Autorin: Jeannie Moser
Um Literatur und verschiedene Formen des Rausches geht es in der Sonderausstellung Im Rausch des Schreibens. Von Musil bis Bachmann im Literaturmuseum (noch zu sehen bis 11. Februar 2018). Eines der fünf Kapitel der Ausstellung ist dem Thema „Substanzen und Stimulanzien“ gewidmet. Alkohol, Rauchwaren und Haschisch, Morphium, Opium, Kokain und LSD haben Schreibende seit jeher beflügelt. Leo Perutz schrieb in seinem Roman „St. Petri Schnee“ (1933) über eine Droge, die erst Jahre später in den Chemielabors entdeckt wurde. Die Literaturwissenschaftlerin Jeannie Moser geht diesem seltsamen Phänomen in ihrem Beitrag nach. Dieser und weitere Artikel zur Ausstellung können im gleichnamigen Begleitbuch nachgelesen werden.
Am 16. April 1943 entdeckt der Chemiker Albert Hofmann in einem Forschungslabor der Sandoz-AG die fulminante psychotrope Wirkung eines Mutterkornalkaloids, das er fünf Jahre zuvor synthetisiert hat. Als LSD wird es weltberühmt. Rückblickend ist die Rede von Halluzinationen, von zutiefst verstörenden Erfahrungen der Ich- und Weltzersetzung, von Todesangst und schierem Wahnsinn ebenso wie von mystisch-visionären Ganzheitserlebnissen in einer Welt, die Hofmann neu erschaffen scheint.
Sein Leben widmet Hofmann nun der Untersuchung des so konträre Bewusstseinslagen provozierenden Stoffes. Wahnvorstellung und Religion geben seiner Forschung zwei Gravitationspunkte: Zum einen wird Hofmann eine Geschichte des Mutterkorns als kultisch-sakrale Droge im antiken Eleusis konstruieren, er wird sich mit dem zeremoniellen Gebrauch heiliger Pilze, Samen und Zauberpflanzen wie Ololiuqui und Salvia divinorum in Mittelamerika beschäftigen, Wirkstoffe wie Psilocybin, Psilocin und Salvinorin isolieren und sie als chemisch-strukturelle Verwandte von LSD bestimmen. Und er wird zu dem Schluss kommen, die unio mystica könne sich durch Gnade wie auch durch „entheogene“ Drogen einstellen. Zum anderen wird er unermüdlich – LSD ist inzwischen sozialpolitisch brisant codiert, mit Revolte assoziiert und verboten – an die einstige magic bullet der Psychopharmakologie erinnern. Er wird auf den anhaltenden Wert von LSD für die neurologische und biochemische Forschung, für Psychotherapie, Psychiatrie und Medizin pochen.
Am 2. März 1932 kommt der Arzt Georg Friedrich Amberg in einem Krankenhausbett zu sich. Chronologische und räumliche Ordnung sind durcheinandergeraten, die Rede ist von Starrheit, von einem schattenhaften, mit einem Gefühl der völligen Bestimmungslosigkeit gepaarten Bewusstsein, von Bewusstseinsspaltung, von einem Schweben im Leeren, von auftauchenden und sogleich wieder zerfließenden Erinnerungen, von Entrückung, Angst und Delirium, von Déjà-vus, dann wiederum von plötzlicher Klarheit, von unheimlichen, rätselhaften und unerklärlichen Ereignissen. Ein Drogenversuchsbericht? Zunächst: die Eingangssequenz des Romans „St. Petri-Schnee”. Beharrlich lässt dieser offen, ob es sich bei den erzählten Ereignissen um die Wirklichkeit oder um (Tag-)Träume, um Halluzination, Fieber-, Wunschphantasie oder Wahnvorstellung handelt. Über der gesamten Erzählung, die solche alternativen Möglichkeiten der Wirklichkeit durchspielt, liegt allerdings ein leiser, dem Arzt und Erzähler so vertrauter Geruch des Chloroforms, der nie aus seinem Zimmer weicht.
