Amerika (Der kurze Brief zum langen Abschied, Langsame Heimkehr)

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Im Frühjahr 1966 soll Peter Handke, auf der Spitze des Empire State Building stehend, vor laufenden Kameras verkündet haben, er sei der neue Kafka und Günter Grass nur ein »besserer Ganghofer«. So berichtet es jedenfalls Friedrich Christian Delius, der wie Handke zuvor an der Tagung der Gruppe 47 in Princeton teilgenommen hatte. Delius selbst war nicht mit dabei auf dem Empire State Building, aber Reinhard Baumgart, der Kritiker, hätte, so Delius, Handkes Worte bezeugt. Nun ist Baumgart auch schon lange tot und es müssten schon die alten Filmaufzeichnungen wieder auftauchen, um den Wahrheitsgehalt von Delius' Aussage zu erhärten. Die interessante Frage ist vielleicht auch gar nicht, ob Handke dies und jenes wirklich gesagt hat, sondern ob wir ihm die Geste zutrauen: Ein junger Mann vom Lande, gerade 23 Jahre alt, noch nicht einmal ein Debütant, ruft sich, nachdem er eben erst die erste Garnitur der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur der »Beschreibungsimpotenz« geziehen hat, vom Dach der Welt zum neuen Literaturkönig aus, und keiner hält ihn für verrückt. Traut man das dem in jenen Jahren oft als schüchtern und linkisch beschriebenen Kärntner »Beatle« mit dem Pilzkopf zu? Ja, unbedingt. Wenn es etwas gibt, das Handke so gut beherrscht wie den Rückzug, dann ist es der Angriff, mitsamt der Publicity.

Handke in Amerika: da haben sich ein Mann und ein Kontinent ungefähr auf Augenhöhe getroffen. Getreu dem amerikanischen Grundsatz »think big or go home« hat sich Handke früh für »think big« entschieden und ist dann doch wieder nach Hause gefahren, statt einfach dazubleiben wie Arnold Schwarzenegger. Das In-Amerika-Sein und das Aus-Amerika-Zurückkommen spielt in seinen Büchern, jedenfalls vor der sozusagen balkanisch-arabischen Wende, eine große Rolle. Am eindrücklichsten vielleicht im Kurzen Brief zum langen Abschied (1972) und in Langsame Heimkehr (1979). Es gibt wenig Amerikanisches, von Faulkner bis Dylan, von John Ford bis Creedence Clearwater Revival, von Alaska bis ins Bayou Country, das Handke in jenen Jahren nicht aufgesogen hätte, stets auf der Suche nach einer geräumigeren Vorstellung von Land und Leuten, als sie ihm die eigene Herkunft bot. Amerika ist, bevor Handke amerikamüde wurde, das Gelände, in dem sich seine literarische Fantasie aufs Schönste ergehen und verlieren kann.

Amerika war seinerzeit von Handkes Griff nach der literarischen Weltmacht nicht unbeeindruckt. Es sprach sich herum, dass es hier ein literarisches Jung- und Großtalent zu bestaunen gebe, das von der Aura eines Popstars umgeben war. Handkes frühe Bücher fanden gute Übersetzer (allen voran Ralph Manheim, von dem Handke sagte, er finde seine Bücher in dessen Übersetzung besser als im Original) und viele Leser. Wunschloses Unglück (A Sorrow Beyond Dreams) wurde auch in den USA zum modernen Klassiker, die frühen Theaterstücke wurden viel gespielt, aber irgendwann, wohl in den achtziger Jahren, erlahmte das Interesse allmählich. Man findet heute in den Buchhandlungen noch immer den einen oder anderen Handke-Titel, aber es sind dann eher die frühen Werke.

So wie sich Amerika von Handke abgewandt hat, so auch umgekehrt Handke von Amerika. Noch immer reist er zwar gelegentlich und in aller Stille durchs Land, und noch immer finden sich Spurenelemente dieser Reisen in seinen Büchern. Dennoch hat eine Art Zerwürfnis mit Amerika stattgefunden, eine politisch-kulturell bedingte Abkehr des Schriftstellers vom ehemaligen Land seiner Träume. Man kann es vielleicht auf den Tag datieren, an dem NATO-Streitkräfte unter Führung der USA Serbien bombardierten. Das war 1999 und damit schon fast ein Jahrzehnt nach Handkes ersten Sympathiebekundungen für die auseinanderfallende jugoslawische Föderation. Handkes spätere Parteinahme für Serbien und seine gelegentliche Nähe zu Slobodan Milošević haben in Amerika kein großes Echo gefunden, und wenn, dann kein positives. Umgekehrt hat Handke sich in seinen pro-serbischen Essays auf eine bisweilen sehr pauschale Kritik am »Westen« eingelassen. Das schöne, mythische Amerika des Kurzen Briefs schien im Furor von Handkes anti-westlicher Polemik irgendwie abhandenzukommen. Amerika müsste ihm trotzdem immerfort dankbar sein: Wer wüsste hierzulande schon etwas von Walker Percy, den Handke wunderbar ins Deutsche übersetzt hat? Und hat uns nicht erst Handke mit seinen Romanen Lust gemacht auf Faulkner und Raymond Chandler und andere Amerikaner? (Christoph Bartmann)

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