Vorbemerkung
Die folgenden Ausführungen stellen eine erste vertiefte Auseinandersetzung mit einer BBC-Sendung von Erich Fried vom Januar 1966 dar (zu den „Intimus“-Sendungen Frieds siehe den Beitrag im Forschungsblog). Neben den Scans des Sendungstexts, der sich als Matrizenabzug im Nachlass Erich Frieds am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek erhalten hat, findet sich hier der vollständig transkribierte Text. Markiert sind Registereinträge (Personen, Orte/Länder, Periodika, Werke) sowie Stellenkommentare. Übergreifende Kommentare geben erste Einblicke in den historischen Kontext und die Rezeption der Sendung. Darüber hinaus wird die Argumentationsstrategie analysiert.
Da es sich somit nur um eine vorläufige Einzelanalyse handelt, bleiben bestimmte Bereiche wie etwa die Einbettung der „Intimus“-Sendungen in die Geschichte der BBC und die Infrastruktur ihres ‚Ostzonenprogamms‘ vorerst ausgeklammert. Zu den weiteren Aspekten, die einer umfassenden Untersuchung des Gesamtkorpus vorbehalten bleiben, gehört etwa auch die Geschichte des Eurokommunismus oder – auf einer anderen Ebene – die Analyse von Frieds Informationsquellen.
Auch die Kurzbiographien mit ihren Bezugnahmen auf Fried und weitere intertextuelle Verschränkungen dürfen erst im Laufe einer entsprechenden umfassenden Untersuchung als abgeschlossen betrachtet werden. Anknüpfen können die Kommentare an Vorarbeiten zu Erich Fried von Volker Kaukoreit und an die Forschungsarbeiten von Carsten Gansel (siehe Literaturnachweise).
Literaturarchiv der Österreichische Nationalbibliothek, Nachlass Erich Fried (ÖLA 4/90, Gruppe 16.2.1.1), BBC-Matrizenabzug, datiert: 17.1.1966, 5 Seiten. Permalink zum Katalogisat: http://data.onb.ac.at/rec/AC13854827
Matrizenabzug der „Intimus“-Sendung vom 17. 1. 1966 (LIT, Nachlass Erich Fried, ÖLA 4/90)
In den letzten Wochen habe ich hier immer wieder Namen wie Robert Havemann und Wolf Biermann genannt. Ich habe die Anklagen, die bei Ihnen drueben gegen Havemann und Biermann verbreitet wurden, zitiert, und ich habe mich bemueht, an Hand der Aeusserungen eines Robert Havemann oder eines Wolf Biermann selbst, zu zeigen, dass diese Aeusserungen, die bei Ihnen drueben nur angegriffen aber nicht nachgedruckt werden duerfen, ganz anders sind, als in dem Kesseltreiben gegen Havemann und Biermann immer wieder behauptet wird. Ich habe auch Stimmen zitiert, die gegen die Verleumdung dieser Menschen als Schaedlinge und Feinde des Sozialismus und der DDR protestiert haben. Ich habe Peter Weiss und Heinrich Boell genannt [Stellenkommentar 1], ich habe den fuehrenden italienischen Kommunisten Professor Lombardo-Radice genannt, der Havemann verteidigt hat, in einem langen enthusiastischen Artikel in I' UNITA [Stellenkommentar 2], ich habe die oesterreichische kommunistische Kulturzeitschrift TAGEBUCH genannt, in der Ernst Fischer eine von Grund auf positive und unvergleichlich ueberzeugendere Einschaetzung des Dichters Biermann [Stellenkommentar 3] gibt als die Schimpfreden und Verleumdungen gegen Biermann bei Ihnen drueben, die man doch gar nicht als Einschaetzung bezeichnen kann!
Ich koennte diese Aufzaehlung fortsetzen. Die offizielle polnische Fachzeitschrift fuer philosophische Studien, STUDIA FILOSOFICZNE, enthaelt eine 33 Seiten lange Besprechung der Vorlesungen und Seminare Professor Havemanns [Stellenkommentar 4] an der Humboldt-Universitaet, eine keineswegs unkritische aber aeusserst positive Besprechung, in der es heisst: „Mit Recht betont Havemann die Wechselwirkungen zwischen dem Dogmatismus in der Philosophie und im gesamten Geistesleben, und zwischen dem Stalinismus im Bereich der Politik und der Administration.“ Sie sehen also, was die polnischen Genossen loben, das wird bei Ihnen zum eigentlichen Grund fuer das Kesseltreiben gegen Professor Havemann. Man kann die polnischen Genossen nur beglueckwuenschen, dass die Volksrepublik Polen nicht vom Politbuero der SED beherrscht wird, sonst wuerde es im polnischen Kulturleben vielleicht nicht gar so viel besser zugehen wie seinerzeit unter deutscher Besatzung im Zweiten Weltkrieg.
Verzeihen Sie, ich habe mich vielleicht von der Bitterkeit zu weit treiben lassen. Das war ein Gleichnis. So arg, wie unter hitlerdeutscher Besatzung waere es natuerlich nicht! Aber meine Bitterkeit kommt daher, dass das, was heute in der DDR verzapft wird, Schande genug ist! Und dass man dieser Flut von Entstellungen, von Luegen und Verleumdungen – ich kann leider kein hoeflicheres Wort finden – fast hilflos gegenuebersteht. Denn was nuetzt es, wenn italienische und polnische Genossen, englische, franzoesische und oesterreichische Genossen gegen die Verunglimpfung eines Havemann, eines Biermann, und so vieler anderer, empoert protestieren oder ratlos und entsetzt den Kopf schuetteln; solange diese Proteste in der DDR einfach totgeschwiegen werden, solange in der DDR solche schaendlichen Gemeinheiten veroeffentlicht werden koennen, wie der schmutzige Artikel in der Wochenendbeilage der JUNGEN WELT vom 11./ 12. Dezember ueber Wolf Biermann [Stellenkommentar 5]. Ich lese die JUNGE WELT nicht regelmaessig und hatte diesen Artikel nicht gesehen. Englische Kommunisten haben ihn mir unter die Nase gehalten und haben mich gefragt, ob diese Schmierfinken, die das schreiben, und drucken, ueberhaupt noch als Sozialisten bezeichnet werden koennen. Und ich muss sagen, der Artikel erinnert an nichts so sehr wie an die Nazizeitung „Der Stuermer“ unseligen Angedenkens.
[Die Frage, die einen wirklich beschaeftigt, ist, was eigentlich dahinter steht?] Stalin haette diese Politik natuerlich fuer voellig richtig gehalten. Aber Stalins Lehre, dass sich nach der Eroberung der Macht durch die Kommunisten der Klassenkampf noch intensiviert, ist doch laengst als verhaengnisvolle Irrlehre entlarvt worden, die nur den Vorwand fuer die blutigen Saeuberungsaktionen geliefert hat, die das Ansehen und die Verteidigungsbereitschaft der sozialistischen Laender und den guten Namen des Kommunismus in aller Welt aufs schwerste geschaedigt hat.
Und doch ist es offenbar diese Lehre Stalins von der Intensivierung des Klassenkampfes, die heute in der DDR wieder auflebt, auch wenn sich die verantwortlichen Funktionaere noch nicht trauen, sich zu diesem moerderischen Irrsinn wieder offen zu bekennen, weil sonst ihre Freundschaftsbeteuerungen gegenueber der Sowjetunion sehr zweifelhaft erscheinen muessen und sie sich als Brueckenbauer zwischen Stalin von vorgestern und China von heute enthuellen.
