhitzte Tänzerinnen, sehr geschminkt und besoffen, aus einem Vororte-Tanzsaal, diesmal mit zwei Männern. Einer in dunkelm Anzug und mit Hut (+20° Hitze), mit sonorer Stimme, war, wie ich hörte, der Mann von L. K., die auch auf der Plattform stand. Er sagte: "Die Kinder wer'n ei'gspirrt, dann mach ma a wüste Li-i-i- beees-naaacht". (L. K. hatte ich seinerzeit geliebt und seither nicht gesehn.)

Zu Hause 23 Uhr 15.


So, 3. August:

Unausgeschlafen von gestern.

Expressionisten-Anthologie, von Hakel entliehen, gelesen.

Kein kam. Ergebnisreichere Gespräche, Wiese über der Dehnegasse, Sonne scheinte, Himmel wolken los.

Nachmittag vergeblich "Medea". Hoffe aber, aus einer Sackgasse herauszufinden.

Persönliche Situation. Ich kenne jetzt, buchstäblich, kein Mädchen, die ich gerne hätte.


Tagebuch

1952

AOk

2  60

Tagebuch

von Sa 28.6.1952

bis ... So 3.8.1952

Samstag,
28.6.52:

Bürofrei.

Vormittag Wäsche geholt
von der Linzerstraße
und dann Ordnungen
gemacht.

Leicht bewegter
Vormittag.

Nachmittags gründlich
ausgeruht, mit
leichtem Schwindel-
gefühl. Ich bin
möglicherweise
überarbeitet.


Sonntag,
29.6.52:

Fast unbewölkter
Vormittag. Auf der
Wiese gelegen, mit
Kein und Gedichten
von Benn, und
verschiedenem anderen.
Erzählte Kein auch
von Brigitte Kahr.

Bin etwas müde.
"Komisches Land."

Habe die Abtreibungs-
geschichte
, die preis-
gekrönte, von Aichinger
im Sam Bändchen der Weigel-Serie
vorgefunden.

Nicht besonders
angeregt.

Gegen Nachmittag
wurde es wolkiger
und kühler.

Reinschriften,
Auslese in alten
Gedichten gehalten.

Lebhaft am Abend.
Wünsche die nun
wieder nirgends
hinführen.

Nachts träumte ich von
Hilde Schinko. Ich
erwartete sie im obersten
Stockwerk eines Hauses.


Montag,
30.6.52:

Ich kam im Büro darauf,
daß heute der letzte
Junitag ist.

Huber erschien wieder
im Büro, nach zwei
Wochen Urlaub,
verregnetem Camping.

Schwüler Tag, aber
es freut einen, daß
es nun wenigstens sommer-
lich ist.

Cysarz 20.-, 1. Wm.


Dienstag,
1. Juli 52:

Heißer Tag.

Nach dem Büro
angenehmer Abend.


Mittwoch,
2. Juli:

"Hundstag-" Hitze.
Abends wieder sehr
schön.


Donnerstag,
3. Juli:

Wahnsinnig heiß.
Viel Arbeit. Müde.
Behördliche Schwie-
rigkeiten im Büro.
Idee: Medea.


Freitag,
4. Juli:

Nach anstrengendem
Tag abends zu
Weltsch in den
Garten. Er erzählte
uns von seiner
Barettmacher-Karriere
am Theater.

Sehr ermüdet heim.


Samstag,
5. Juli:

Bei anhaltender
Hitze, nachmittags
noch steigender,
den Tag verbracht.

Schrieb nachmittags
(+41°), in einem
Lavoir plantschend,
an der "Medea"
weiter.


Sonntag,
6. Juli:

Mit Kein an den Wien-
fluß
gesetzt. Dort
Gedichte von Ringelnatz
kennengelernt. Er
ist menschlich bezogener
als verschiedene
Wortspieler, sogar
unmittelbarer hierin
als Morgenstern.

(Einstweilen letzte
Zusammenkunft
mit Kein. Er fährt
auf Urlaub.)

Nachmittag kam niemand.
Sengende Hitze.

Ich schrieb nahe dem
Fenster an der "Medea"
weiter.


