1848 | Zeit der Lektüre
Die im Lauf der Geschichte sich verändernde Bedeutung von Bibliotheken steht stets in engem Zusammenhang mit der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung eines Landes. Dies gilt natürlich insbesondere für das Revolutionsjahr 1848. Als Windischgrätz am 31. Oktober 1848 mit den kaiserlichen Truppen die Beschießung der Stadt begann, brannte die Hofburg und die Bibliothek befand sich in höchster Gefahr. Zahlreiche Bände mussten von jenen Hofbibliotheksindividuen, die in Wien geblieben waren (der damalige Präfekt der Hofbibliothek Eligius Franz Joseph Freiherr Münch von Bellinghausen hatte ebenso wie der kaiserliche Hof Wien verlassen) verlagert werden, um unersetzliche Verluste zu vermeiden.
Nach der Niederschlagung der Revolution und der Thronbesteigung Kaiser Franz Josephs I. am 2. Dezember 1848 war die Wiedereröffnung des Lesebetriebs in der Hofbibliothek eine politische Notwendigkeit. 1848 war eine Verlängerung der Öffnungszeiten bis in die Abendstunden gefordert und auch erreicht worden. Nach der Wiedereröffnung, die bereits im Jänner 1849 erfolgte, wurden diese Öffnungszeiten beibehalten, auch wenn es bald Versuche gab, die Zugeständnisse an das Lesepublikum rückgängig zu machen. Insbesondere Ernst Ritter von Birk, der 1871 – 1891 der Hofbibliothek vorstand, und der sich als junger Skriptor im Revolutionsjahr 1848 um die Rettung der Bibliothek große Verdienste erworben hatte, verschloss sich wohl aus dieser Erfahrung jeder Forderung nach einer liberalen Benützungsmöglichkeit der Hofbibliothek und schränkte die ohnehin ungenügenden Benützungsmöglichkeiten – noch immer hatte die Bibliothek keinen geeigneten Lesesaal – weiter ein. Durch das Verbot der Ausgabe belletristischer Werke, illustrierter Zeitschriften, Grammatiken, Lexika, Lehrbücher etc. hoffte er "Elemente ohne ernstes Streben" vom Besuch der Bibliothek fernzuhalten. Auf der anderen Seite leitete Birk seit 1846 27 Jahre lang die Neukatalogisierung des ganzen Bestandes der Druckschriftensammlung, und dieser Katalog steht auch heute noch in Verwendung und verzeichnet die Bestände von 1501 bis 1929.
Mit Wilhelm Ritter von Hartel, dem Nachfolger Birks, erhielt die Hofbibliothek einen hervorragenden und renommierten Wissenschaftler zum Präfekten, der die Dinge notwendigerweise anders sah und sich durch die Erweiterung der Lesemöglichkeiten, durch die Einführung von Bestellkarten, die die Bereitstellung der Bücher für den nächsten Tag ermöglichten, erhoffte, die Hofbibliothek wieder zum Mittelpunkt des wissenschaftlichen Lebens werden zu lassen. Er verließ allerdings nach nur fünf Jahren das Haus. Sein Nachfolger wurde Joseph von Karabacek, Orientalist, Papyrologe und Numismatiker, der in den folgenden 18 Jahren bahnbrechende Neuerungen durchsetzten konnte. So gelang durch seine Vermittlung 1899 der Erwerb der bedeutenden Papyrussammlung Erzherzog Rainers, die den Grundstein für das heute weltweit renommierte Papyrusmuseum und die Papyrussammlung der Österreichischen Nationalbibliothek bildete.
Die gesellschaftliche Entwicklung, vor allem die Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts brachte es mit sich, dass quantitativ und qualitativ die Bibliotheken zu den zentralen Informationszentren des 19. Jahrhunderts wurden. Karabacek öffnete ganz in diesem Sinne auch die Institution Hofbibliothek: Mit der Eröffnung des Augustinerlesesaales im Jahre 1906, den Karabacek zu einem attraktiven Benützerbereich gestalten ließ, erhielt auch die Hofbibliothek einen Lesesaal, der dieser Entwicklung Rechnung trug. Die Öffnungszeiten wurden erweitert und eine neue Benützungsordnung wurde erlassen. Die von Karabacek initiierten großen Prunksaal-Ausstellungen boten erstmals einem breiten Publikum Einblick in den reichhaltigen Bestand der Hofbibliothek.