Es ist natuerlich von allem Anfang an klar, dass es den Verfolgern Professor Havemanns und Wolf Biermanns nicht nur um diese zwei Menschen ging und geht, und auch nicht um zehn oder zwanzig Menschen, sondern um viel mehr, um die zwangsweise Wiedereinfuehrung von Herrschaftsmethoden, die sich sowohl in der Praxis der Laender des sozialistischen Lagers als auch in der Wiedergeburt des marxistischen Geisteslebens seit Stalins Tod als unpraktisch und falsch erwiesen haben, als unvereinbar mit dem Geist von Marx und Engels, von Lenin und Rosa Luxemburg; jener Rosa Luxemburg, die uns daran erinnert hat, dass Freiheit nur dann Freiheit ist, wenn auch Andersdenkende Freiheit haben, und die im Jahre 1918 dem Genossen Lenin die Gefahr des Stalinismus vorausgesagt hat. Nun, die von Ihnen, die marxistisch gebildet sind, wissen, dass dieses Werk Rosa Luxemburgs, Die Russische Revolution [Stellenkommentar 6], in der DDR bis auf den heutigen Tag unterdrueckt ist. Und die das wissen, die wissen auch, dass es ein furchtbarer Hohn auf das Andenken Rosa Luxemburgs ist, dass gerade Paul Verner ihr die Gedenkrede [Stellenkommentar 7] gehalten hat, Paul Verner, der sich auf der letzten ZK-Tagung [Stellenkommentar 8] so verhalten hat, als haette er sich ausdruecklich vorgenommen, jede einzelne Mahnung Rosa Luxemburgs mit Fuessen zu treten. Paul Verner hat vom Vietnam-Krieg, von amerikanischer Aggression gesprochen und von der Bundesrepublik, die er als permanenter Stoerenfried jeder Entspannung bezeichnet hat. Nun, die von Ihnen, die mich entweder oefter hoeren oder die Zugang zu westdeutschen Zeitungen haben, werden wissen, dass auch ich die amerikanische Aussenpolitik, den Vietnam-Krieg und die Haltung der Bundesrepublik wiederholt scharf kritisiert habe und weiterhin kritisiere und bekaempfe. Aber, bedenken Sie: Alle Entwicklungen in der Bundesrepublik, vor denen man in der DDR warnt, aller selbstherrlicher Duenkel deutscher Menschen als gottgewollte Waechter und Kaempfer gegen den Kommunismus – das alles wird ungemein gefoerdert und gestaerkt und erhaelt geradezu erst eine Massenbasis durch die Rueckfaelle in den Stalinismus in der heutigen DDR, durch die Luegen und Verleumdungen gegen anstaendige Menschen aus den eigenen Reihen, in einer Sprache, die nicht nur buerokratischer Jargon ist, sondern in des Scherzwortes blutigster ernster Bedeutung mehr und mehr ein »Parteichinesisch«. Wenn ich ein polnischer, tschechischer oder russischer Kommunist waere, wuerde mich der neue Ton in der DDR mit Schrecken erfuellen. Wenn ich ein Mitglied der chinesischen Parteifuehrung waere, wuerde ich hoffnungsvoll aufhorchen. Mittlerweile kaempft das Regime gegen die ehrlichsten und begabtesten kommunistischen Dichter, Kuenstler, Philosophen und Wissenschaftler und isoliert sich immer mehr von der eigenen Bevoelkerung. Wohin soll dieser Irrweg fuehren? Er ist verderblich, und er ist – immer noch – leicht zu vermeiden. Er hilft auf die Dauer nur den Feinden der DDR.
Lyriker und Liedermacher (*1936 in Hamburg, ab 1953 in der DDR lebend, ab 1976 in der BRD), dessen Texte und Lieder zu Beginn der 1960er Jahre schrittweise verboten wurden (Totalverbot nach dem 11. Plenum des Zentralkomitees (ZK) der SED 1965; vorher Ausschluss aus der SED 1963).
Nach der Publikation der mittlerweile legendären „Drahtharfen“-Sammlung (1965) erschien ebenfalls im ‚Westen‘ bei Wagenbach 1968 die erste eigene Langspielplatte „Chausseestraße 131“. 1976 erfolgte nach einem Aufsehen erregenden Konzert in Köln seine Ausbürgerung. Dieser repressive Akt der SED-Führung führte zu einem radikalen Einschnitt in der DDR. Zahlreiche Künstler*innen protestierten gegen die Entscheidung, und es kam zu Verhaftungen und in Folge dazu, dass Intellektuelle die DDR verließen (vgl. Chotjewitz-Häfner/Gansel 1994 sowie Berbig 1994).
Zu Biermann, der mit Fried ästhetisch und politisch nicht immer einig war (und vice versa), vgl. u. a. das spätere Gedicht „Vom wehleidigen Wolf Biermann“. In: Wolf Biermann. Liedermacher und Sozialist. Hg. von Thomas Rothschild. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1976, S. 16f.
Schriftsteller (*1917 in Köln; †1985 in Kreuzau/Nordrhein-Westfalen). Nachdem er ab 1939 als Soldat im Zweiten Weltkrieg mehrmals verwundet worden war, beendete er in Köln – ermöglicht durch die Hilfsarbeit in der Schreinerei des Bruders – sein bereits 1939 begonnenes Studium der Germanistik. Erste literarische Texte erschienen ab 1947; 1949 beeindruckte er durch sein erstes Buch mit der Erzählung „Der Zug war pünktlich“, dem eine Vielzahl von Erzählungen, Romanen, Hör-, Schau- und Fernsehspielen folgten. Der Träger des Preises der Gruppe 47 und des Georg Büchner-Preises (1951 u. 1967) gilt als ein zentraler Autor der westdeutschen Nachkriegsliteratur, gekrönt mit dem Nobelpreis für Literatur 1972. Sein gesellschaftskritischer Blick auf die restaurative Entwicklung Nachkriegs-Deutschlands (auch in Bezug auf die etablierte Kirche) betraf im Lauf der Zeit u. a. auch den „Radikalenerlaß“ von 1972, den offiziellen und medialen Umgang mit der frühen Roten Armee-Fraktion (RAF) und die sogenannte Sympathisanten-Hetze (vgl. etwa die Erzählungen „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ und „Du fährst zu oft nach Heidelberg“ von 1972 und 1974). So blieb Böll als Schriftsteller und ‚Citoyen‘ mit ausgeprägter Zivilcourage in Erinnerung, die er zum Beispiel auch mit seiner Teilnahme an Protestaktivitäten der Friedensbewegung bewies (Sitzblockade vor dem Atomwaffenstützpunkt der Mutlanger Heide in Baden-Württemberg 1983).
In der DDR war Heinrich Böll der mit Abstand populärste Autor aus dem sogenannten westlichen Ausland. Ab 1956 bis zum Ende der 1980er Jahre erschienen 21 Romane und Erzählungen.
Mit dem Mauerbau vom 13.8.1961 zielte die DDR-Führung langfristig darauf ab, unter der künstlerischen Intelligenz im Westen „Bündnispartner“ zu finden. Böll galt als ein entscheidender Repräsentant und wurde zu einer „Strömung“ von „oppositioneller Literatur“ gerechnet, die eine „bürgerlich-demokratische Grundhaltung“ vertrete und in Distanz zur herrschenden BRD-Politik stehe. Diese offizielle Akzeptanz änderte sich ab 1974, nachdem Heinrich Böll den ausgebürgerten Alexander Solschenizyn aufgenommen und seine Freundschaft zu sowjetischen Dissidenten wie Andrej Sacharow und Lew Kopelew bekräftigt hatte (vgl. z. B. Streul 1988; des weiteren Bernhard 1970 und den Böll-Abschnitt in Bernhard 1983, S. 484–497).
Ein ausgeprägtes persönliches Naheverhältnis zwischen Fried und Böll stellte sich offenbar erst Anfang 1972 ein, nachdem der „Spiegel“ einen Leserbrief Frieds zur Unterstützung des im Rahmen der Debatte um die RAF politisch angefeindeten Heinrich Böll veröffentlicht hatte. Der Leserbrief führte schließlich zu einem vom Berliner Polizeipräsidenten angestrengten Beleidigungsprozess (1974), in dem nun Böll (dem letztlich freigesprochenen) Fried als ‚Sachverständiger‘ zur Seite stand (vgl. Brand 2003, S. 41–69 u. S. 309 sowie Fried-Boswell/Kaukoreit 1996, S. 106f. u. Fried, Böll 1986, S. 21). In seinen in der Folge getätigten Aussagen über Böll stellte Fried den Schriftstellerkollegen als Verfechter einer „Menschlichkeit“ vor, dem „nicht nur Pflichtgefühl sondern Anteilnahme“ die „Worte eingab“ (vgl. Fried, Anerkennung 1972, Fried, Kalokagathie 1982 und das Gedenkgedicht „Der nicht schwieg“ von 1985, Fried, Gedanken 1986, S. 213), und bezog sich auf ihn auch in seiner Büchnerpreis-Rede von 1987 (Fried, Anfragen 1994, S. 248). Der seit Anfang der 1970er Jahre einsetzende persönliche und politische Austausch spiegelt sich – wenn auch in unterschiedlicher Intensität – in den Korrespondenzen wider (vgl. als Beispiele Frieds langen Brief an Böll vom 5.7.1972 in: Fried, Briefe 2009, S. 52–60 und das Schreiben vom 6.2.1974 in: Kaukoreit/Vahl 1991, S. 45). Zu Gesprächen innerhalb (mehr oder weniger) sporadischer Zusammenkünfte vgl. Fried, Böll 1986.
Frieds Verhältnis zu und seine Einschätzung von Böll in den 1960er Jahren bleiben genauer zu untersuchen. Zuerst begegnet sind sie sich im Rahmen der Gruppe 47 im November 1965 in Berlin. Auch wenn es im dortigen persönlichen Austausch einen „Mißton“ gab (Fried, Böll 1986), verbindet sie um diesen Zeitraum herum auf jeden Fall der gemeinsame, mit anderen Mitgliedern der Gruppe 47 artikulierte Protest der „Erklärung über den Krieg in Vietnam“ im Hamburger Magazin „konkret“ (Dezember 1965; vgl. Lettau 1967, S. 459–462) und naheliegenderweise ihr Einsatz für Wolf Biermann. Vorher sollte Fried auch das differenzierende Statement zum Begriff des „engagierten Dichters“, das Böll 1964 im „Berliner Tagesspiegel“ abgab, zustimmend zur Kenntnis genommen haben (vgl. Fried, Gespräche 2021, S. 31 u. S. 72/130).