Montag,
7.7.52:

Hitze.

Nach dem Büro zu
Artmann: Er war
schon in die Schweiz
gefahren, mit Esther.
Seine Mutter erzählte
mir viel von ihm.

Fensterscheiben.

Verschiedene Kor-
respondenz und
Anrufe; vom Jandl
für Donnerstag
eingeladen worden.


Dienstag,
8. Juli:

Früh hatte ich noch
Zeit für eigene Arbeiten.
Diese Woche wird
bewegter.

Abends zu Matejka.
Über "moderne
Kunst" gesprochen.
Er lieh mir die
"polit. Gedichte"
von Paul Eluard.

Danach zu den jungen
Polakovics', in deren
neue Wohnung.

Brunnengasse, ein Neubau,
5. Stock. Sehr angenehmer
Eindruck. Einige
Möbelstücke aus natur-
farbenem Holz,
Küche modern, Radio.
Vor einem Jahr, wie
er sagt, war noch gar
nichts da, auch
noch nicht die
Frau.

Viel gesprochen.
Vor allem: über
Volkstümlichkeit und Kitsch.


Mittwoch,
9. Juli:

Die polit. Gedichte von
Eluard haben in mir
einen Eindruck hin-
terlassen.

Wieder ein sehr
heißer Tag.

1600.- (1 1/2 Gehälter)
ausbezahlt bekommen
Entschädigung für die
Überbeanspruchung der Angestellten.

(Von Dr. Machwitz, einer
maßlosen Person,
erkämpft.)

Angenehmer Abend.


Donnerstag,
10. Juli:

Einer der anstrengend-
sten Tage im Büro.

Danach (und immer
wieder Hitze) in
den Art Club, wo
ich Jandl treffen wollte. Art Club geschlossen.

Die Bar-Damen aus dem
gleichen Haus ließen
mich trotzdem dort
warten. Jandl kam,
weniger extrem als
ich angenommen hatte,
weniger extrem als
zum Beispiel Raimund
Ferra
.

Volksgarten, neue
Gedichte (gute),
Innere Stadt (ödeste
Gegend der Welt,
Stephansplatz),
Stadtpark: beim Fluß
gesessen.

Jandl fährt schon im
August auf ein Jahr
nach England.
Sonntag, 10. August,
kommt er noch einmal
zu mir heraus.

Kurioser Brief
abends aus Kanada.


Freitag,
11. Juli:

Viel Arbeit.

Nach dem Büro zu
Artmanns. Trug
Schuhe zur Reparatur
dorthin.


Samstag,
12. Juli:

Nachmittags für mich
gearbeitet. Dann
besoffener Abend
mit Tante und
Frau Fini Pobisch
(zufällig gekommen). Produktion wieder
gelähmt.


Sonntag,
13. Juli:

Wieder etwas trüb.
Leichte Anzeichen von
Katzenjammer.
Ordnungen, nach-
mittag abgequält
mit Medea.


Montag,
14. Juli:

Früh noch genug Zeit.
Ich müßte freier sein,
um mehr arbeiten zu
können, oder
literarisch unter
Druck stehen. So
brav ich schreiben
will, werde ich doch
leicht träge, da
sich konkret niemand
drum schert, wenn
ich nichts hervorbring.
Die abstrakte "Mensch-
heit" ist nicht immer
gegenwärtig.

Viel zu tun.

Dr. L. fährt auf Urlaub.
Abends Schuhe von Artmanns
abgeholt.

Mir wurden häßliche
Gedichte eingeschickt.


Dienstag,
15. Juli:

Nicht genug kann ich
loben die neue Büro-
kraft., Frau Anni M.,
die Ruhe und
Freundlichkeit ver-
breitet.

Tante fehlte im Büro:
Sie hatte einen argen
Nierenanfall erlitten.
Mittags besuchte ich sie:
Sie leidet sehr.

Abends regnete es.
Tagsüber Korrespon-
denzen erledigt.

(U.a.: Kneis.)


Mittwoch,
16. Juli:

Regen.

Tante geht es schon
besser.

Abends: steriler
Brief von der Diem.


