Konvolut aus Beiblättern (zur Textfassung 1)
Bleistiftmanuskript, 56 Blatt, 12.07.2010 bis 20.09.2010
Das beim Schreiben der ersten Textfassung von Peter Handkes Erzählung Der Große Fall entstandene Konvolut aus Beiblättern umfasst 56 Blatt, die bis auf drei undatierte Blätter mit dem Datum des jeweiligen Schreibtages versehen wurden. Die Datierungen lassen fünf Arbeitsetappen mit Schreibpausen dazwischen erkennen, die mit den Datumsvermerken im Bleistiftmanuskript der ersten Textfassung (DLA, A: Handke Peter, HS 11.100.1) übereinstimmen. Handke arbeitete an der Erzählung von 12. Juli bis 27. Juli, von 1. bis 14. und 23. bis 28. August sowie von 1. bis 7. und von 9. bis 20. September 2010. Die Beiblattnotizen (zusammen mit der ersten Textfassung) entstanden demnach in 55 Tagen, also nicht ganz zwei Monaten. Die konsequente Datierung der Beiblätter wie auch der ersten Fassung ermöglicht den Vergleich der Notizen mit den entsprechenden Schreibabschnitten. Die Gegenüberstellung gewährt Einblicke in die Arbeitsweise Handkes und die sukzessive Textgenese, macht aber vor allem auch zentrale inhaltliche und formale Elemente der Erzählung deutlich. Da die Blätter keine Paginierung aufweisen, werden die Zitate im Folgenden durch das Datum angegeben. Bei zwei der undatierten Blätter dürfte Handke den Eintrag vergessen haben, sie müssen aber am 26. Juli und am 8. August 2010 entstanden sein. Das dritte undatierte Blatt, das zwischen den Beiblättern vom 18. und 19. September eingelegt ist, enthält keine eigentlichen Beiblattnotizen. Handke vermerkte darauf lediglich »Nichts geht über die Barmherzig« [Barmherzigkeit?] und »3e etage Dr. Bourvis«.
Art der Notizen
Auf den Beiblättern versammelte Handke die von ihm gerade bearbeiteten bzw. für den folgenden Schreibtag vorgesehenen Formelemente und Motive – einzelne Wörter, Satzpartikel und Phrasen, Dialogteile, stichwortartige Charakterisierungen von Figuren und Orten oder Handlungs- bzw. Szenenentwürfe. Zum vorgestellten Frage-Spiel zwischen Schauspieler und Frau notierte er etwa am Beiblatt vom 21. Juli 2010: »Szenenanweisungen [/] betrunken? [/] Sie eine andere? [/] Mann bewegt sich nicht [/] sie auch nicht [/] Mann schläft {müde}müde [/] ob ihr also so etwas schon unterkommen {ist [Steno]}«. Die Notizen zu solchen inhaltlichen Sequenzen sind meist in einem Bereich des jeweiligen Blattes gruppiert oder durch Pfeile und Striche miteinander verbunden.
Die thematischen Stichwörter wurden aber nicht unbedingt am selben Tag im Text realisiert. Handke notierte offenbar auch Einfälle zu Handlungssequenzen, die er dann erst später verwendete: Zum Beispiel vermerkte er am Beiblatt vom 22. Juli 2010 zwischen Notizen zur Obdachlosen-Szene im Wald (DGF 49ff.) den Begriff »Hindernisgang«, den er aber erst drei Tage später in der Erzählung verarbeitete: Am 24. Juli notierte er untereinander, wie als Ablauf der nächsten Schreibabschnitte, die Wörter: »Hindernisgehen [/] Irrtumsbetrachtung [/] → Lichtung«, die Passage über den Hindernisgang schrieb er wohl aber erst am 25. Juli, wo auch die zum Abschnitt gehörenden Stichwörter versammelt sind: »NUR KEINE ZEICHEN«, mit dem der Absatz zum Hindernisgang beginnt (DGF 59), »kein Springen? [/] Graben? nur in Not [/] nur aus dem Stand [/] Spielregel [/] Klettern ohne Zuhilfenahme der Hände?? [/] Hgang zwischendurch, zur Erfrischung, [/] dann {wieder [Steno]} sein Normalgehen [/] Spannkraft«.
