Notizbücher
Peter Handkes Notizbücher aus den Jahren 1972/73 bis 1990 sind textgenetisch einzigartige Quellen im Arbeits- und Schreibprozess des Autors und ein bedeutender Bestandteil des Vorlasses, der sich auf das Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek Wien und das Deutsche Literaturarchiv Marbach verteilt. Sechs der insgesamt 76 für die Forschung zugänglichen Notizbücher befinden sich im Original in Wien, der größere Bestand wurde vom Deutschen Literaturarchiv Marbach angekauft, befindet sich in Kopie aber ebenfalls am Literaturarchiv der ÖNB. Einzelne, die sich nicht in den Archiven befinden, sind entweder verloren gegangen oder wurden von Handke an Freunde verschenkt. Sie sind vor allem seit 1976 Dokumente des Unterwegsseins: Ihr Format ist immer hosentaschentauglich, ihre Oberflächen mitunter bemalt, beschrieben, zerschlissen und zerfallend, die Seiten speckig vom Blättern und steif von Wind und Regen, denen sie ausgesetzt waren. Sie enthalten gefundene Objekte, Schnipsel, Blätter, Blumen, Fotos, eingeklebte Bilder. Die Wahl des Schreibgeräts ist im Gegensatz zu den Manuskripten weniger poetologischen als vielmehr pragmatischen Überlegungen geschuldet: die Kugelschreiber, Filzstifte oder Fineliner, die Handke in seinen Notizbüchern hauptsächlich verwendet, sind auch nach Jahren noch gut lesbar. Handke notierte mit dem, was schnell zur Hand war – es lassen sich keine besonderen Präferenzen feststellen. Dieser Umstand bewirkt ein buntes Aussehen der Notate, in denen rote, blaue, grüne, lila, schwarze Stifte einander häufig abwechseln.
Auf den vorderen und hinteren Vorsatzblättern notiert Handke in der Regel Arbeitstitel zu Werkprojekten, Ortsangaben, Datierungen, zentrale Lektürezitate sowie Adressen und Telefonnummern von Personen, Fahrpläne und Reiserouten. Zumeist sind die Eintragungen ab ca. 1979 nach Tagen datiert – eine Praxis, die Handke Ende der 1980er-Jahre wieder aufgibt.
Die Notizbücher führt Handke seit Anfang 1976 (mit Beginn der Vorarbeiten zum Werkprojekt Ins tiefe Österreich) nicht mehr rein projektbezogen (wie noch 1973 für Die Unvernünftigen sterben aus), sondern in der Art eines zweckfreien Aufzeichnens. Mit den Journalen Das Gewicht der Welt, Die Geschichte des Bleistifts, Phantasien der Wiederholung, Am Felsfenster morgens und Gestern unterwegs wurden zwar weitgehend überarbeitete und nicht projektbezogene Passagen aus den Notizbüchern veröffentlicht, der vollständige und originale Inhalt ist aber noch unpubliziert.
Die Einträge in Handkes Notizbüchern enthalten Notate zu Beobachtungen, Begriffen, Lektüren und Orten, aber auch immer wieder Zeichnungen. Sehr häufig reflektiert er sein eigenes Schreiben, nur vereinzelt sind allerdings Ereignisse seines außerliterarischen Alltags, wie etwa Begegnungen mit Personen, festgehalten. Die Notizbücher enthalten Informationen zur Erschließung seiner schriftstellerischen Arbeit und für den Entstehungskontext einzelner Werke. Handke recherchiert und sammelt Ideen und poetologische Überlegungen über viele Jahre (wie etwa zu Die Wiederholung oder Mein Jahr in der Niemandsbucht), bevor es zur tatsächlichen Ausarbeitung kommt. Während der Niederschrift eines Werkes treten unspezifische Notizen gänzlich in den Hintergrund. Die danach folgenden Arbeitsphasen, in denen er intensiv mit den Korrekturen an Druckfahnen beschäftigt ist, sind durch Korrekturnotizen oder Einfügungen durch entsprechende Kürzel auch in den Notizbüchern erkennbar. (kp/ck)