Politiker, Schriftsteller, Publizist, marxistischer Theoretiker und Kulturkritiker (*1899 in Komotau, Böhmen; †1972 in Prenning bei Deutschfeistritz, Steiermark), inskribierte 1919 Geschichte, Germanistik und Philosophie in Graz; schloss sein Studium 1945 in Wien mit der Promotion zum Dr. phil. ab. In Folge seiner Tätigkeit als Hilfsarbeiter in einer Brikettfabrik im April 1920 wurde er Mitglied der Gewerkschaft und der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP). Nach seiner Übersiedlung nach Wien war er 1927–1934 Redakteur der „Arbeiterzeitung“. 1934 emigrierte er nach Prag, wo er der KPÖ beitrat, und im gleichen Jahr weiter nach Moskau, wo er zeitweise im Volkskommissariat des Auswärtigen Amts der UdSSR als Leiter der Propagandaabteilung für Österreich tätig war. Ab 1935 war er Vertreter der KPÖ bei der Komintern und 1938–1943 Redakteur des deutschsprachigen Komintern-Organs „Die Kommunistische Internationale“. Nach seiner Rückkehr nach Österreich war Fischer von 1945–1959 als KPÖ-Mitglied Abgeordneter zum Nationalrat, dabei im Jahr 1945 als Staatssekretär im Staatsamt für Volksaufklärung, Unterricht und Erziehung und Kultusangelegenheiten quasi erster Unterrichtsminister der Zweiten Republik. Seit 1945 war er Mitglied des österreichischen PEN-Clubs, aus dem er 1956 ausgeschlossen wurde, weil er sich nicht von der Niederschlagung der ungarischen Revolution distanziert hatte. 1946–1947 Chefredakteur der parteiübergreifenden Zeitung „Neues Österreich“. 1957–1960 übernahm Fischer, der dort bereits seit 1948 redaktionell tätig war, die Leitung des „Tagebuchs“. Seit den späten 1950er Jahren löste er sich als Publizist allmählich von dogmatischen und doktrinären kommunistischen Positionen und näherte sich immer mehr dem Eurokommunismus, wie er sich auf anderer Ebene, z. B. mit seiner Wertschätzung des im Osten weitgehend verpönten Franz Kafka, auch gegen verkrustete Literaturdoktrinen zur Wehr setzte (vgl. zu seiner viel beachteten Teilnahme 1963 an der legendären Kafka-Konferenz in der ČSSR etwa Fetz 2000, S. 11 u. 161–166). Bis 1969 war er Mitglied des Zentralkomitees der KPÖ, aus der er ausgeschlossen wurde, nachdem er den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die CSSR 1968 als „Panzerkommunismus“ kritisiert hatte. Als Essayist, Kritiker, Lyriker und Dramatiker gehörte er zu den einflussreichsten kommunistischen Autor*innen Österreichs (zu Fischer in den 1920er Jahren vgl. Egyptien 2018, übergreifend etwa auch Fetz 2000).
Eine sehr frühe, wenn auch nur periphere Erwähnung Ernst Fischers als Dichter und Journalist der Emigration findet sich in einem Referat, das der junge Fried 1942 in London zur Frage der österreichischen Nationalliteratur hielt (vgl. Kaukoreit 1991, S. 465f., hier S. 466). Intensiver, da in Bezug auf seine eigene Person, wird Fried Fischer spätestens wieder seit 1960 wahrgenommen haben, als in einer Sammelrezension im „Tagebuch“ die noch ‚dunklen‘ „Gedichte“ von 1958 wohlwollende Beachtung finden (vgl. Fischer 1960).
Zu einer persönlichen Begegnung kam es allem Anschein nach erst im April 1962, als Fried erstmals nach seiner Flucht Wien besuchte. Daraus entwickelte sich zwischen den ungleichaltrigen Exilanten ein literarisch und politisch geprägtes Naheverhältnis. Plastisch belegen diese Freundschaft die nachgelassenen Briefwechsel (auch mit Louise Eisler Fischer). 1964 widmet Fried Ernst Fischer den Zyklus „Überlegungen“ (Fried, GW 1, S. 341–359, vgl. ergänzend auch Fischer 1965), eine Art poetisch-reflektorisches Zwiegespräch mit Fischer (s. Rothschild 1986). Bereits vorher, im August 1963, hatte Fischer dem jungen Dichter-Kollegen eine in Versform verfasste handschriftliche Zueignung in einem Exemplar seines unterschwellig antistalinistischen und damit DDR-kritischen Pastiches „Elegien aus dem Nachlass des Ovid“ überreicht (Fischer 1963; Hoffer 1993, S. 159). Aus dieser Widmung zitiert Fried in seinem Spätgedicht „Gedanken an Ernst Fischer“ (vgl. Fried, GW 3, S. 267–269, insbes. S. 269).
Dementsprechend verwundert es nicht, dass Fischer ab 1964 wiederholt als zentraler Bezugspunkt in Frieds BBC-Sendereihen aufscheint. Via „Intimus“ äußert er sich später beispielsweise auch über Fischers Ausführungen zu Johannes R. Becher im „Tagebuch“ (23.5.1966) und verteidigt Fischer wiederholt gegen Angriffe aus der DDR, so auch in der Reihe „Kultur und Ideologie“ (4.1.1967). Zu Fischer und Fried vgl. weitere Details bei Doll 2000.
Der deutsche Chemiker und politische Theoretiker Robert Havemann (*1910 in München; †1982 in Grünheide) war ab 1932 KPD-, später in der DDR SED-Mitglied. Er war in der NS-Diktatur wegen seiner illegalen Tätigkeit, der Gründung der Widerstandsgruppe „Europäische Union“ sowie der Verbindungen zur Gruppe „Rote Kapelle“ um Arvid Harnack zum Tode verurteilt worden. Die Vollstreckung des Urteils konnte nach Fürsprache verschiedener Behörden und einflussreicher Wissenschaftler*innen bis zum Kriegsende verzögert werden. Nach 1945 war er zunächst in Westberlin Leiter des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physikalische Chemie und Elektrochemie. Wegen seines Protestes gegen die Wasserstoffbombe der USA wurde ihm die Lehrbefugnis entzogen, zeitgleich erhielt er den Ruf auf eine Professur für Physikalische Chemie und wurde Direktor des gleichnamigen Instituts an der Humboldt-Universität zu Berlin. In der Folgezeit avancierte Robert Havemann, der Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Beiräte war und bis 1963 auch der Volkskammer angehörte, zu einem der prominentesten Wissenschaftler in der DDR. Er äußerte sich zunehmend auch zu philosophischen und politischen Themen. Erich Fried hatte bereits in den 1950er Jahren Havemanns Bedeutung für die DDR erkannt und sich in einer Sendung vom 18.12.1955 in der BBC kritisch mit dessen Aufsatz in dem für die Jugend edierten Buch „Weltall, Erde, Mensch“ auseinandergesetzt. Er warf Havemann u. a. vor, einen Anteil an der „Gleichschaltung der Jugend“ in der DDR zu haben. Aus der Kenntnis von Havemanns Rolle in der DDR nahm Erich Fried frühzeitig wahr, dass Robert Havemann zum wichtigsten Kritiker des Real-Sozialismus in der DDR wurde und zunehmend jüngere Künstler*innen anzog, darunter insbesondere Wolf Biermann. Den entscheidenden Einschnitt bildete im Wintersemester 1963/64 Havemanns Vorlesungsreihe „Naturwissenschaftliche Aspekte philosophischer Probleme“ an der Humboldt-Universität. Daraufhin wurde er am 12.3.1964 aus der SED ausgeschlossen und das Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen entzog ihm die Lehrbefugnis. 1965 verlor er seine Professur und erhielt faktisch Berufsverbot. Bereits am 25.3.1964 ging Erich Fried in der Sendereihe „Kultur und Ideologie“ bei BBC auf die „Absetzung Professor Havemanns“ ein, und in der Folge wurden Robert Havemann und Wolf Biermann zu jenen Intellektuellen in der DDR, die in den „Intimus“-Sendungen von Erich Fried nicht nur Unterstützung erfuhren, sondern die pars pro toto für einen „dritten Weg“ und einen demokratischen Sozialismus standen. Robert Havemann war bis zu seinem Tod 1982 der prominenteste Kritiker in der DDR, der in besonderem Maße eine jüngere Generation anregte und maßgeblich an der Entwicklung der DDR-Opposition beteiligt war. Im „Nachruf“ auf ihn verlautbarte Fried: „Ich habe Robert Havemann persönlich gekannt und habe gegen das ihm angetane Unrecht angekämpft. Deshalb durfte ich einige Jahre nicht in die DDR“ (Fried, Gedanken 1988, S. 167f.; vgl. auch das Gedicht „Ein Mann im Schatten“, in: europäische ideen, Heft 53/1982, S. 51).