Nennung der Vorbilder
Ein anderes Beispiel für die spätere Wiederaufnahme von Ideen zeigt die am 14. August aufgeschriebene Notiz »Hunger → Kirche [/] {Goethe}/ Greis [/] Prophet [/] m. Eis auf [/] den Lippen [/] statt [/] glühender [/] Kohle«; sie betrifft eine Szene, die erst im sechsten Kapitel erzählt wird (DGF 173-185). Sie kam Handke aber bereits beim Schreiben der Szene, in welcher der Schauspieler aus dem Wald in die Vorstadt kommt, in den Sinn. In der Buchversion heißt es an dieser Stelle: »Er lief. Und mit dem Laufen stellte sich Hunger ein, erst ein großer, unbestimmter, lebenslanger, dann ein bestimmter, kleiner, erster, nach Essen. Da er freilich erfahren hatte, daß solch ein erster jäher Hunger noch nicht der wahre war, und gleich wieder vorbeiginge, verbot er sich den.« (DGF 129f.) Die Vorwegnahme der Kirchenszene in den Beiblattnotizen macht deutlich, dass das Hungergefühl des Schauspielers von Anfang an als wiederkehrendes Motiv angelegt war.
Nicht nur in diesem Vermerk, sondern auch in anderen Notizen verweist Handke auf die literarischen bzw. mythischen Vorbilder für Szenen oder die realen Vorbilder von Orten: Zum Beispiel verglich er die Zitronenkern-Szene strukturell mit den Qualen des »Tantalos!!« (17. Juli 2010). Beim »unvermutete[n] Durchblick auf die Stadtrandwolkenkratzer weit weg hinter den Bäumen« (DGF 49) dachte er, wie man in den Beiblattnotizen lesen kann, an die »Türme v. (La Défense) im Wald« (22. Juli 2010). Und zum »Rückwärtsgehen [/] aus dem [/] Wald?« bemerkte er »(s. P. Valéry) [/] (nein Richelieu)« (6. August 2010).
Sprachliche und formale Elemente
Die im Großen Fall auffällig zahlreichen eher alltagssprachlichen Ausdrücke und Phrasen wurden auf den Beiblättern größtenteils eigens vermerkt: »"Mach, daß …"« (24. Juli 2010) oder »Mit "Laufen" kann man mich [/] jagen« (25. Juli 2010; vgl. DGF 60) – dazu gehören gerade auch die Kommentare des Erzählers wie: »Ihr hättet ihn sehen müssen« (22. Juli 2010; vgl. DGF 47). Ebenso notierte Handke die einzelne Abschnitte bestimmenden formalen Elemente: »im Rhythmus 1 Satz in [/] der Vorzukunft !« (13. Juli 2010), »und, und, [/] und …« (4. August 2010) oder »Erzählung mit [/] Gewalt [/] Erzählsätze mit [/] Gewalt« (10. August 2010).
Darunter fällt auch das die Erzählung durchziehende Motiv der Selbstgespräche, die sich der Schauspieler zugleich immer wieder verbietet. Die beiden Notizenreihen: »Nicht so reden ! [/] Er verbot es sich [/] Porzellan [/] Er hatte sich dabei [/] gar nichts gedacht [/] unernste Selbstgespräche« (22. Juli 2010) und »wieder: [/] Paß auf auf das, [/] was du [/] sagst, [/] {??? [nur?]} wenn auch [/] nur [/] für dich allein! [/] sagen ist nicht [/] bloß sagen« (27. Juli 2010) findet man in der veröffentlichten Fassung von Der Große Fall als Selbstermahnungen des Schauspielers wieder: »und er verbot es sich wieder, derart mit sich zu reden: "Wie leichtfertig du dahinredest. Du darfst nicht so denken. Du darfst nicht. Zeit, daß du unter die Leute kommst."« (DGF 56) oder »Und wieder dann: "Paß auf, was du so daherredest und sei's nur für dich allein. Daherreden ist nicht bloß Daherreden, Sagen ist nicht bloß Sagen, Worte, selbst die unausgesprochenen, sind nicht bloß Worte. Kusch, Freund!"« (DGF 70).