Donnerstag,
17. Juli:

Abends nach
aufreibendem Büro
Bažata-Besuch.
(Nach sehr langer Zeit.)

Schöne Landschaft,
wenn auch spätsommer-
lich. Wientalstraße
mit ihrer Lichter-Allee,
von weitem.


Freitag,
18. Juli:

Mehr und mehr Arbeit.
Bauer von heute an
auf Urlaub.

Szenen mit Huber.


19/20 7 52
Sa, So:

Versuche mit
Prosa. Sogar die
Wochenend-Ruhe
entfällt.

Nichts gelingt.

Ich weiß nicht,
ist die Prosa für
mich wichtiger
oder das Gedicht.
Auf jeden Fall
habe ich zu wenig
Zeit, und die
verbleibende Freizeit
ist meistens
wertlose Zeit.

Kein kam Sonntag
vormittags. Ich
konnte ihn nur
geschwätzig lang-
weilen.


Medea ist bis daher
gut.


So 20 7 52
nm.:

Ich schrieb an Medea
weiter: erhielt auf
diese Weise acht
Zeilen dazu.

Abends überkam mich
die Erkenntnis, daß
ich, solang diese heutigen
Bedingungen anhalten,
allein bleiben werde.


Mo 21 7 52:

Aufheiterung im Wetter.


Di 22 7 52:

Begann, mich an franzö-
sischen Geschäftsbriefen
in dieser Sprache
etwas zu üben.

Abends Vokabel gelernt.


Mi 23 7 52:

früh Sommeranzug gekauft.
Strahlend heißer Tag.
Am Wasser ist es sehr
schön.

Büro wie immer.

Abends Vokabel gelernt.


Do 24 7 52:

Donnerstag, 24. Juli, fuhr ich um dreiviertel sechs Uhr
abends auf der Strassenbahn vom Büro nach Hause.

Wie gewöhnlich, sah ich bei jedem Zeitungstand der einzelnen
Stationen nach den Zeitungstiteln, da ich die Nummer 10
der "Stimme der Mitte" suchte, jener Zeitung, die auf Hans
Weigel
schimpft.

Ein Mädchen fuhr in meinem Waggon, die sehr schlecht aussah.
In ihrer Nähe aber sass eine jüngere Frau, die in den
"Salzburger Nachrichten" las und die ein Gesicht mit ausge-
glichenen Zügen hatte. Ich dachte mir, es ist schön, wenn
eine Frau in diesen Jahren so aussieht. Ich verfloolgte weiter
die Hypothese, ich sei ein Mann vom Film, der improvisierter
Weise alles dreht, was ihn beeindruckt, und ich würde die Frau
zu diesem Zweck ansprechen. Das würde sie möglicherweise
übel nehmen. Nicht alle wollen gefilmt werden. Ich dachte:
Ich kann sie ja äusserlich ein bisschen verändern, mit ein
bisschen Maske und verändertem Mund und anderer Haartracht.
Den vorangegangenen Gedanken hatte ich abgelehnt. Er hatte
so gelautet: Ich kann sie schliesslich photographieren und
nachträglich jemand anderen, der ihr ähnlich sieht, zu meinem
Film heranziehen; jemand, der eher bereit ist zu drehen, als
sie. Diesen Gedanken aber lehnte ich aus dem Grunde ab,
wonach nicht die Aeusserlichkeit das Wichtigste an diesem
Gefallen ist, sondern die Substanz, die sich im Aeusseren
ausdrückt. Die würde im ersten Moment vielleicht, für mich,
noch dasein, weil ich an die "Richtige" denken würde, dann
aber zerflattern: der      Ersatz würde den originalen Eindruck
nicht länger bewahren können als meine Erinnerung das könnte.
/Nachträgliche Variation: Meine Erinnerung wird ihn unter
Umständen bewahren können, jetzt wenigstens, wo ich ihn ziemlich
deutlich niedergeschrieben habe./

Sie würde sich also das Photographieren nicht gefallen lassen.
Einige Verwandte würden sie, auch wenn sie von mir verändert
werden würde, erkennen. Aber ich stelle mir vor, dass ich,
gewandt, /als Filmmann, wie auf Karikaturen zu sehen/ sie
überrede: "Sie dürfen wegen einiger Leute nicht DEM PUBLIKUM
fehlen", oder "DER MENSCHHEIT", ich weiss nicht genau, wie ich
sagen würde. Dann würde sie es vielleicht, etwas verwirrt über
meine Exaltiertheit, zulassen.

