Johann Caspar Lavater experimentierte mit unterschiedlichen Darstellungsformen von Köpfen, um seine physiognomischen Theorien anschaulich zu untermauern.
Autor: Rainer Valenta
In der Grafiksammlung des Schweizer Pastors und Physiognomen Johann Caspar Lavater (1741–1801), die heute in der Österreichischen Nationalbibliothek (Bildarchiv und Grafiksammlung) aufbewahrt wird,1 gibt es eine Reihe von merkwürdigen Bildfolgen, die Metamorphosen von Köpfen darstellen. Man findet beispielsweise die Schritte der Transformation vom Haupt eines Frosches oder Löwen zu dem eines Menschen oder analoge Verwandlungen von grotesken Köpfen und Karikaturen. Diese Bildfolgen sind entweder auf einem Tableau in mehreren Reihen angeordnet oder auch als Serie von Einzelbildern gezeichnet. Lavaters physiognomische Kommentare zu den Reihen lassen erkennen, dass er in den beiden Polen der Darstellungen idealtypische Realisierungen bestimmter Eigenschaften oder Charaktere sah. Die Anmerkungen zu den dazwischen liegenden Bildern versuchen dann meist die graduellen Veränderungen von und zu diesen Polen zu erfassen. Ein paar solcher Kommentare aus einem Fallbeispiel mögen dies veranschaulichen: „Frosch“, „nicht mehr völlig Frosch“, „Das Aug ist ganz unfroschlich“, „Aug und Stirn noch nicht menschlich“, „Menschlich Gut, aber Stirn und Aug schwach“.
Was Lavater mit diesen eigenartigen „Metamorphosen“ bezweckte, ist zunächst unklar. In seinen physiognomischen Schriften hat er Bildfolgen dieser Art nicht abgebildet, besprochen oder erläutert – bis auf eine späte Ausnahme, die allerdings erst nach seinem Tod veröffentlicht wurde. In den Beschriftungen auf den Rücken der historischen Portefeuilles, in denen Lavaters Sammlung aufbewahrt wurde, werden die Bildreihen als „Stufen“ bezeichnet. Diese Wahl des Ausdrucks klingt zunächst eigenartig; sie ist jedoch ein Hinweis, wie die Folgen richtig zu verstehen sind. Denn sie stellen vermutlich keine Metamorphosen, also Verwandlungen, sondern Abstufungen einander ähnlicher Köpfe dar.2
Durch eine Anzahl von Briefen ist belegt, dass sich Lavater in den 1790er Jahren mit der Herstellung von Stufen beschäftigte.3 Wahrscheinlich stammen die meisten, wenn nicht sogar alle Stufen seiner Sammlung aus diesem Zeitraum. Dazu passt es jedenfalls gut, dass in keiner der von Lavater betreuten Ausgaben bzw. Übersetzungen seines physiognomischen Hauptwerkes, den „Physiognomischen Fragmenten“, eine Stufe abgebildet ist.
Die wichtigste Quelle für Lavaters theoretisches Verständnis der Stufen ist ein kurzer Text mit dem Titel „Ueber die Animalitäts-Linien“, den sein Schwiegersohn Georg Geßner 1802 im fünften Band von Lavaters nachgelassenen Schriften veröffentlichte.4 Eine französische Übersetzung davon wurde 1803 als Anhang zum vierten Band der französischen Ausgabe der „Physiognomischen Fragmente“ publiziert.5 In diesem Text beschreibt Lavater das „Gesetz“, nach dem alles in der Natur geformt ist: Alles würde sich „von Stufe zu Stufe […] vom bloßen Daseyn zum Leben, vom Leben zum Wollen“ erheben. Leicht erkennbar wären „jeder Stufe Gepräg, und bestimmbar jeder Stufe nöthige Form, der Gattungen Linien“. Es hätte bereits „unzählige Versuche [gegeben], die Abstuffungen der Menschen und Thiergattungen, den Uebergang von brutaler Häßlichkeit zum idealisch Schönen; von der Satanität zum göttlich Erhabenen, von der Animalität des Frosches, des Affen, zur anfangenden Vermenschlichung des Samojeden, von dieser hinauf bis zu einem Neuton [sic!] und Kant – in eine inductionsmäßige Norm zu bringen, und gewissermaßen die eigenthümlichen absoluten Grundlinien jeder gegebenen Abstufung physiognomisch-mathematisch zu bestimmen“.6 Als Illustrationen folgen diesen Ausführungen zwei Stufen: vom Frosch zum Apoll in 24 Schritten mit Darstellungen im Profil und vom Frosch zum Menschen in 12 Stufen von vorne.