Erst 2005 hat Arno Polzin von der „Behörde des/der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR“ (BSTU) in einer Studie belegt, dass Robert Havemann zwischen 1946 und 1963 für den sowjetischen Geheimdienst KGB und das Ministerium für Staatssicherheit als Geheimer Informant (GI) gearbeitet hat (siehe Polzin 2005 sowie Polzin 2008).
Lucio Lombardo-Radice (1916–1982) war ein italienischer Mathematikprofessor und zugleich führendes Mitglied der Kommunistischen Partei Italiens. Er gehört in den 1960er Jahren zu den wichtigen Vertreter*innen des sogenannten Eurokommunismus und war ein Kritiker an der Einschränkung individueller Freiheit in den “Volksdemokratien” und an deren Umgang mit Dissident*innen (siehe dazu Albers/Hindels/Lombardo-Radice 1979, Martini 2010, Laitko 2001 u. Lill 2001).
Rosa Luxemburg (*1871 in Zamość [im sogenannten Kongresspolen]; †1919 in Berlin), deutsch-polnische Politikerin. Bis 1914 war sie Wortführerin des linken Flügels in der SPD, später Mitbegründerin der antimilitaristischen „Gruppe Internationale“, die 1917 zur Gründung des „Spartakusbundes“ führte. Anfang 1919 war sie Mitbegründerin der Kommunistischen Partei Deutschlands, während der Novemberrevolution Chefredakteurin der Zeitung „Rote Fahne“. Die Oktoberrevolution wurde von ihr grundsätzlich begrüßt, Kritik übte sie an Lenins Auffassung vom demokratischen Zentralismus. Nach der Niederschlagung des Spartakusaufstandes wurde sie 1919 von rechtsradikalen Offizieren ermordet.
Fried zählte Rosa Luxemburg 1985 zu seinen „Heldinnen der Geschichte“. Dementsprechend gibt es von ihm wiederholt Bekenntnisse zu ihr, die er mit Zitaten wie „Die Freiheit ist immer Freiheit des anders Denkenden“ oder „Keine Demokratie ohne Sozialismus! Kein Sozialismus ohne Demokratie!“ bekräftigte (vgl. z. B. Fried, Gespräche 2021, S. 88f.) und freilich auch mit Anspielungen auf sie im literarischen Werk bis hin zu dem Gedicht „Rosa Luxemburg: 31. Mai 1919“ (Fried, GW 3, S. 283f.).
Deutscher Kommunist (*1911 in Chemnitz; †1986 in Ost-Berlin), er gehörte 1946 zu den Mitbegründer*innen des Jugendverbandes in der DDR, der Freien Deutschen Jugend (FDJ); ab 1950 war er Mitglied des ZK der SED (von 1958 bis 1984 dessen Sekretär), von 1963 bis 1984 Mitglied des Politbüros, von 1959 bis 1971 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin und als Vertrauter von Erich Honecker von 1971 bis 1986 Leiter der Jugendkommission beim Politbüro der SED, ab 1981 Stellvertretender Vorsitzender des Staatsrates. Paul Verner gehörte zur dogmatischen Richtung in der SED.
Deutsch-schwedischer Schriftsteller jüdischer Herkunft väterlicherseits (*1916 in Nowawes bei Potsdam; †1982 in Stockholm – mit den Exilstationen England 1934, Tschechoslowakei 1936, Schweiz 1938, Schweden 1939), in seinen Anfängen auch bildender Künstler und Experimentalfilmer. Hauptwerke u.a. „Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade“ (Drama, Uraufführung Berlin 1964), „Die Ermittlung. Oratorium in elf Gesängen“ (Dokumentartheaterstück zu den Frankfurter Auschwitz-Prozessen, 1965) und „Die Ästhetik des Widerstands“ (Roman in drei Bänden, 1975–1981).
Wie für Heinrich Böll galt eine gewisse offizielle Akzeptanz in der DDR auch für Peter Weiss, der durch seine 1965 publizierten „10 Arbeitsstandpunkte eines Autors in der geteilten Welt“ mit dem darin enthaltenen Bekenntnis zum Sozialismus besonders über sein dramatisches Werk in der DDR rezipiert und vor allem am Rostocker Volkstheater gespielt wurde. In Folge des 1970 uraufgeführten Stücks „Trotzki im Exil“ (vgl. etwa Mandel 1970) kam es zu einem zeitweisen Bruch mit der DDR (vgl. aus ostdeutscher Sicht die kurze Einschätzung bei Bernhard 1983, S. 366). Dennoch blieb Peter Weiss trotz des Versuchs, die Publikation der „Ästhetik des Widerstandes“ hinauszuzögern, ein Autor, der in der DDR unter Intellektuellen hochgeschätzt wurde. Die „Ästhetik des Widerstandes“ bildete in der DDR in den 1980er Jahren die Folie der Auseinandersetzung mit dem Real-Sozialismus (vgl. Krenzlin 1987).
Erich Fried und Peter Weiss sind sich höchstwahrscheinlich zum ersten Mal auf der Saulgauer Tagung der „Gruppe 47“ im Oktober 1963 persönlich begegnet. In diesem Kontext trafen sie sich auf den drei folgenden Tagungen wieder (1964-1966), ein Zeitraum, in dem sich beide politisch immer entschiedener ‚links‘ positionierten und fürderhin einem – keiner KP-orthodoxen Linie verpflichteten – ‚demokratischen Sozialismus mit menschlichem Antlitz‘ das Wort sprachen. Dies führte u. a. auch zu den bekannten Konflikten innerhalb der Gruppe 47, kulminierend in dem Angriff von Günter Grass auf der „Princeton University Conference“ im April 1966, wo Grass schriftstellerisches ‚humanistisches Engagement‘, namentlich vor allem am Beispiel Peter Weiss, zu diskreditieren trachtete. Fried, der sich bereits 1965 in den Versen „Quo Vadis“ für Weiss verwendet hatte, protestierte gegen diese „üble Nachrede“ u. a. in seinem Gedicht „GRASS-GRÄSSLICHKEITEN oder MAN KANN DEN GRASS WACHSEN HÖREN“ (vgl. zu diesen Zusammenhängen z.B. Kaukoreit 1999, insbes. S. 134 u. S. 143f., sowie Kramer 1999, insbes. S. 171). Der fortbestehende Konsens zwischen Weiss und Fried spiegelt sich 1968 etwa im gemeinsamen Protest gegen den Krieg in Vietnam und einem Gespräch über den „Prager Frühling“ wider, das bei einem Treffen in Stockholm geführt wurde (vgl. Fried-Boswell/Kaukoreit 1996, S. 91 und Fried, Gespräche 2021, S. 90–99; ergänzend auch Frieds „Persönliche Erinnerungen“ in: Muse 1995, S. 173–175/232f., sowie Hoffer 1993, S. 167).
Die russische Revolution (postum, Berlin: Verl. Gesellschaft und Erziehung 1922)
GND: http://d-nb.info/gnd/1139649450; Digitalisat
Antisemitisches Hetzblatt, ab 1923 (bis Februar 1945) von dem Nationalsozialisten Julius Streicher herausgegeben.
GND: https://d-nb.info/gnd/4149147-6
Überregionale Tageszeitung in der DDR, gegründet 1947 im Sowjetischen Sektor von Berlin sowie der damaligen Sowjetischen Besatzungszone (SBZ). Sie erschien zunächst wöchentlich, ab März 1952 wöchentlich sechsmal im Verlag Junge Welt mit dem Untertitel „Organ des Zentralrats der FDJ“. Insofern war die Zeitung Sprachrohr der staatlich anerkannten und geförderten Jugendorganisation in der DDR, der FDJ. Entsprechend richtete sie ihren Fokus auf die junge Generation und suchte thematisch und mit entsprechenden Darstellungsweisen die Jugend als Leserschaft zu gewinnen. Mitte der 1970er Jahre lag die Auflage bei einer Million, zur Wende im Jahr 1990 betrug die Auflage ca. 1,6 Millionen, womit die „Junge Welt“ die auflagenstärkste Tageszeitung noch vor dem „Neuen Deutschland“ war.
Tageszeitung und offizielles Organ der Kommunistischen Partei Italiens (1924–2000; Wiederaufnahme mit Unterbrechungen ab 2001 bis zur endgültigen Einstellung 2017).