Erstes Beiblatt
Die Notizen sind so konkret, dass sich die Beiblätter relativ eindeutig einzelnen Kapiteln oder Absätzen zuordnen lassen. Am Beiblatt des ersten Schreibtages notierte Handke zum Beispiel: »Great Falls/Montana« [/] Donner: heftig? [/] stark? [/] grell (Blitz)? [/] blaken [/] Absätze! [/] 12/7/2010 [/] scheinen sein [/] "schien" "war" [/] kein Wind [/] thunderstorm [/] 36«. Von »grell« zu »blaken« ist ein Verbindungsstrich gezogen. Liest man die erste Seite des Bleistiftmanuskripts, die an diesem Tag entstanden ist, oder die ersten beiden Seiten im Buch, findet man diese Stichwörter alle wieder (DLA, A: Handke Peter, HS 11.100.1, Bl. II und DGF 7-8).
Zahlenadditionen
Die ebenfalls auf den Blättern verzeichneten Additionen beziehen sich vermutlich auf die Zeilenzählungen einzelner inhaltlicher Abschnitte. Nach einer Besprechung mit Peter Handke vermerkte Hans Widrich auf einem beigelegten Blatt: »Die Additionen zeigen den Zeilenerfolg des Tages für das Manuskript, z. B. 13/9/2010 116 – "Rekord".«
Beilage
Dem Konvolut sind drei Blätter (eine Widmung, ein Fotoausdruck und ein Blatt mit aufgeklebten Rechnungen) beigelegt, die Handkes Übergabe des Konvoluts an Hans Widrich am 24. August 2013 im Kirchenwirt von Maria Plain dokumentieren, bei der auch Sophie Semin, Gerheid Widrich, Adolf Haslinger und Hans Moßhammer anwesend waren. (kp)
Tabellarische Daten
Titel, Datum und Ort
Great Falls / Montana [12/7/2010]
Materialart und Besitz
Bleistiftmanuskript, 56 Blatt, unpag.
- 1 Blatt mit der hs. Aufschrift von Hans Widrich: »Samstag, 24.8.2013. Mittagessen in Ma. Plain mit herrlichem Salzburg-Blick im Garten des Kirchenwirtes. Peter & Sophie Handke, Gerheid & Hans Widrich. Später spendete der Senior Kirchenwirt Hans Moßhammer noch 1 Fl. Sylvaner von Skoff/Steiermark. H. W.« Auf dem Blatt sind zudem die Rechnung vom Hotel Gasthof Maria Plain und das Reserviert-Schild mit Unterschriften von allen und eine Notiz des Wirts aufgeklebt.
- 1 Blatt mit einem ausgedruckten Foto und einigen Zeilen von Hans Moßhammer, dem Wirten, vom 24.8.2013.
- Papierumschlag, DIN A3, mit der Aufschrift von Peter Handke: »Beiblätter zum "Großen Fall" für Hans Widrich überlassen vom Überlasser Peter Handke am 24. August 2013 in Ma Plain« und einer Notiz von Hans Widrich.
Ergänzende Bemerkungen
-
Der Große Fall (Textfassung 1)
Bleistiftmanuskript, 110 Blatt, 12.07.2010 bis 22.09.2010 -
Konvolut aus Beiblättern (zur Textfassung 1)
Bleistiftmanuskript, 56 Blatt, 12.07.2010 bis 20.09.2010 -
Der Große Fall (Textfassung 2)
Computerausdruck 2-zeilig, Abschrift fremder Hand, 200 Blatt, ohne Datum [06.10.2010 bis 20.11.2010] -
Liste mit Anmerkungen von Gudrun Weidner (zur Textfassung 2)
Computerausdruck, Exemplar von Peter Handke, 6 Blatt, ohne Datum [19.11.2010] -
Konvolut aus Korrekturen und Textergänzungen (zu den Druckfahnen)
Manuskript, 5 Listen, 14 Blatt, 02.02.2011 bis 25.02.2011 -
Der Große Fall. Erzählung
Druckfahnen 1. Lauf, Exemplar von Peter Handke, 280 Blatt, 10.01.2011 bis ??.02.2011
Das Blatt mit der Datierung 4/8/2010 ist links eingerissen.