Lavaters zitierte Erläuterungen lassen zu Genüge erkennen, auf welchen theoretischen Hintergrund er mit seinen Stufen-Folgen rekurriert. Es handelt sich um eine Weltsicht der Natur, die der amerikanische Kulturhistoriker und Begründer der Ideengeschichte Arthur Oncken Lovejoy (1873–1962) in einer klassischen Studie als eine der mächtigsten und hartnäckigsten Annahmen im westlichen Denken charakterisiert hat, die bis ins frühe 19. Jahrhundert die gewohnte Sicht der Dinge und des Universums bestimmte.7 Diese Theorie vereinigt im Wesentlichen drei fundamentale Hypothesen. Die erste besagt, dass in der Natur alle Dinge existieren würden, die grundsätzlich denkbar und nicht in sich widersprüchlich wären. Diese Annahme ist aus der platonischen Ideenlehre hervorgegangen, nach der die Ideen, die wirkliche Gegenstände repräsentieren, vor deren Existenz bereits vorhanden sind. Auch die Vorstellung, dass die Ideen und die Gegenstände der Natur ein hierarchisch geordnetes System bilden, geht auf Platon zurück. Das dritte Prinzip hingegen, nämlich jenes der Kontinuität, hat seinen Ursprung in den Lehren des Aristoteles. Für diesen Philosophen stand die Naturbeobachtung im Vordergrund. Bei seinen Versuchen, Tiere zu klassifizieren, kam Aristoteles zu der Überzeugung, dass zwischen zwei benachbarten Arten oft keine exakten Trennlinien bestanden, sondern dass der Übergang von einer in die andere kontinuierlich wäre. Im Neuplatonismus wurden diese Voraussetzungen der platonischen und aristotelischen Philosophie zu einem fixen Ideengebäude verschmolzen, das die Sicht der Natur bis zum Beginn der Moderne prägte: Alle Dinge bildeten demnach eine kontinuierliche, hierarchische Stufenleiter („Scala Naturae“) bzw. Kette alles Seienden („Chain of Being“).8
Wie der oben zitierte Text belegt, war Lavater mit diesem gängigen, von Lovejoy beschriebenen naturphilosophischen Modell einigermaßen vertraut. Übrig bleibt die Frage, aus welchen Quellen er seine Kenntnisse der naturphilosophischen Weltsicht bezog und wie er dieses Wissen mit Bezug auf seine eigenen christologischen und physiognomischen Überzeugungen und Theorien verarbeitete. Das ist an sich eine komplexe Problematik, deren Bearbeitung umfangreiche Quellenstudien erfordert. Die Forschungslage lässt es allerdings zu, wesentliche Eckpunkte dafür zu skizzieren.
Lavaters erster und wichtigster Zugang zur Naturgeschichte waren zweifellos die Schriften des Genfer Juristen und Naturphilosophen Charles Bonnet (1720–1793). Im Jahr 1766 las er dessen „Contemplation de la Nature“, in der Bonnet die Kette bzw. Stufenfolge der Dinge ausführlich bespricht.9 Im Dezember 1768 nahm Lavater erstmals schriftlich Kontakt mit dem Genfer auf. Er schickte diesem ein eigenes Werk und versicherte ihm, wie sehr dieses von Bonnets „unsterblichen Schriften“ abhing.10 Bonnet fühlte sich geschmeichelt und es entwickelte sich daraus ein Briefwechsel, der bis in das Jahr 1790 andauerte. Die meisten der insgesamt 85 Briefe fallen jedoch in die Jahre 1769 bis 1771. Damals erlebte die Auseinandersetzung Lavaters mit dem Gedankengut Bonnets insofern einen Höhepunkt, als er dessen neuestes Werk „Palingénésie philosophique“ in das Deutsche übersetzte.11 Im zweiten Teil dieser Schrift, der als erster ins Deutsche übertragen wurde, sah Lavater „Beweise für das Christenthum“.
Ein zweiter Autor, der für Lavaters visuelle Konzeption der Stufenfolge wohl noch wichtiger war als Bonnet, war der niederländische Mediziner, Anatom und Physiologe Pieter (Petrus) Camper (1722–1789). Dieser untersuchte die Schädel von Menschen unterschiedlicher Herkunft sowie von Affen und anderen Tieren und hielt in den 1770er Jahren Vorlesungen über den sogenannten Gesichtswinkel, der später auch für Lavater von Bedeutung sein sollte.12 Am 16. September 1776 schrieb Camper einen ausführlichen Brief an Lavater, in dem er diesem seine „praktischen Regeln, um die verschiedenen Nationen und die verschiedenen Alter beynahe mit mathematischer Genauigkeit zu bezeichnen“ mitteilte. Dem Schreiben ging anscheinend eine Anfrage Lavaters an Camper voran, die jedoch nicht erhalten ist. Sie muss allerdings in Verbindung mit dem Abschnitt über „National- und Familienphysiognomien“ im vierten Band der „Physiognomischen Fragmente“ gestanden haben, da Camper auch die Probedrucke zu den dort abgebildeten Illustrationen der „Nationalphysiognomien“ kommentiert. Lavater hat dann Auszüge aus dem Brief Campers in deutscher Übersetzung in dem besagten Abschnitt veröffentlicht.
