Autorin: Solveigh Rumpf-Dorner
Unbebilderte Kärtchen, nur sechseinhalb mal viereinhalb Zentimeter groß – auf den ersten Blick wirkt dieses Spiel für Erwachsene recht unscheinbar. Seinen Charme entfaltet es aber dann, wenn wir uns eine Gesellschaft in einem Wiener Haushalt des 19. Jahrhunderts vorstellen. Zwei kleine Stapel liegen auf dem Tisch (oder jeder der Anwesenden hält sein Blatt in der Hand). Ein Herr wählt eine der dunkel geränderten Karten und liest die aufgedruckte Frage ab: „Sind Sie sehr kitzlich?“ Unter dem Gelächter und den Kommentaren der Mitspielenden zieht eine Dame eine Karte mit hell-orangem Rand und antwortet: „In welchem Katechismus steht denn diese Frage?“ So geht es weiter mit „Sind Sie von hitzigem Naturell?“ – „Ja, doch schreien Sie nur nicht so!“ – „Haben Sie es gerne, wenn Sie geküßt werden?“ – „Das find‘ ich nicht nöthig Ihnen zu sagen.“ Vielleicht spielt die Gesellschaft alle Kärtchen durch und beginnt eine zweite Runde; alles wird neu gemischt, und die Antwort auf „Sind Sie sehr kitzlich?“ lautet nun „Was haben Sie davon, wenn Sie es wissen?“ Die Fragen der Herren klingen aufdringlich, die Antworten der Damen eher schnippisch; aber mit den lustigen Zwischenrufen und den passenden Getränken haben alle ihren Spaß.
Diese „Neu verbesserte(n) Frag- und Antwort-Karten“1 kamen im Wiener Verlag Carl Barth heraus. Dessen Vater, der Kupferstecher Franz Barth, hatte die Firma 1817 ursprünglich als Bilder- und Spielwarenhandel gegründet. Das vielfältige Programm umfasste Bilder- und Ausschneidebögen für Kinder, Papiertheater und Gesellschaftsspiele, aber auch Heiligenbilder und Flugblätter; aus dem Revolutionsjahr 1848 sind Einblattdrucke des Verlags erhalten, die eindrucksvolle Szenen von den Straßenkämpfen zeigen, aus den Jahren ab 1850 viele illustrierte Flugblattlieder. Wann genau das Fragespiel mit sanftem Erotikfaktor gedruckt wurde, wissen wir nicht. Carl Barth hatte die Firma 1853 übernommen, was die Entstehungszeit des Spiels auf die Jahre danach eingrenzt; das „Neu verbesserte“ in der Produktbezeichnung deutet darauf hin, dass es solche Karten schon länger im Sortiment gab. Ein Zeitungsinserat aus dem Jahr 18772 zählt unter den Produkten der Firma Barth „Gesellschaftsspiele, Aufschlag-3, Zieh-, Frag- und Antwortkarten“ auf.
Das Konzept dieses Spiels war keineswegs neu. Ein 1792 in Graz gedrucktes Büchlein, „Das gesellige Vergnügen“, enthält eine Spielanleitung mit Fragen und Antworten, die mithilfe eines Zahlenschlüssels immer wieder anders durchgemischt werden können.4 Die Fragen beinhalten außer dem harmlosen „Opfern Sie gern dem Kaffee-Stündgen?“ ein schon neugierigeres „Belauschen Sie gern?“ und können auch sehr persönlich werden: „Denken Sie auch recht fleißig an mich?"
Ähnlich aufgebaut waren Orakel- oder Wahrsagespiele wie „Glücks-Rad“5 oder „Der Zauberer im Salon“6. Auch hier werden die vorgegebenen Fragen und Antworten durch einen Zahlenschlüssel verknüpft, durch Würfeln finden die Spieler*innen die Antwort auf die Fragen, die sie aus der Übersicht ausgewählt haben. Beim „Glücks-Rad“ geschieht das ganz im Zeichen der Astrologie. 36 „Richter“ von Saturn und Jupiter über Perseus und Orion bis hin zu Schütze und Wassermann geben ihr Urteil ab. Auf Frage Nummer 35, „Ob die Person, die du liebest, dich auch hingegen liebe?“, konnte zum Beispiel eine harsche Antwort von Saturn erfolgen: „Sie liebt dich, wie der Hund die Katze.“ Der „Zauberer im Salon“ gibt sich geschäftsmäßig mit „Was wird die Mitgift der Person sein, an die ich denke?“ und „Wird meine Witwe wieder heirathen?“ Irgendein bedauernswerter Mitspieler wird hier einmal die Antwort „Jedermann wird diese Veränderung loben“ erwürfelt haben.