Nicht aber ihr Mann: Der sass, wie ich jetzt erst bemerkte,
neben ihr und las die Wochenausgabe der "Presse". Ich bemerkte,
dass die beiden zusammengehörten, da sie ihm ihre Zeitung
hinschob, was er aber abwies, worauf sie /sehr viel wissend .../
lächelte und weiterlas. Jetzt erst bemerkte ich Details wie ihre
doch verbrauchte Gesichtshaut, mehrere Impfnarben auf ihrem
Oberarm, Nagellack an den Fingern. Ich glaube, es liegt ganz
an den Stimmungen oder der Gruppierung der Gegebenheiten,
ob ein Gesicht, ob ein Mensch gefällt. Man müsste /sagt die
Stimme in einem/ immer so leben, dass alles in der Umgebung
schön ist.

2
2

Als erstes war mir übrigens das Kleidmuster dieser Dame
aufgefallen. Ich hatte es als eigentümlich und dabei
angenehm empfunden. Dann hatte ich mir die Aufgabe gestellt,
es präzis zu beschreiben. Leichter, als mein Pessimismus
hinsichtlich meiner Leistungsfähigkeit angenommen hatte,
war es gelungen. Das Kleid besteht aus Teilen eines
senkrecht rot und weiss gestreiften Stoffes, auf dem
schwarze Zeilen mit landwirtschaftlichen Dar-
stellungen stehen. Die Streifen sind breit, die Zeilen sind
durch zwei Linien gegeben, deren untere jeweils, alle zwei
Zeilen abwechselnd, von einer Linie dicker schwarzer Punkte
oder schwarzer Herzen untermalt ist. Diese Zusammenstellung
variiert das alte Thema rot-weiss-schwarz wirklich originell.
Ich denke nach, ob man die Schalheit durch Neues wirklich
aussechalten kann, oder ob dies nur Augenblickswirkungen
sind. Ich schliesse den Gedankengang aber optimistisch
und sage, dass das Wesenhafte immer aus aller Schalheit
hervorbrechen wird und dass weiters seine neuernde Wirkung
nur die eine, äussere, Seite von ihm darstellt.

Mit diesen Gedanken ging ich - nach abschliessendem Bedauern,
dass die Frau, mit der ich mich befasst hatte, so zwischen
"Presse", "Salzburger Nachrichten" und einem Mann, wie er sich
mir gegenüber ein bisschen manifestiert hatte, eingeklemmt
sitzt - x ging ich zum schlecht aussehenden Mädchen hinüber.

Ich begutachtete ihre Kleidung und bedauerte das Fehlen
eines gewissen persönlichen Geschmacks. Sie trug Blau und
Rosa, die blaue Bluse aber bis zum Hals hinauf geschlossen
und dies noch mit zwei Reihen silberglänzender Perlen
fixiert. Ihr Gesicht war rund gebaut, aber mager, das Hervor-
stechende an ihr waren ihre Augen, die gross und sehr
beweglich waren. Mir fielen die Ziegelteiche ein, die in der
Umgebung von Wien liegen. Sonntag, wenn nichts dazwischen
kommt, fahre ich mit Polakovics nach Oberlaa, vielleicht
sehe ich welche. Ein Mädchen aus Oberlaa fiel mir ein, das ich
gekannt hatte, und dessen etwas dumpfes Wesen einen immer
wiederkehrenden Typ darstellt. Feindlichkeit von Typusglauben
und Persönlichkeitsglauben. Die Persönlichkeit ist natürlich
zuletzt das Entscheidende, und alles bloss Typische tritt
in den Schatten.

Was sollte ich antworten, wenn ich nach dem Alter des Mädchens
von der Stadtbahn gefragt würde? Ich beschloss anfangs,
"25" zu sagen. Es war eine Zeitlose. Dann sah ich ihr wiederholt
in die Augen und beobachtete das kaum sichtbare Zucken im Profil.
Kann man sie zeitlos nennen? Es schien mir viel wahrschein-
licher, dass sie achtzehn oder siebzehn Jahre alt war.