1791 erschien posthum Campers Werk „Sur les Différences réelles que présentent les Traits du Visage chez les Hommes de différents Pays et de différents Ages“, das im folgenden Jahr auch in einer deutschen Übersetzung publiziert wurde.13 Darin beschreibt er ausführlich seine Beobachtungen an der sogenannten Gesichtslinie und an ihrem Neigungswinkel bei Menschen und Tieren. Im Grunde ging es dabei um die Messung der Schräge der Profillinie eines Gesichtes, also um die Neigung einer durch die äußersten Punkte des Mundes und der Stirn gezogenen Geraden. Es ist kaum von der Hand zu weisen, dass dieser Winkel beim Menschen sehr steil ist und sich bei Tieren immer mehr verflacht, je tiefer man in der Hierarchie der Arten hinabsteigt.
Für Lavater war dies der ersehnte Beweis der Messbarkeit der Abstufungen zwischen den Polen „menschlich“ und „animalisch“ aufgrund der linearen Strukturen von Gesichtern.
In dem bereits zitierten Text mit dem Titel „Ueber die Animalitäts-Linien“ bespricht er den Winkel der Gesichtslinie ausführlich und nennt dazu auch seine Quelle.14 Anders aber als bei Camper ist der Gesichtswinkel für Lavater ein Maßstab für die Bewertung, der den Platz innerhalb der Hierarchie anzeigt: Manche Menschen und Völker standen nach seiner Ansicht ganz unten auf der Stufenleiter, bereits an der Grenze zum Animalischen.
Die vorangegangenen Überlegungen sollten zeigen, wie Lavater seiner physiognomischen Grundanschauung ein gängiges naturphilosophisches Modell assimiliert und dieses zur Grundlage rassistischer und diskriminierender Hypothesen macht. Doch auch abgesehen von den ethisch äußerst bedenklichen Implikationen solcher Konstruktionen sind Lavaters Stufen keine angemessene Visualisierung des naturgeschichtlichen Wissensstandes seiner Zeit. Petrus Camper etwa stellte anatomisch korrekte Zeichnungen von Affen- und Menschschädeln nebeneinander. Dass dieser Zusammenhang intuitiv richtig beobachtet ist, wird durch die später durch Charles Darwin begründete Lehre von der Abstammung des Menschen bestätigt. Lavater hingegen zeigt uns die Verwandlung eines Frosches in einen Apollo-Kopf, der selbst ein Kunstprodukt ist. Kein ernstzunehmender Naturforscher des 18. Jahrhunderts hätte die reale Existenz einer solchen Stufenfolge in Erwägung gezogen. Lavater aber rühmt sich, dass er diese Transformation, die jeder für unmöglich halten würde, gewissermaßen anschaulich bewiesen hätte.15 Die Absurdität dieses „Beweises“ lässt sich bis in Details verfolgen. Der Froschkopf ist nämlich bei den Stufen mit Profilköpfen (vgl. Abb. 2 u. 4) nicht gänzlich von der Seite gegeben, sondern leicht schräg von oben gesehen, wodurch sein rechtes Auge sichtbar wird. Dieses verwandelt sich in der Stufenfolge zunächst in einen Höcker und schließlich in die abgerundete Scheitelpartie des nun gänzlich im Profil gegebenen Menschenkopfes. Es handelt sich also gar nicht um die graduelle Umwandlung eines Kopfes in einen anderen, sondern bestenfalls um die Metamorphose eines Bildes. Lavaters Sammlung enthält noch eine Reihe weiterer ähnlich fantastischer Transformationen, die Ausdruck seiner überbordenden Fantasie und seines Mangels an Kritik sind. In diesem Sinn kann man die Stufen als „Vulgarisierung“ einer heute zwar überholten, aber nach den Maßstäben von Lavaters Zeit wissenschaftlichen naturphilosophischen Theorie bewerten, die unter ihre Vertreter Geistesgrößen wie Leibniz und Spinoza rechnen kann.
Über den Autor: Dr. Rainer Valenta ist wissenschaftlicher Mitarbeiter von Bildarchiv und Grafiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek.
Titelbild: Künstlerkreis Lavater: Tableau mit 12 Stufen vom Löwen zum Apoll (Ausschnitt). Federzeichnung. ÖNB, LAV 69/19682.