Beliebt waren auch Sprachspiele in unterschiedlichsten Varianten. Das zweibändige Spielebuch „Der kleine Mußedieb“7 schlägt etwa ein Reimspiel vor, bei dem Damen und Herren abwechselnd im Kreis sitzen. Wer beginnt, stellt der Person zur Rechten eine Frage, und diese muss ihre Antwort mit einem Wort beginnen lassen, das sich auf das letzte Wort der Frage reimt. Auch dies kann geschickt zum Flirten genutzt werden, eines der Beispiele etwa lautet: „Man sagt, Sie hätten sich verschworen, je zu lieben?“ – „Dieben verschließt man die Tür; gegen die Liebe aber gibt es leider kein wirksames Verwahrungsmittel.“ Tatsächlich fordert dieses Spiel, so der Autor, „Gegenwart und Lebhaftigkeit des Geistes“. Wen diese bei den Antworten verlässt, der muss ein Pfand abgeben. Das Buch empfiehlt noch mehrere andere Pfänderspiele, darunter auch ein Bewegungsspiel, das „Bänderspiel“: „Jede Person nimmt ein Band und hält das eine Ende davon; das andere Ende aller Bänder faßt der Anordner des Spiels. Wenn er sagt: Zieht an! So müssen alle nachlassen; und wenn er sagt: Laßt nach! So müssen alle anziehen. Es ist unglaublich, liebe Freundinn, wie viel Pfänder dieses bizarre Spiel einbringt.“ Auch die heute noch bekannten Spiele „Blinde Kuh“ und „Reise nach Jerusalem“ waren bestens geeignet, um recht viele Pfänder zu sammeln.
Waren davon genug zusammengekommen, kam Teil zwei der Unterhaltung, das Auslösen. Wer sein Pfand zurückhaben wollte, musste sich eine Bußübung auferlegen lassen. Hier finden sich viele Vorschläge, die sich zum Teil über Jahrzehnte hinweg in den Anleitungen wiederholen. Ein Lied vorzusingen, kurz den eigenen Lebenslauf zu erzählen oder mit vorgegebenen Reimworten einen Vers zu dichten sind unverfängliche Bußen; nicht nach jedermanns (und jederfrau) Geschmack war aber wohl der „Hasenkuss“: „Dieser Kuß besteht darin, daß zwei Personen verschiedenen Geschlechtes jede das Ende eines Zwirnfadens mit den Zähnen fassen, und ihn mit der Zunge gegen den Gaumen so lange ziehen, bis ihre Lippen gegenseitig in Berührung kommen.“8 Die eher unappetitliche Aufgabe findet sich in mehreren Büchern beschrieben; der „Kleine Mußedieb“ fügt aber gleich hinzu: „Dieser Kuß, welcher den Zusehern keinen angenehmen Anblick gewährt, ist eben so aus jeder guten Gesellschaft verbannt worden, als er von der vernünftigen Strenge aufmerksamer Mütter billiger Weise geachtet ward.“9 Denn zumindest bei sehr jungen Leuten geschah all das unter den mehr oder weniger aufmerksamen Blicken der Eltern, die sich vielleicht gerade am anderen Ende des Raums beim Kartenspiel vergnügten. In einem Taschenkalender für das Jahr 1794 wird das Küssen beim Pfänderauslösen daher als zulässig erachtet, geschieht es doch „in Anstand und im Angesicht einer ganzen Gesellschaft“.10 Dementsprechend empfiehlt der Kalender einige Bußübungen wie diese für eine Dame: „Sie soll die spanische Liebe vorstellen. Sie nimt [sic] eine Person aus der Gesellschaft, führt sie an der Hand zu einer andern, küßt selbe, und wischt dieser das Maul ab.“11
Noch über 40 Jahre später findet sich diese Aufgabe, ebenso wie der berühmt-berüchtigte „Hasenkuss“, in Ignaz Franz Castellis „Freut euch des Lebens!“12 Dieser „Universal-Rathgeber zum Genusse geselliger Freuden“ enthält nicht weniger als 78 Vorschläge zum Pfänderauslösen, von denen viele auf frühere Publikationen wie z. B. auf den „Kleinen Mußedieb“ (und damit auf dessen französisches Vorbild) zurückgehen, so auch die „Liebesbrücke“: „Ein Mann, der sich in die Mitte des Kreises auf alle Viere niederläßt, muß dulden, daß sich ein Mann und eine Dame bequem auf seinem Rücken sitzend küssen,“ heißt es im „Mußedieb“. Und Castelli fügt hinzu: „Wobei er [die Brücke] immer seufzen muß.“13 Gesellschaftliche Regeln galt es dabei aber auch zu beachten: Nicht zu viel Körperkontakt anstreben – keine zu unangenehme Buße auferlegen – diese gutwillig und ohne Widerspruch vollziehen – nicht immer die gleiche Dame wählen, um Gerüchten vorzubeugen – auch andere Damen einbeziehen, um sie nicht um ihr Vergnügen zu bringen; dies waren die Ratschläge eines „gesellschaftlichen Wegweisers“ für junge Leute.14
Während bei Frage- und Pfänderspielen die Möglichkeiten zum Flirten sozusagen eingebaut waren, musste man sie bei anderen Spielen selber schaffen. Schach, Dame und Backgammon (damals meist Trictrac genannt), Karten- und Würfelspiele waren schon lange Fixpunkte gesellschaftlicher Unterhaltung gewesen und blieben es auch in den Salons und Wohnzimmern des 19. Jahrhunderts. Die Regeln konnte man in einer Vielzahl von Büchern nachlesen. Wenn auch einige beliebte Kartenspiele, wie z. B. das oft erwähnte Hombre, inzwischen abgekommen sind, finden wir in dieser Art von Literatur noch viel Bekanntes.