In zunehmendem Masze gefiel sie mir, und ich verglich diese
neue Beobachtung eines stetig sich wandelnden Eindruckes
mit der Beobachtung vorhin an der jungen Frau.

3
3

Bei der Haltestelle "Meidling Hauptstrasse" wurden wir
getrennt. Ich dachte flüchtig, als die Leute anstürmten:
"Das ist ein feindlicher Ueberfall." /Bei dieser Haltestelle
steigen nämlich die Leute von der anderen als der gewohnten
Wagenseite zu, und wer bisher Rückendeckung hatte, steht nun
in allererster Front./

Ich vergnügte mich ein bisschen: das obligate Schimpfen.
Der übliche Gedanke: Was wirst du im nächsten Moment ant-
worten, wenn du ang        egriffen wirst? Warum das Stadtbahn-
publikum so soldatisch ist.

Das Mädchen wurde mir hierbei verdeckt. Wenn sie an mir
Gefallen gefunden hat, wird sie jetzt denken: Warum ist er
so klein, dass er die Leute nicht überragt.

Ich nahm mir vor, bei der Haltestelle Hietzing nach ihr zu
sehen. Aber das Publikum bedrängte mich so, dass ich, ohne
in die Fleischmaschine zu kommen, nicht wenden konnte und
äusserlich sicher, aber auf den Geh-Rhythmus bedacht wie ein
Seiltänzer auf sein Gleichgewicht, die Stadtbahnstufen
hinaufging. Das Mädchen geriet dadurch in Verlust, und ich
fand sie auch nicht mehr, als ich              auf der Hietzinger Brücke
das erste Mal wieder um mich sehen konnte.

Ich stieg in die Strassenbahn Linie Zehn und suchte
in einer geschmacklosen Blauen noch einmal das Mädchen
von vorhin. Sie war es jedoch nicht. Dafür lehnte ein
Mädchen am Ausgang der Plattform, die mir weit weniger gefiel,
aber ganz jung war. Hinter mir war ein Fenster offen, sodass
der etwas kalte Juliwind hereinwehte. Ein Bursch mit grossen

Händen lehnte symmetrisch zu ihr an der anderen Plattformtür.
Ich dachte "grosse Hände haben immer den Vorzug". Als er
ausstieg, wandte ich mich um und sah zum Plattformfenster
hinaus. /Habe ich das seinetwegen vorhin nicht getan?/
Ich freute mich an meiner Ruhe und Fahrgeduld und sah rück-
wärtsschauend die Gloriette und von Schönbrunn her viele Autos

und Motorräder. Beim Gloriette-Kino auf der Linzerstrasse
ärgerte ich mich wie immer über die dort ausnahmslos laufenden
"Reisser"-Filme und parodierte dann: "Der Mörder sah ...
Filme" /Dreisilbiges Wort. "amerikanische" geht leider nicht,
das hat sechs Silben. "englische"       trifft nicht zu. Man kann
es umgekehrt machen und einen Amerikaner diesen Satz sprechen
lassen, der lautet dann: "Der Mörder sah russische Filme."
Damit wäre die Charakterisierung eines amerikanischen Spiessers
gegeben, die Substanz aber hätte sich verändert, und nur noch
das Wortspiel hätte sich herübergerettet. Darum gab ich die
Idee auf./

Unter den jungen Leuten, die sich vor dem Kino herumtrieben,
sah ich übrigens auch einen typischen jungen Intelligenzler
mit schwarzer Brille und ziemlich rund gebautem Gesicht.
Also ein Verstoss gegen die Typenlehre des Gloriette-Kinos.