1 Die Sammlung enthält über 22.000 Grafiken und Handzeichnungen. Ihre Geschichte und ihr Zweck als physiognomische Studiensammlung wird in einem eigenen Forschungsblog dargestellt. Von Juli 2023 bis August 2024 wurde die Lavatersammlung im Rahmen eines von der EU geförderten Projektes („Kulturerbe digital“) vollständig digitalisiert und katalogisiert. Die Digitalisierung der Lavatersammlung ist Teil des Projektes „Geschichte in Bild und Text. Digitalisierung, Erschließung und Vermittlung von zwei herausragenden Sammlungen der Österreichischen Nationalbibliothek (2023-2024)“; die Förderung wurde vom Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlicher Dienst und Sport, Sektion für Kunst und Kultur vergeben.
2 Uwe Schögl: Vom Frosch zum Dichter-Apoll. Morphologische Entwicklungsreihen bei Lavater. In: Gerda Mraz / Uwe Schögl (Hg.): Das Kunstkabinett des Johann Caspar Lavater. Wien 1999, S. 164–171; – Gudrun Swoboda: Stuffen in Lavaters „Physiognomischen Kabinett“. Gesichtslinien zwischen morphologischem Experiment und metrischer Bestimmung. Biblos 50, 1 (2001), S. 143–160; – David Bindman: Frog to Apollo: A French Print after Lavater and Pre-Darwinian Theories of Evolution Author(s). Print Quaterly 28, 4 (2011), S. 392–395; – Uwe Schögl: Ikonische Kompositionalität. Gedanken zu Johann Caspar Lavaters Bilddenken. Librarium: Zeitschrift der Schweizerischen Bibliophilen-Gesellschaft 50, 2 (2012), S. 108–124.
3 Zentralbibliothek Zürich, FA Lav, Ms. 525.258, Ms. 589a.78, Ms. 574.3, Ms. 574.6, Ms. 574.7; Lav H 1001.10.
4 Johann Kaspar Lavaters nachgelassene Schriften. 5. Bd. Hg. von Georg Geßner. Zürich 1802, S. 101–110.
5 Jean Gaspard Lavater: Essai sur la Physiognomie, destiné à faire connoître l’homme et à le faire aimer. Bd. 4. Den Haag 1803, S. 315–324: „Sur les Lignes d’Animalité“.
6 Lavater 1802 (zit. Anm. 3), S. 103 und 104; Lavater 1803 (zit. Anm. 4), S. 316 und 319.
7 Arthur O. Lovejoy: The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea. Cambridge, Massachusetts 1953, S. VII. – Siehe zum kulturgeschichtlichen Hintergrund auch: Hans-Georg von Arburg: Johann Caspar Lavaters Physiognomik. Geschichte – Methodik – Wirkung. In: Gerda Mraz / Uwe Schögl (Hg.): Das Kunstkabinett des Johann Caspar Lavater. Wien 1999, S. 40–59, v. a. S. 52.
8 Lovejoy 1953 (zit. Anm. 6), S. 44–66 u. 183.
9 Charles Bonnet: Contemplation de la Nature. Amsterdam 1764, S. 25–106. Dt. Ausgabe: Charles Bonnet: Betrachtung über die Natur. Leipzig 1766, S. 22–85.
10 Gisela Luginbühl-Weber: Johann Kaspar Lavater – Charles Bonnet – Jacob Bennelle. Briefe 1768–1790. Ein Forschungsbeitrag zur Aufklärung in der Schweiz. 2 Bde. Bern 1997. Bd. 1, S. XLV, XLIX, 5.
11 Charles Bonnet: Philosophische Palingenesie. Oder Gedanken über den vergangenen und künftigen Zustand lebender Wesen. […] Zürich 1769–1770. Zum Inhalt vgl. Lovejoy 1953 (zit. Anm. 6), S. 283–286.
12 Miriam Claude Meijer: Race and Aesthetics in the Anthropology of Petrus Camper. Amsterdam 1999, S. 5, 18, 19, 21 und passim.
13 Petrus Camper: Dissertation sur les différences rèelles que présentent les traits du visage chez les hommes de différents pays et de différents ages […]. Utrecht 1791. Dt. Ausgabe: Peter Camper: Über den natürlichen Unterschied der Gesichtszüge in Menschen verschiedener Gegenden und verschiedenen Alters […]. Berlin 1792.
14 Lavater 1802 (zit. Anm. 3), S. 105–107; Lavater 1803 (zit. Anm. 4), S. 320–322.
15 Lavater 1802 (zit. Anm. 3), S. 107f.; Lavater 1803 (zit. Anm. 4), S. 322.
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