Der Roman des Haschischrauchers Leo Perutz, der 1933 erscheint, macht dieses Narkotikum nicht weiter zu seinem Gegenstand. Von ihm heißt es nur, es tue wohl und vertreibe törichte Gedanken. Wohl aber steht ein anderes Drogenexperiment in seinem Zentrum: die Isolation eines Mutterkornalkaloides – genau wie LSD eines ist. Im Experiment verbinden sich politische Vorstellungen einer (spirituellen) Aristokratie, Moderne-Kritik mit Mittelalter-Nostalgie, okkulte Philosophie, gnostische Ideen, antike Mysterien und Mythen, Ideale arkadischer Naturharmonie, demographische Berechnungen sowie wissenschaftlich-technische Machbarkeitsphantasien, die Drogen als Initiatoren und Steuerungsinstrumente von Gefühlen geltend machen: Der Baron von Malchin (Legitimist wie Perutz), der von der Reinstallation eines Hohenstauferreichs träumt, macht sich zum Leiter eines im Pfarrhaus eingerichteten Forschungslabors. Mit Hilfe der griechischen Chemikerin Kallisto Tsanaris sollen aus dem Getreideparasiten und seinen Sporen wirksame Bestandteile destilliert werden. So wie Heroin Todesverachtung, Opium Glück oder Kantharidin Lust hervorruft, kommt es dem psychotropen Destillat zu, die Bewohnerinnen und Bewohner des westfälischen Dorfes Morwede – das den Roman hindurch unter einer dicken Schneedecke liegt – zum Gottesglauben zurückzuführen. Der stofflich erzeugte Erregungszustand, jene ekstatische Erschütterung, soll sie zur Anerkennung eines vermeintlichen Stauferabkömmlings als Kaiser und charismatischen Führer bewegen. Das Experiment mit dem chemischen Sakrament aber endet anders als vorgesehen: Statt zur Wiederbelebung des Heiligen Römischen Reiches führt es zu einer kommunistischen Revolte, an der sich die mysteriöse, vom Arzt Amberg glühend angebetete Kallisto beteiligt.
War es Zufall oder war es Prophetie? Hat die Literatur wissenschaftliche Ideen, Ereignisse und Forschungslinien vorausgesehen, Fragen nach der Verbindung von Drogen, Politik und Spiritualität vorweggenommen – und damit prognostische Kraft? Oder war die LSD-Synthese fünf Jahre nach Erscheinen des Romans schlichtweg naheliegend? Waren ganze Experimentreihen absehbar, die drogistische mit mystischer Erfahrung vergleichen? So etwa das von Walter Pahnke geleitete und von Timothy Leary beaufsichtigte „Good Friday Experiment“, bei dem 1962 in einer Bostoner Kirche Psilocybin an Theologiestudenten verabreicht wird. 1973 indes wird die Bezeichnung „Entheogene“ für Drogen lanciert, von denen es heißt, sie ermöglichten tief empfundene Gefühle ekstatischer Einheit, Heilig- und Glückseligkeit, wie sie von Mystikern durch Jahrhunderte, Kulturen und Religionen hindurch beschrieben worden sind. Oder war sogar die eigendynamische Entwicklung der klinischen Drogenexperimente und social engineering-Projekte der 1950/1960er-Jahre hin zu einer Revolte der counter culture zu erwarten, in der Leary als charismatischer High Priest adressiert werden konnte? Sähe man all diese Ereignisse als Statistiker und Versicherungsmathematiker, wie Perutz es bis 1923 war, beschäftigt mit Fragen der Prognosegenauigkeit sowie einer Ausgleichsformel, mit der zufällige Ereignisse mathematisch zu glätten sind – wären sie dann nicht schlichtweg wahrscheinlich?