4
4

Das Mädchen stieg aus, stellte sich dann in ein Haustor,
das mir von früher in Erinnerung ist, und stand dort zwei
Burschen gegenüber. Die wurden mir im gleichen Moment unsym-
pathisch, und ich sah die ganze Szene als feindliche an.
Ich gab mir darüber Rechenschaft: Wenn jemand ein Mädchen,
das er gar nicht begehrt, plötzlich mit anderen Männern bei-
sammensieht, rührt der entstehende instinktive Aerger von der
Hypothese, dass "alles schon vergeben sei", selbst das, was
in der Peripherie seines Geschmacks oder Gefühles liegt.
An Hand einer kleinen Erzählung könnte man darüber eine
der "fünfzig Kurzgeschichten" schreiben, die sich mit Mädchen
und Männern befassen. /Ich habe bisher zwei solcher Kurz-
geschichten
geschrieben, Polakovics aber hat verlangt, ich
müsse die fünfzig voll machen./

Die Reinlgasse hinauf. Während dieser Strecke befasste ich
mich teils abstrakt mit dem Thema "Die Kurzgeschichte",
teils ärgerte ich mich über den Pissoirgeruch aus der
katholischen Kirche oder dem Pfarrheim in der Reinlgasse.
Nur dieser Geruch und noch der Leichengeruch entlang dem
Wilhelminenspital "beleidigen" richtig die Nase.

Vor einer Konditorei in der Breitenseerstrasse stand ein
Lieferwagen. Die Läden des Geschäftes waren aber schon her-
untergelassen. Ich überlegte, ob das Auto wohl die ganze
Nacht dort stehen würde. Ich weiss nicht, ob für Kaugummi oder
Toiletteartikel auf der Seitenwand des Autos Reklame gemacht
wurde; wenn ich mich recht zurückerinnere, habe ich vor einigen
Tagen etwas wie Kau..mi gelesen.

Artmann, an dessen Wohnung ich in einiger Entfernung vorüber-
fuhr, ist in der Schweiz, dachte ich, und meldet sich nicht.

Ein Invalider, Mann mit einem Bein, sprang auf die Strassenbahn,
knapp bevor sie abfuhr. Ich schaute ihn absichtlich nur kurz
an, um ihm nicht wehzutun. Gleichzeitig dachte ich bei mir:
Ich will ihm nichts Böses. Ich will Ihnen nichts Ekelhaftes,
ich möchte nur denen, die Sie in diese Lage gebracht haben,
ein Bein in kleinen Würfelchen herunterschneiden. Wenn ich
sage, in Kubikzentimetern, klingt es unanschaulich. Wie müsste
man das tun? Zuerst einen Raster ziehen: Längsschnitte,
Querschnitte, endlich jedes Quadrat mit dem Messer unter-
greifen und das Würfelchen herausheben. Dann verlor ich mich
in den Gedanken, wer die Schuldigen sind.

Auf dem J.-Platz, nahe dem sie bauen /vormittags fiel mir ein:
ich müsste längere Zeit auf dem Bauplatz arbeiten/, versperrten
mir mehrere Strassenbahnzüge den Durchlauf. Als die Bahn
frei wurde, rannte ich zum wartenden 47-er und sprang auf.
Ich liess zuvor einen älteren Mann, Siedler aus einem der
Gärten dieser Strecke, aufsteigen, der laut in ein grosses
Taschentuch geniest hatte.

5
5

Ich schlug zwischen mir und einem sehr lackierten Mädchen,
das mit einem jungen Mann auf der Plattform stand, die Tür
aus dem Innenraum der Strassenbahn zu.

Die Schaffnerin war von grossem Volumen. Ich dachte:
Wenn die einen schmalen Mann daheim hat, muss das seine
traurigen Gründe haben.

Dann sah ich, vom trüb gelben Licht sehr bald eingeschläfert,
nur noch das Holzmuster der Bänke in der Strassenbahn.

/1952/


Sa 26 Juli:

Freier Samstag.

Ausmisten für die
kommende Übersiedlung.

Seit gestern regnerisch
und kalt.

Abends die Laaer
Geschichte
versucht.


So 27 Juli:

Nach vergeblichen
quälenden Schreib-
versuchen bis Mittag
(das Wetter hellte
sich auf) besuchte
mich Polakovics
mit Maja.

Ich lernte eine
nicht uninteressante
Regel kennen.

Polakovics und
Maja sind sehr
liebe Menschen.