Bei „Studia Filosoficzne“ handelt es sich um die wichtigste polnische philosophische Zeitschrift im Zeitraum von 1957 bis 1990. Herausgegeben wurde sie von der Polnischen Akademie der Wissenschaften, die erste Ausgabe erschien im November 1957. Die Zeitschrift veröffentlichte Beiträge zu sämtlichen philosophischen Disziplinen, die zur Philosophie gerechnet wurden, wie Logik, Philosophiegeschichte, Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie, Moraltheorie, Ästhetik und Kulturtheorie. Die Auflage der ersten Ausgabe belief sich auf 2.500 Exemplare. Erster Chefredakteur war Leszek Kołakowski (1927–2009), der von 1957 bis 1968 Professor und Leiter der Abteilung für Geschichte der modernen Philosophie an der Universität Warschau war. Kołakowski wurde 1966 aus der Polnischen Arbeiterpartei ausgeschlossen, 1968 erhielt er in Polen ein Vortrags- und Publikationsverbot, worauf er ins Exil zunächst nach Paris, dann nach Montreal und schließlich nach Oxford ging.
Die von der KPÖ finanzierte, antifaschistische „Wochenschrift für Kultur, Politik, Wirtschaft“ wurde im April 1946 unter dem Titel „Österreichisches Tagebuch“ gegründet. Wenn auch einige Beiträge dem doktrinären, stalinistischen Geist entsprungen waren, verstand sie sich grundsätzlich als offenes Diskussionsforum, das den Dialog zwischen Christentum und Sozialismus und damit einen ‚Dritten Weg‘ befördern sollte. Nach Alexander Sacher-Masoch übernahm 1947 der kommunistische Publizist Bruno Frei die redaktionellen Agenden. Ab 1950 leitete die nunmehr „Tagebuch“ benannte Zeitschrift Viktor Matejka, der zwischen 1945 und 1949 Wiener Stadtrat für Kultur und Volksbildung war. 1957 übernahm Ernst Fischer, der bereits seit 1948 redaktionell tätig war, die Leitung; 1960 wieder Bruno Frei. Die Zeitschrift bekämpfte die allgemeine antikommunistische Stimmung in Österreich, setzte sich für die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit ein und polemisierte gegen den Einfluss ehemaliger Nationalsozialisten auf das politische Leben Österreichs. Im Gefolge des Prager Frühlings entfernte sie sich immer mehr von der KPÖ-Parteilinie, was 1969 zum endgültigen Bruch führte. In den letzten Jahrzehnten wurde die Zeitschrift unter dem Namen „Wiener Tagebuch“ geführt. Sie vertrat eine ungebundene, aufgeschlossene linke Richtung. 2019 wurde das Nachfolgeprojekt „Tagebuch – Zeitschrift für Auseinandersetzung“ gegründet. (Vgl. etwa Pfoser 2010 und Zoppel 1995). – Im „Tagebuch“ veröffentlichte ab 1966 auch Erich Fried.
In der „Intimus“-Sendung vom 20.12.1965 zitierte Fried ausführlich aus in der „Zeit“ erschienenen Stellungnahmen von Böll und Weiss, die auf den Frontalangriff auf Biermann im „Neuen Deutschland“ (Höpcke 1965) reagierten. Die von Fried zitierte Erklärung von Peter Weiss beginnt: „Mit Entsetzen sehe ich, auf welche Weise ein Autor der DDR, Wolf Biermann, öffentlich für seine Meinung abgeurteilt wird. Ich bin kein Freund des Bonner Staats, doch ich habe trotz der Angriffe, die auch über mich ergingen, bisher jede meiner Arbeiten dort veröffentlichen und meine Stücke aufführen können. Wenn ich für den Sozialismus eintrete, dann tue ich dies, weil zu meiner Vorstellung des Sozialismus die freie Meinungsäußerung gehört.“ Das Statement schließt: „Als humanistischer Schriftsteller erkläre ich meine Solidarität mit Wolf Biermann.“ (Die Zeit, Nr. 51 vom 17.12.1965, S. 17).
Wie aus der „Intimus“-Sendung vom 10.1.1966 hervorgeht, erschien der betreffende Artikel von Lombardo-Radice am 5.1.1966 (vgl. Fried, Anfragen 1994, S. 270). Zum weiteren Kontext: Lombardo-Radice hatte Havemanns Studie „Dialektik ohne Dogma“ gelesen, die 1965 unter dem Titel „Dialettica senza dogma. Marxismo e scienze naturali“ im Verlagshaus Einaudi erschienen war. Auf einen Brief von sieben linientreuen Philosophen der DDR, die sich in der Sache Havemann an die kommunistische Zeitung „L’Unità“ gewandt hatten, reagierte das Parteiorgan und deutete die Meinungsverschiedenheiten an, die es in den letzten Jahren zwischen der SED und der KP Italiens gegeben hatte. Mit Blick auf Havemann hieß es: „Auch wenn es vielleicht zutrifft, dass Havemann positivistische Tendenzen vertritt, kann dieses Problem nicht durch eine Verurteilung dieser Position gelöst werden. Die kulturellen und ideellen Probleme können nur durch eine Debatte auf Augenhöhe aus dem Weg geräumt werden, ohne dass von Anfang an eine Position als privilegiert angesehen wird“. (Una lettera sul „caso Havemann“. In: L’Unità vom 5.4.1966). Lombardo-Radice schrieb eine positive Besprechung in der Zeitung „L’Unità“. In der Folgezeit nahm er Kontakt zu Havemann auf und traf ihn in Ostberlin. Danach geriet er in das Visier des Ministeriums für Staatssicherheit (die Dokumente der Stasi über Lucio Lombardo-Radice befinden sich als Fotokopie in: Robert-Havemann-Archiv, MfS, AU 145/90, Bd. 5, und MfS, AQP 5469/89 98). Nachdem Lombardo-Radice im Dezember 1966 an einem Runden Tisch im bundesdeutschen Fernsehen teilgenommen hatte, gab es im „Neuen Deutschland“ einen Beitrag von Max Friedrich, der Lombardo-Radice revisionistische Positionen zum Vorwurf machte (Friedrich 1966).
In der vorhergehenden „Intimus“-Sendung vom 10.1.1966 hatte Fried aus dem „Tagebuch” (1/1966, S. 9) einen Auszug aus Ernst Fischers äußerst wohlwollendem Artikel „Wolf Biermann: Balladen, Gedichte, Lieder” zitiert (vgl. Fried, Anfragen 1994, S. 270).
Der umfangreiche Besprechungsaufsatz in den „Studia filozoficzne“ (9 [1965], Nr. 4, S. 77–109) stammt von Helena Eilstein. Am 15.6.1964 teilte sie in einem Brief an Havemann mit, dass Teile aus „Dialektik ohne Dogma“ sowie ein Beitrag dazu von ihr in „Studia Filozoficzne“ erscheinen sollen (Robert Havemann Archiv in der Robert Havemann-Gesellschaft, Berlin, Sign. RH019, Bd. 60). Eilsteins Aufsatz ist der einzige im Ostblock, der Havemanns Positionen ernst nimmt.
Bei Helena Eilstein (1922–2009) handelt es sich um eine polnische Philosophin. Sie war 1939 in die UdSSR geflohen und dort in Verbindung mit dem „Großen Terror“ unter Stalin in den Fernen Osten verbannt worden. Von 1958 bis 1968 arbeitete sie am Institut für Philosophie und Soziologie der Polnischen Akademie der Wissenschaften (PAN) in Warschau, sie war neben Leszek Kołakowski Herausgeberin der „Studia Filozoficzne“. 1968 wurde sie durch die antisemitischen Pogrome der polnischen Kommunisten ins Exil getrieben und nahm eine Professur in Albuquerque an, erst 1993 kehrte sie nach Polen zurück.
Schon im Vorfeld des 11. Plenums des ZK der SED (16.–18.12.1965) wurde offiziell gegen Wolf Biermann vorgegangen. Am 5.12.1965 erschien, worauf Fried bereits in seiner Sendung vom 20.12.1965 Bezug nimmt, im „Neuen Deutschland“, dem Zentralorgan der SED, ein längerer Kommentar ihres einflussreichen Kulturredakteurs Klaus Höpcke, der die Gedichte aus dem Lyrikband „Drahtharfe“ scharf kritisierte. Die Sammlung war 1965 im Verlag Klaus Wagenbach erschienen und enthielt Texte aus den Jahren 1960 bis 1965. Angegriffen wurde Biermann, weil er den „antifaschistischen Schutzwall“ und die Grenzsoldaten in Misskredit gebracht habe und dem „Vermächtnis seines Vaters“ untreu geworden sei, der „als Antifaschist im Konzentrationslager ermordet wurde“ (Höpcke 1965; Digitalisat).
