Warndreieck
Die Teile und das Ganze
Über die Ausstellung
Österreichische Nationalbibliothek

 

 

Ob Die letzten Tage der Menschheit, Der Mann ohne Eigenschaften oder Geschichten aus dem Wiener Wald: Österreichische SchriftstellerInnen haben die literarische Moderne wesentlich mitbestimmt. Die Ausstellung des Österreichischen Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek spürt dem Verhältnis der Teile zum Ganzen am Beispiel großer Werke nach, von Franz Kafka über Karl Kraus, Robert Musil, Hugo von Hofmannsthal, Hermann Broch, Elias Canetti, Ödön von Horváth und Heimito von Doderer bis zu Konrad Bayer, Ingeborg Bachmann, Ernst Jandl und Thomas Bernhard.

Das Österreichische Literaturarchiv wurde im Jahr 1989 als zehnte Sammlung der Österreichischen Nationalbibliothek gegründet und erwirbt literarische Nachlässe und Autographen österreichischer AutorInnen ab dem 20. Jahrhundert, erschließt diese und macht sie der Öffentlichkeit zugänglich. Kontakte zu zeitgenössischen SchriftstellerInnen ermöglichen den Erwerb von Beständen bereits zu Lebzeiten der AutorInnen.

Bernhard Fetz und Klaus Kastberger, beide Mitarbeiter des Österreichischen Literaturarchivs, gestalteten die Schau auf Einladung des deutschen Literaturarchivs in Marbach. Für den Wiener Prunksaal erweiterten die beiden Kuratoren ihr Konzept erheblich. In der Ausstellung "Die Teile und das Ganze" sind Originalmanuskripte, Baupläne, Notizhefte, Fotos sowie Videos und Hörbeispiele, die den Schaffensprozess anschaulich machen, zu sehen.

Mehr als anderswo bildet das Fragmentarische ein Charakteristikum der modernen österreichischen Literatur. Die Erscheinungsformen sind vielfältig und gehen über die offenkundige Tatsache hinaus, dass viele Hauptwerke der österreichischen Literatur – wie Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften oder die Romane Kafkas – unvollendet geblieben sind.
Die Aufsprengung und Unterwanderung der großen, geschlossenen Form findet sich oft bei österreichischen AutorInnen. Dies betrifft den altösterreichischen Anarchisten Fritz von Herzmanovsky-Orlando ebenso wie die experimentell schreibenden Mitglieder der "Wiener Gruppe", in deren Texten bis hin zu Konrad Bayers Romanfragment der sechste sinn die repräsentative Ordnung der Welt in kleine Bruchstücke zerfällt. Oder einen Autor wie Ernst Jandl, dessen Schreiben über die großen Themen in produktiver Opposition zum Begriff des 'Klassischen' steht, was programmatisch mit dem Titel eines Hörspiels ausgedrückt ist: Das Röcheln der Mona Lisa. In Thomas Bernhards Roman Alte Meister wird das Fragmentarische gar als ein existentielles Prinzip thematisiert: "Die höchste Lust haben wir ja an den Fragmenten, wie wir am Leben ja auch dann die höchste Lust empfinden, wenn wir es als Fragment betrachten, und wie grauenhaft ist das Ganze und ist uns im Grunde das fertige Vollkommene." Trotzdem: Wäre da nicht der Wille zum Ganzen, zum Vollendeten und Absoluten, es gäbe auch die Lust an dessen Zerstörung nicht. Und keineswegs ist es so, dass wir nicht auch das Unvollendete als das klassisch Gelungene zu sehen vermöchten, wie es uns eben die Romane Kafkas vor Augen stellen.

Zur Ausstellung erscheint ein Katalog im Zsolnay Verlag mit zahlreichen Farbabbildungen und Aufsätzen von Moritz Baßler, László Földényi, Wendelin Schmidt-Dengler, Burghart Schmidt (€ 18,40) sowie ein Leseheft mit Texten der präsentierten SchriftstellerInnen, ebenfalls im Zsolnay Verlag (€ 9,20).

Der Katalog spürt in Essays den verwickelten Verhältnissen des Fragmentarischen nach. Neben einer kulturgeschichtlichen Einbettung des Fragments werden in ihm die oftmals höchst komplizierten Arbeitsprozesse beschrieben, die den ausgewählten Werken der österreichischen Moderne zugrunde liegen. Der Blick auf die Produktion der Texte ermöglicht einen direkten Zugang zu der Frage, wie die AutorInnen während des Schreibens mit der Vorstellung vom Ganzen umgegangen sind. Manchmal ist dabei zu beobachten, dass die Lust am Fragmentarischen sich gerade in der geschlossenen Form zeigen kann, und umgekehrt ist festzustellen, dass fragmentarische Formen oft aus einem übermäßigen Anspruch an das Ganze resultieren.

Das Leseheft bietet einen ersten Einstieg in das Thema und kann auch als Einführung in die österreichische Literatur des 20. Jahrhunderts dienen.
In ausgewählten Textpassagen werden die behandelten Werke vorgestellt. Kurze Erklärungen zeigen die Sichtweise, die auf das Zentrum der österreichischen Moderne gelegt wurde. Über das Prinzip des Fragmentarischen lässt sich aus den Texten sehr viel und über das Fragment mit Sicherheit eines lernen: AutorInnen scheitern nicht notwendigerweise, indem sie unfertige Werke hinterlassen.

Nicht als ein oberflächlich-ästhetisches Phänomen, sondern als ein inneres Zentralmerkmal moderner Texte wird das Fragmentarische begriffen. Manchmal wird es gar in die Pflicht genommen, um ein ganzes Zeitalter zu beschreiben: Ein eindrückliches Beispiel dafür bildet Karl Kraus’ gigantisches Kriegsdrama Die letzten Tage der Menschheit. Wie der Autor im Vorwort schreibt, sei die Verarbeitung der vereinzelten Zitate und Gespräche letztlich einem "Marstheater" zugedacht.