Irgendwie Heimweh
nach der Möglichkeit,
B. K. als Mädchen
zu finden.


Mo, 28. Juli:

Besonders anstrengender
Tag.


Di, 29. Juli:

Abends Post vom
"ophir".

Kalkuliert, ziemlich
bald niedergelegt.
(Vm. Regen, nm.
schön, ab. aber
sehr kühl.)


Mi, 30. Juli:

Diese Woche fahre
ich auf einer anderen Linie zum Büro.
(46, E2).

Viel Arbeit.


Do, 31. Juli:

Abends zu Polakovics.
Angenehm. Deutsche
Einsendungen gesehen;
dort sind die Dilettanten
noch häßlicher als
die hiesigen.

Im Radio internationale
Friedenslyrik gehört.
Nur ein Grieche
und Neruda klangen
echt. Hermlin
enttäuschte mich. Jandl-Gedichte gesehen:
Odysseus 2 gefiel
mir besonders,
auch Gasthausszene
Rucksack-
gedicht
ist eigentümlich,
nicht reizlos.

Gab Pol und Maja
mein Bändchen-
Manuskript
(1949/50)
zum Lesen und
Begutachten.

Abends im 47-er
ein Betrunkener.


Fr, 1. JAugust:

Fini Pobisch fuhr
für länger aufs
Land (Mamas
Freundin).

Mama begleitete
sie zum Bahnhof.

Heute früh wieder
ein Gedicht-Einfall.
Hatte aber keine
Zeit. (Ingeborg).


Sa, 2. August:

Nach dem Büro
ausgeruht.

Abends zu Hakel.
(War von ihm einge-
laden worden.)

Abende bei ihm
sind sehr anregend.
Ich verzichte
absichtlich, hier darüber
zu berichten.
(Habe 5 Minuten
noch Zeit vor der
Abfahrt ins Büro
[Es ist Montag., 8h.] ...)

Auf der Straßenbahn,
Kopf zum Plattform-
fenster hinaus,
fast die gleiche Szene
wie neulich nach
Jirgal. Erhitzte
Tänzerinnen, sehr
geschminkt und
besoffen, aus einem
Vororte-Tanzsaal,
diesmal mit
zwei Männern.
Einer in dunkelm
Anzug und mit
Hut (+20° Hitze),
mit sonorer Stimme,
war, wie ich hörte,
der Mann von L. K., die auch auf der
Plattform stand. Er
sagte: "Die Kinder
wer'n ei'gspirrt,
dann mach ma
a wüste Li-i-i-
beees-naaacht".
(L. K. hatte ich
seinerzeit geliebt
und seither nicht
wieder gesehn.)

Zu Hause 23 Uhr 15.


So, 3. August:

Unausgeschlafen
von gestern.

Expressionisten-
Anthologie, von
Hakel au
entliehen,
gelesen.

Kein kam.
Ergebnisreichere
Gespräche,
Wiese über
der Dehnegasse,
Sonne scheinte,
Himmel wolken-
los.

Nachmittag vergeblich
"Medea". Hoffe
aber, aus einer
Sackgasse heraus-
zufinden.

Persönliche Situation:.
Ich kenne jetzt,
buchstäblich, kein
Mädchen, die ich
gerne hätte.


Zitiervorschlag

Okopenko, Andreas: Tagebuch 28.06.1952–03.08.1952. Digitale Edition, hrsg. von Roland Innerhofer, Bernhard Fetz, Christian Zolles, Laura Tezarek, Arno Herberth, Desiree Hebenstreit, Holger Englerth, Österreichische Nationalbibliothek und Universität Wien. Wien: Version 1.1, 15.1.2019. URL: https://edition.onb.ac.at/okopenko/o:oko.tb-19520628-19520803/methods/sdef:TEI/get?mode=p_1

Lizenzhinweis

Die Transkriptionen der Tagebücher sind unter CC BY-SA 4.0 verfügbar. Weitere Informationen entnehmen Sie den Lizenzangaben.

LinksInformation

Jegliche Nutzung der Digitalisate muss mit dem Rechtsnachfolger von Andreas Okopenko, August Bisinger, individuell abgeklärt werden.