In der Zeitung „Junge Welt“, dem „Organ des Zentralrats der FDJ“, mithin der Jugendorganisation in der DDR, folgte in der Wochenendbeilage vom 10./11. Dezember erneut der Vorwurf des vermeintlichen Verrats am ‚antifaschistischen‘ Vater. Unter dem Aufmacher „Wir dulden keinen Schmutz [...]“ kritisierte nun Rulo Melchert, dass Biermann die arbeitende Bevölkerung der DDR pauschal abqualifiziere. Wie schon im „Neuen Deutschland“ wurde Biermann vorgeworfen, dass er mit der SED, mithin der „Partei der Arbeiterklasse“, die „führende Kraft beim Aufbau des Sozialismus“ verunglimpfe. Wenn es in einem seiner Texte heiße, „Mein Parteiabzeichen ist mein Käfig“, sei dies gleichzusetzen mit einem Angriff auf den Sozialismus als Ganzes. Die Polemik schafft mit einem „Wir“ ein Gemeinschaftsgefühl, und der Autor gibt damit vor, im Namen des Volkes und der ‚wahren‘ Sozialisten, die keine, wie Biermann es nenne, „Büro-Elefanten“ und „Idioten“ seien, zu sprechen. Indem das Gegenüber despektierlich ver[un]sachlicht, ja geradezu zum Tier degradiert wird („der Wolf Biermann“), erzeugt die Wir-Form eine manichäische Dichotomie, nach der die Welt in Gut und Böse, richtig und falsch eingeteilt wird. Dem durch die Partei vertretenen Kollektiv wird ein verkommenes Individuum entgegengestellt, das nicht nur politisch schädlich, sondern auch – worauf bereits das „Neue Deutschland“ abzielte – pornographisch ‚unanständig‘ sei. In die Nähe der Androhung existenzieller Vernichtung reichen die Schlussworte: „Wir haben uns hoffentlich so deutlich ausgedrückt, daß diesmal nicht einmal der Wolf Biermann umhin kommt, zu begreifen, was wir meinen.“ (Melchert 1965; vgl. ergänzend Fiedler/Meyen 2012).
Rosa Luxemburgs Schrift „Die Russische Revolution. Eine kritische Würdigung“ wurde von Paul Levi 1922 aus dem Nachlass herausgegeben, dort findet sich auf S. 109 der Wortlaut „Freiheit ist immer Freiheit des anders Denkenden.“ (Digitalisat) Dabei handelt es sich im Manuskript um eine Notiz am linken Rand, die insgesamt wie folgt lautet: „Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer nur Freiheit des anders Denkenden. Nicht wegen des Fanatismus der ‚Gerechtigkeit‘, sondern weil all das Belehrende, Heilsame und Reinigende der Freiheit zum Privilegium wird.“
Die von Levi herausgegebene Schrift ist seit der Veröffentlichung nicht nur in der kommunistischen Bewegung kontrovers aufgenommen worden, wobei Ablehnung dominierte. In den 1920er Jahren gab es den Begriff des „Luxemburgismus“, der als ideologische Abweichung galt und zum Parteiausschluss führen konnte. Stalin verschärfte diese Sicht, indem er die Positionen von Luxemburg und ihren Anhänger*innen als „halb-menschewistisch“ brandmarkte. In der DDR wurde die Schrift – wie Fried zutreffend anmerkt – zunächst „unterdrückt“. Erst 1970 wurde mit der Edition von Rosa Luxemburgs „Gesammelten Werken“ im Dietz Verlag begonnen. Darunter war auch ihr Manuskript „Zur russischen Revolution“, das allerdings eine kritische, mithin abwehrende Einordnung erfuhr. Die von Ottokar Luban bereits für die Endsechziger konstatierte „Versachlichung“ in der Forschung setzte konsequent erst ab Beginn der 1980er Jahre ein (siehe u. a. Luban 2006).
Es handelt sich um die Ansprache, die Paul Verner am 16.1.1966 hielt, also einen Tag vor Frieds „Intimus“-Sendung, anlässlich der traditionellen Liebknecht-Luxemburg-Demonstration, die jährlich zum Gedenken an die am 15.1.1919 ermordeten Gründer*innen der Kommunistischen Partei stattfand. Der Demonstrationszug endete an der Gedenkstätte der Sozialisten in Berlin-Friedrichfelde. Hier hielt Paul Verner die Gedenkrede, vgl. die Ankündigung im „Neuen Deutschland“, Nr. 11 vom 11.1.1966, S. 8. Dem Aufmacher-Bericht darüber unter dem Titel „Kampfdemonstration von 160 000 Berlinern“ in der Nr. 17 vom 17.1.1966 folgt auf S. 1f. der Abdruck von Verners im „Vermächtnis von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg“ gehaltener Rede, in der es u. a. heißt: „Kein Gerede kann heute mehr darüber hinwegtäuschen, daß das Bonner Regime als der Hauptverbündete des USA-Imperialismus in Europa offen die amerikanische Aggression unterstützt. Immer bedrohlicher wird die Gefahr, daß Westdeutschland in den schmutzigen Krieg in Vietnam hineingezogen wird. Und wenn es nach dem alleinigen Willen der ultrareaktionären Kreise in Westdeutschland und Westberlin ginge, dann möchten sie sogar den schmutzigen Krieg in Vietnam auch in Deutschland vom Zaun brechen.“
In der umfangreichen Diskussion während des Plenums kamen zahlreiche SED-Funktionär*innen aus unterschiedlichen Bereichen zu Wort. Zum Bereich Kultur im engeren Sinne gehörten als Redner Kurt Hager, Hans Koch, Marianne Lange, Heinz Ademeck, Günter Witt, Helmut Sakowski, Alfred Kurella, Christa Wolf und Paul Verner. Letzterer spricht am 16.12. am Vormittag nach Alfred Kurella und Christa Wolf. In seiner Rede greift er in aggressiver Form Autor*innen und Filmemacher*innen an, weil sie vermeintlich Zweifel am Sozialismus transportieren würden. Mehrfach werden die Positionen von Christa Wolf kritisiert. Bei Volker Brauns Stück „Der Kipper Paul Bauch“ lehnt er die vermeintlich negative Darstellung der Arbeiterklasse ab. Zu den Filmen „Das Kaninchen bin ich“ (Kurt Maetzig) und „Denk bloß nicht ich heule“ (Frank Vogel), die in Folge verboten wurden, heißt es: „Die Filme sind nicht schlecht (…), sondern sie sind politisch falsch und schädlich und bedeuten im Grund genommen einen Angriff gegen die sozialistische Gesellschaft in der DDR.“ Zudem verurteilt Verner scharf, dass einige Künstler*innen den „Bitterfelder Weg“ falsch interpretiert hätten. Denn sie meinen, dass „jeder Künstler sagen darf, was er will, das ist Anarchie“ (zit. nach den Tonaufnahmen im Bundesarchiv, TONY 1/1365). Zum 11. Plenum des ZK der SED siehe des weiteren Günter Agde 1991 sowie die umfassende Darstellung bei Decker 2015. Zu Teilfragen vgl. auch Gansel 2014a und Gansel 2014b. – Mit dem sogenannten „Kahlschlag-Plenum“ und den „Anklagen und Beschuldigungen gegen Filmschaffende, Künstler und Schriftsteller“ hatte sich Fried bereits in der „Intimus“-Sendung vom 20.12.1965 auseinandergesetzt, des Weiteren etwa auch in der BBC-Reihe „Kultur und Ideologie“, wo er sich am 29.12.1965 hauptsächlich mit den Positionen von Alfred Kurella und Kurt Hager beschäftigt.
Nach dem Mauerbau vom August 1961 war in der DDR eine veränderte politische Situation entstanden, und auch innerhalb der SED bestand keine Einigkeit über den veränderten Kurs. Walter Ulbricht setzte auf eine Neue Ökonomische Politik der Planung und Leitung (NÖP), wollte angesichts der problematischen wirtschaftlichen Situation Reformen umsetzen, eine schrittweise Modernisierung in Gang bringen und dazu den volkseigenen Betrieben mehr Eigenverantwortung geben (vgl. Gansel 2014a und Gansel 2014b). Zu diesem Zweck hatte Ulbricht auf dem VI. Parteitag der SED (Januar 1963) eine Neuorientierung der Wirtschaftspolitik angekündigt, die nach dem „Grundsatz des höchsten ökonomischen Nutzeffekts“ und der „materiellen Interessiertheit“ ausgestaltet sein sollte und sich auch daran zeigte, dass Wirtschaftsspezialist*innen ins Politbüro der SED einrückten. Wo es um eine Erhöhung der Eigenverantwortung ging, bedurfte es einer zurückhaltenden Reform des politischen Systems sowie der Freisetzung kreativer Potentiale gerade der jüngeren Generation, mithin einer gewissen Liberalisierung. Und in der Tat: Wohl nur in diesem ausgesprochen kurzen Zeitfenster Anfang der 1960er Jahre drängten ausgewählte Vertreter*innen der SED-Führung, Intellektuelle wie auch Teile der Bevölkerung gemeinsam auf Reformen. Es gab ein Frauenkommunique (Dezember 1963), eine Jugendkommission beim Politbüro des ZK der SED wurde unter Leitung von Kurt Turba eingerichtet (Juli 1963) und ein Rechtspflegeerlass verabschiedet, der auf Vorbeugung und Resozialisation setzte. Auch die Installierung der Arbeiter- und Bauerninspektion (Mai 1963), die sich mit der „Bekämpfung und Ausmerzung von Bürokratismus, Schönfärberei, Berichtsfälschungen, Vergeudung von gesellschaftlichem Eigentum und Amtsmißbrauch“ auseinandersetzen sollte, fällt in diese Zeit. Rückblickend kann eingeschätzt werden, dass ‚konservativen Kräften‘ in der SED um Erich Honecker dieser Reformkurs Ulbrichts zu weit ging, weil sie eine Erosion des Machtmonopols der SED befürchteten. Hinzu kam der Umstand, dass die von Ulbricht anvisierten Wirtschaftsreformen nicht wie erhofft griffen. Aus diesem Grunde war das 11. Plenum 1965 eigentlich als Tagung geplant, auf der es um Wirtschaftsfragen gehen sollte. Ab Mitte des Jahres wurden nun gezielt in der Tagespresse und in Informationen, die dem ZK der SED zugingen, Berichte lanciert, die anzeigten, dass sich unter dem Deckmantel von mehr Eigenverantwortung vermeintlich revisionistische Positionen unter der künstlerischen Intelligenz breit machten und in der Jugend eine kritische Haltung gegenüber dem DDR-Sozialismus zunahm, gepaart mit sogenanntem Rowdytum, Skeptizismus und der Verherrlichung westeuropäischer Beatmusik (vgl. Gansel 2021). Erich Honecker berief daher vorsorglich zum 11.10.1965 eine außerordentliche Sitzung des Sekretariats des ZK der SED ein, in der es um „Fragen der Jugendarbeit und dem Auftreten von Rowdy-Gruppen“ ging. Vor diesem politischen Hintergrund schwenkte auch Ulbricht letztlich um und korrigierte die zurückhaltenden Reformversuche, indem mit dem Angriff gegen angeblich unbotmäßige Künstler erneut eine Art Exempel statuiert wurde (vgl. Reimann/Schreyer 2018).