LSD war keine Zufallsentdeckung, berichtigt Hofmann eine gängige Überlieferung. Sie wurde im Rahmen planmäßiger Forschung hergestellt, die sich auf eine lange Geschichte des Mutterkorns berufen konnte – und erst später kam der Zufall ins Spiel. Einstimmig mit Malchin berichtet Hofmann von im Mittelalter epidemieartig auftretenden Massenvergiftungen und religiösen Wahn- und Erleuchtungsvorstellungen, die mit Ergot in Zusammenhang gebracht wurden: „Ignis Sacer“, „Antoniusfeuer“, „Magdalenenflechte“, „Muttergottesbrand“ genannt oder, wie in Perutz’ Roman, „St. Petri-Schnee“. 1793 assoziiert Thomas Beddoes Nervenleiden mit Ergot. In der Arzneiforschung beginnt man sich ab der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts für den Stoff zu interessieren. 1907 gelingt es, ein wirksames Alkaloidpräparat zu isolieren und die zu Adrenalin antagonistische Wirkung auf das vegetative Nervensystem zu konstatieren. 1918 trennt Hofmanns Laborleiter Arthur Stoll aus dem Mutterkorn den LSD-Vorläufer Ergotamin. In den 1930er-Jahren dann wetteifert man um die Ermittlung der chemischen Struktur der Mutterkornalkaloide. Eine strukturelle Ähnlichkeit von Rausch und Wahn wiederum wird aus zahlreichen klinischen Experimenten mit Haschisch und Meskalin interpretiert. Wie auch schon Emil Kraepelin vom Rausch als einem Irresein im Kleinen gesprochen hatte.
War es also Zufall oder ausrechenbar? Wäre Malchin keine literarische Figur, wäre es jedenfalls nur allzu wahrscheinlich, dass er und Hofmann voneinander gewusst hätten. Sie beide nämlich bevölkern denselben wissenskulturellen Raum – und Literatur, Pharmazie, (Ethno-)Biologie, Medizin und Psychiatrie operieren darin. Sie alle teilen, prozessieren und produzieren ein gemeinsames Wissen: über die chemisch-stoffliche Steuerung der Gefühle – und eine Wirklichkeit, die angesichts von Drogen keineswegs etwas Absolutes mehr sein kann.
Über die Autorin: Jeannie Moser ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Berlin (Fachgebiet Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Literatur und Wissenschaft). Ihr Buch „Psychotropen. Eine LSD-Biographie“ ist 2013 erschienen.
Literaturangabe:
Moser, Jeannie (2017): Leo Perutz’ „St. Petri-Schnee“ oder das „klinische Bild eines durch ein Rauschgift hervorgerufenen Erregungszustandes“, in: Katharina Manojlovic und Kerstin Putz (Hrsg.), Im Rausch des Schreibens. Von Musil bis Bachmann, Wien: Zsolnay, S. 162–165.
Verwendete Literatur:
Perutz, Leo (1933): St. Petri-Schnee, Berlin, Wien: Zsolnay.
Doblin, Rick (1991): Pahnke’s „Good Friday Experiment“. A Long-Term Follow-Up and Methodological Critique, in: Journal of Transpersonal Psychology 23/1, S. 1–28.
Hofmann, Albert (o.J.): Naturwissenschaft und mystische Welterfahrung, Manuskript der „Volkspredigt“ in der Leonhardskirche in Basel, Löhrbach/Solothurn: Nachtschatten Verlag.
Hofmann, Albert (2002): LSD – Mein Sorgenkind. Die Entdeckung einer „Wunderdroge“, München: dtv.
Pahnke, Walter (1966): Drugs and Mysticism, in: The International Journal of Parapsychology VIII/2, S. 295–313.
Pahnke, Walter (1967): LSD and Religious Experience. Paper presented at Wesleyan University 1967, in LSD, Man & Society, Middletown, CT: Wesleyan University Press, S. 60–85.
Pahnke, Walter (1966): William A. Richards. Implications of LSD and Experimental Mysticism, in: Journal of Religion & Health 5, S. 175–208.
Piper, Alan (2013): Leo Perutz and the Mystery of St Peter’s Snow, in: Time and Mind 6/2, S. 175-198.
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