Mit Datum vom 28.12.1965, also in unmittelbarem Zusammenhang mit der Sendung „Persönliche Betrachtung“ vom 17.1.1966, gibt es einen Auskunftsbericht des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) zu Erich Fried, der wesentliche Stationen der Biografie zusammenfasst und mit dem Erscheinen seines Romans „Ein Soldat und sein Mädchen“ 1960 endet. Der Auskunftsbericht liefert im zweiten Teil eine dreiseitige Einschätzung des Autors, von dem es zunächst heißt, dass er in der „Londoner Emigration“ gelebt hat. Der Bericht notiert, dass Fried nach 1945 von „Übersetzungen für westdeutsche und österreichische Verlage gelebt“ und vor allem Werke „des walisischen Dichters Dylan Thomas“ übersetzt habe. Dieser wäre „eine ähnliche Type wie Biermann“ gewesen. 1943 verstorben, sei er „schon als Jugendlicher verlottert, verfiel dem Alkoholismus, der sexuellen Ausschweifung und der Liederlichkeit.“ Erich Frieds Interesse für Biermann, so vermutet der Bericht, der mit „Anton“ unterschrieben ist, könne daher rühren, „daß Biermann ein ähnlicher Typ ist“ (BstU, MfS HA XX, Nr. 266, Blatt 0020ff.). Der Auskunftsbericht findet sich in den Unterlagen der Hauptabteilung XX, die für den Bereich Kultur zuständig war. Gleichzeitig liegt – und das ist für die „Persönliche Betrachtung“ besonders relevant – mit Datum vom 22.1.1966 eine so bezeichnete KK-Erfassung für Erich Fried vor, der damit in die zentrale Personenkartei aufgenommen wurde. Mit der KK-Erfassung entstand aus den diversen Informationen und Berichten eine Art verdichteter Subtext, den das MfS auf Kerblochkarteien abspeicherte. Diese Kerblochkarteien verwendete das MfS seit 1960, ab 1965 waren sie offiziell verbindlich. Mehrfach wird im KK-Subtext die Beziehung zu Robert Havemann erwähnt. Wie wichtig dem MfS ab Mitte der 1960er Jahre Erich Fried geworden war, belegt auch ein Vernehmungsprotokoll vom 22.3.1966, mithin ca. zwei Monate nach der „Persönlichen Betrachtung“. In dem Protokoll wird die „Beschuldigte“ ausführlich zu ihren Kontakten zu Robert Havemann sowie dessen Beziehung zu Erich Fried vernommen (MfS AOP, Archiv-Nr. 5469/89).
Fried argumentiert von einem undogmatischen, antistalinistischen sozialistischen Standpunkt aus. In seiner Kritik an den ideologischen Praktiken der zeitgenössischen offiziellen DDR-(Kultur-)Politik benutzt er die Argumentationsstrategie der Ambiguität und der Begriffsdissoziation: Sie betrifft in erster Linie das Begriffsfeld „Kommunismus“ – „Kommunist“ – „kommunistisch“. Auf der Entgegenstellung eines wahren, „ehrlichen“ und eines irrigen, falschen Kommunismus beruht Frieds ideologiekritischer Diskurs. Indem er die DDR von einem sozialistischen Standpunkt aus kritisiert, versucht er im Ost-West-Spannungsverhältnis die Gräben nicht zu vertiefen, sondern eine Brücke zwischen den westlichen Linken und den antistalinistischen Sozialist*innen in den Staaten jenseits des Eisernen Vorhangs zu bauen. Den einen Brückenkopf bilden dabei die Distanzierung von strikt antikommunistischen ‚westlichen‘ Positionen und die Kritik an den kapitalistischen Staaten, wenn er etwa beteuert, „dass auch ich die amerikanische Außenpolitik, den Vietnam-Krieg und die Haltung der Bundesrepublik wiederholt scharf kritisiert habe“. Damit demonstriert er seine politische Unabhängigkeit. Der andere Brückenkopf ist der Rückbezug auf in der DDR anerkannte deutschsprachige Autoren wie Heinrich Böll und Peter Weiss sowie auf kritische europäische Kommunist*innen – „italienische und polnische Genossen, englische, franz[ö]sische und [ö]sterreichische Genossen“: Diese und ihre publizistischen Organe wie beispielsweise „[d]ie offizielle polnische Fachzeitschrift für philosophische Studien“ sind die Autoritäten (Auctoritates), die für die Stichhaltigkeit von Frieds Argumentation Zeugnis (Testimonium) ablegen. Fried setzt dabei auf eine abwägende und zugleich dialektische Argumentation, wonach etwa die DDR nicht dem Sozialismus zuarbeite, sondern ihm schade. Er scheut sich dabei nicht, sich selbst in einem radikal subjektiven Stil als moralische Autorität zu installieren, wobei er vor Kraftausdrücken und provozierenden Vergleichen (beispielsweise der Vergleich der Sprache eines Artikels in der „Jungen Welt“ mit der des „Stürmer“) nicht zurückschreckt. Dysphemismen, Maledicta und Pejorativa – beispielsweise „Schande“, „schändliche Gemeinheiten“, „schmutzige Artikel“, „Schmierfinken“, „mörderischer Irrsinn“, „selbstherrlicher Dünkel“ – können als eine Art Retourkutsche der Diffamierungen gegen Havemann und Biermann, die Fried anprangert, betrachtet werden. In der Polemik gegen den „bürokratischen Jargon“, in dem die „Lügen und Verleumdungen“ gegen kritische Sozialist*innen vorgebracht werden, verfährt Fried sprachkritisch. Mit einem Wortspiel wird die Sprache des Argumentationsgegners als „Fachchinesisch“ bezeichnet. Die übertragene Bedeutung soll dabei auch wörtlich verstanden werden, als Verweis auf die zeitgenössische stalinistische Ideologie in China.
Agde 1991 = Kahlschlag. Das 11. Plenum des ZK der SED 1965. Hg. von Günter Agde. Berlin: Aufbau TB 1991.
Albers/Hindels/Lombardo-Radice 1979 = Otto Bauer und der „dritte“ Weg. Die Wiederentdeckung des Austromarxismus durch Linkssozialisten und Eurokommunisten. Hg. von Detlev Albers, Josef Hindels und Lucio Lombardo-Radice. Frankfurt am Main, New York: Campus 1979.
Berbig 1994 = In Sachen Biermann. Protokolle, Berichte und Briefe zu den Folgen einer Ausbürgerung. Hg. von Roland Berbig u. a. Berlin: Christoph Links Verlag 1994.
Bernhard 1970 = Hans Joachim Bernhard: Die Romane Heinrich Bölls. Gesellschaftskritik und Gemeinschaftsutopie. Berlin: Rütten & Loening 1970.
Bernhard 1983 = Geschichte der Literatur der Bundesrepublik Deutschland. Von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Hans Joachim Bernhard. Berlin: Volk und Wissen 1983 (= Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 12).
Brand 2003 = Tilmann von Brand: Öffentliche Kontroversen um Erich Fried. Berlin: Wissenschaftlicher Verlag Berlin 2003.
Chotjewitz-Häfner/Gansel 1994 = Die Biermann-Ausbürgerung und die Schriftsteller: ein deutsch-deutscher Fall; Berlin 28. Februar bis 1. März 1992. Im Auftr. der Geschichtskommission des Verbandes Deutscher Schriftsteller (VS). Hg. von Renate Chotjewitz-Häfner, Carsten Gansel u. a. Köln: Verl. Wiss. und Politik 1994 (= Verband Deutscher Schriftsteller. Geschichtskommission: Protokoll der Tagung der Geschichtskommission des Verbandes Deutscher Schriftsteller (VS); 1 Bibliothek Wissenschaft und Politik, Bd. 52).
Decker 2015 = Gunnar Decker: 1965. Der kurze Sommer der DDR. München: Hanser 2015.
Doll 2001 = Jürgen Doll: Ernst Fischer et le tournant politique de la poésie d’Erich Fried dans les années 1960. In: Austriaca. Cahiers universitaires d’information sur l’Autriche (Rouen), Nr. 52/2001, S. 65–81.
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Fischer 1963 = Ernst Fischer: Elegien aus dem Nachlass des Ovid. Leipzig: Insel 1963.
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Fried, Gedanken 1988 = Erich Fried: Gedanken in und an Deutschland. Essays und Reden. Hg. von Michael Lewin. Wien: Europaverlag 1988.
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Fried, Muse 1995 = Erich Fried: Die Muse hat Kanten. Aufsätze und Reden zur Literatur. Hg. von Volker Kaukoreit. Berlin: Wagenbach 1995 (= WAT 246).
Fried-Boswell/Kaukoreit 1996 = Erich Fried. Ein Leben in Bildern und Geschichten. Hg. von Catherine Fried-Boswell und Volker Kaukoreit. Berlin: Wagenbach 1996.
Friedrich 1966 = Max Friedrich: Das Verhör des Lombardo-Radice. In: Neues Deutschland vom 24.12.1966.
Gansel 2014a = Carsten Gansel: Störfall im Literatursystem DDR. Werner Bräunigs Roman „Rummelplatz“. In: Der Deutschunterricht, H. 4/2014 (= Was bleibt? Erinnerung an die DDR-Literatur. Hg. von Klaus-Michael Bogdal), S. 46–57.
Gansel 2014b = Carsten Gansel: Störungen und Entstörungsversuche im Literatursystem DDR. DDR-Schriftstellerverband, „harte Schreibweise“ und literarische Vorgriffe. In: DDR-Literatur. Eine Archivexpedition. Hg. von Ulrich von Bülow und Sabine Wolf. Berlin: Ch. Links Verlag 2014, S. 62–80.
Gansel 2021 = Carsten Gansel: Affirmation und Aufstörung? Zu Aspekten des Modernediskures im ‚geschlossenen System‘ der DDR. In: Wolfgang Hilbig und die (ganze) Moderne. Hg. von Stephan Pabst u. a. Berlin: Verbrecher Verlag 2021, S. 17–48.
Höpcke 1965 = Klaus Höpcke: ... der nichts so fürchtet wie die Verantwortung. Über „Antrittsrede“ und „Selbstporträt“ eines Sängers. In: Neues Deutschland vom 5.12.1965 (online abrufbar unter: https://www.chronik-der-mauer.de/en/chronicle/180381/der-nichts-so-fuerchtet-wie-verantwortung-ueber-antrittsrede-und-selbstportrait-eines-saengers-neues-deutschland-5-dezember-1965).
Hoffer 1993 = Irmelin M. Hoffer: In Verbundenheit und Verehrung. Namen und Daten zu den Widmungsexemplaren in der Nachlaß-Bibliothek Erich Frieds. In: Einblicke – Durchblicke. Fundstücke und Werkstattberichte aus dem Nachlaß von Erich Fried. [...] zusammengestellt von Volker Kaukoreit. Wien: Turia & Kant 1993, S. 156–168.
Kaukoreit 1991 = Volker Kaukoreit: Vom Exil bis zum Protest gegen den Krieg in Vietnam. Frühe Stationen des Lyrikers Erich Fried. Werk und Biographie 1938–1966. Darmstadt: Häusser 1991.
Kaukoreit 1999 = Volker Kaukoreit: Vom „Heimkehrer“ zum „Palastrebellen“? – Ein Protokoll zu ‚Erich Fried und die Gruppe 47‘ (1963–1967). In: Bestandsaufnahme. Studien zur Gruppe 47. Hg. von Stefan Braese. Berlin: Erich Schmid 1999 (= Philologische Studien und Quellen, H. 157), S. 115–154.
Kaukoreit/Vahl 1991 = Einer singt aus der Zeit gegen die Zeit. Erich Fried 1921–1988. Materialien und Texte zu Leben und Werk. Zusammengestellt [...] von Volker Kaukoreit und Heidemarie Vahl. Darmstadt: Häusser 1991.
Kramer 1999 = Sven Kramer: Peter Weiss und die Gruppe 47. In: Bestandsaufnahme. Studien zur Gruppe 47. Hg. von Stefan Braese. Berlin: Erich Schmid 1999 (= Philologische Studien und Quellen, H. 157), S. 155–174.
Krenzlin 1987 = Ästhetik des Widerstandes: Erfahrungen mit dem Roman von Peter Weiss. Hg. von Norbert Krenzlin. Berlin: Akademie-Verlag 1987.
Laitko 2001 = Hubert Laitko: Robert Havemann – Die Zeit der Isolation (1965–1982). In: Berlinische Monatsschrift, H. 7/2001, S. 55–67.
Lettau 1967 = Die Gruppe 47. […] Ein Handbuch. Hg. von Reinhard Lettau. Neuwied, Berlin: Luchterhand 1967.
Lill 2001 = Johannes Lill: Die DDR und Italien (1949–1973). In: Die DDR und der Westen. Transnationale Beziehungen 1949–1989. Hg. von Ulrich Pfeil. Berlin: Links Verlag 2001, S. 237–256.
Luban 2006 = Ottokar Luban: Rosa Luxemburgs Kritik an Lenins ultrazentralistischem Parteikonzept und an der bolschewistischen Revolutionspolitik. In: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen, H. 36/2006, S. 115–125.
Mandel 1970 = Ernest Mandel: „Trotzki im Exil“. In: Über Peter Weiss. Hg. von Volker Canaris. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970 (= edition suhrkamp 408), S. 131–135.
Martini 2010 = Magda Martini: Die DDR der italienischen Linken. Erfindung und Entzauberung einer kulturellen Projektion. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte. H. 10/2010, S. 231–256 (online abrufbar unter: https://www.degruyter.com/document/doi/10.1524/vfzg.2010.0012/html?lang=de).
Melchert 1965 = Rulo Melchert: Wir dulden keinen Schmutz, auch Schmutz nicht in Versen. Zu diesem Wolf Biermann und seinen Haßgesängen gegen die DDR und die Partei der Arbeiterklasse. In: Junge Welt. Wochenendbeilage [= du und deine zeit], Nr. 49 vom 10./11.12 1965, S. 1.
Pfoser 2010 = Alfred Pfoser: „Stalins Brückenköpfe“. Der Kalte Krieg in und um das Tagebuch. In: Kalter Krieg in Österreich. Literatur – Kunst – Kultur. Hg. von Michael Hansel und Michael Rohrwasser. Wien: Zsolnay 2010, S. 228–243.
Polzin 2005 = Arno Polzin: Der Wandel Robert Havemanns vom Inoffiziellen Mitarbeiter zum Dissidenten im Spiegel der MfS-Akten. Berlin 2005, 2. überarb. Aufl. 2006 (= Bundesarchiv – Stasi-Unterlagen-Archiv, Reihe BF informiert 26).
Polzin 2008 = Arno Polzin: Aktenlandschaft Havemann Nachlass und Archivbestände zu Robert Havemann in der Robert-Havemann-Gesellschaft und bei der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Berlin: Robert-Havemann-Gesellschaft e.V. und BStU 2008.
Reimann/Schreyer 2018 = Brigitte Reimann und Wolfgang Schreyer: Ich möchte so gern ein Held sein. Der Briefwechsel. Hg. von Carsten Gansel und Kristina Stella. Berlin: Okapi Verlag 2018.
Rothschild 1986 = Thomas Rothschild: Dialektische Denkbewegung in lyrischer Gestalt. Zur Erich Frieds Zyklus „Überlegungen“. In: Text + Kritik, H. 91/1986 [= Erich Fried], S. 24–32.
Streul 1988 = Irene Charlotte Streul: Westdeutsche Literatur in der DDR. Böll, Grass, Walser und andere in der offiziellen Rezeption 1949–1983. Stuttgart: Metzler 1988.
Zoppel 1995 = Christina Zoppel: Linientreue und Liberalität. Die Rezeption der zeitgenössischen österreichischen Literatur im kommunistischen „Tagebuch“, 1950–1960. Wien: Dipl.-Arb. 1995. Online abrufbar unter: https://www.wienbibliothek.at/sites/default/files/files/buchforschung/zoppel-christina-tagebuch.pdf.
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