Andere einst populäre Gesellschaftsspiele wie „Hammer und Glocke“15 16 bereichern zwar heute jedes Spielemuseum, doch ihre Geschichte und Spielregeln kennt kaum noch jemand. Und wo sind die kleinen chemischen oder physikalischen Experimente, die mit „natürlicher Magie“ die Gäste im Salon zum Staunen und Lachen brachten? Ein brennender Schneeball („Man schneidet aus Kampfer ein längliches Stück, steckt es in einen Schneeball und zündet es an“) könnte das wohl auch heute noch.17 Scharaden, bei denen die Mitspielenden einen Begriff pantomimisch darstellen und die anderen ihn erraten müssen, sind hingegen seit Jahrhunderten ein Party-Dauerbrenner. Im 19. Jahrhundert wurden sie meist „Lebendige Bilder“ bzw. „Tableaux vivants“ genannt und mündeten, wenn das Rätsel nicht gelöst wurde, oft in ein Pfänderspiel. Leopold Kupelwieser hielt eine solche Szene im Bild fest. Sie zeigt Franz Schubert und seinen Freundeskreis im Schloss Atzenbrugg bei diesem Gesellschaftsspiel; dargestellt wird hier die Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies.18
„Wer fühlt nicht lebhaft den Trieb zum Frohsinn und Vergnügen? wer liebt nicht heiteren Scherz und Unterhaltung? - aber der Mensch ist so wandelbar -- die Laune übt so herrisch ihre strenge Macht über jeden Sterblichen, daß Vieles, was heute ein Lächeln abgewinnt, uns morgen kalt und gefühllos läßt“, schrieb Ignaz Franz Castelli 1839.19 Ist aber nur genug Zeit vergangen, zaubern uns diese alten, für uns neuen Spiele wieder ein Lächeln ins Gesicht.
Über die Autorin: Mag. Solveigh Rumpf-Dorner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Sammlung von Handschiften und alten Drucken der Österreichischen Nationalbibliothek.
1 Neu verbesserte Frag- und Antwort-Karten, Wien [nach 1853].
2 Wiener Leben, 25. Februar 1877.
3 Aufschlagkarten = Wahrsagekarten.
4 Das gesellige Vergnügen in drey neuen Gesellschaftsspielen, Graz 1792. ONB-Signatur 292592-A.Alt-Mag. Spielanleitung S. 23ff: „Aurinia oder die kluge Sybille“.
5 Glücks-Rad, Durch welches man nach Astrologischer Art auf unterschiedliche Fragen, so den zwölf himmlischen Häusern nach abgetheilet, eine Antwort finden kann … gestellt und zum Druck befördert durch Eberhard Welpern, Salzburg 1827. ONB-Signatur 308091-A.Alt-Mag. Dieses Spiel basiert auf einem Konzept, das der Mathematiker Eberhard Welper bereits im 17. Jahrhundert veröffentlicht hatte.
6 Das Buch des Schicksals, oder der Zauberer im Salon, Wien 1844. ONB-Signatur 306509-B.Alt-Mag.
7 Der kleine Mußedieb. Auswahl interessanter Gesellschaftsspiele zur Erheiterung für Personen beyderley Geschlechts. Aus dem Französischen des Mart[in] Infantin, übersetzt und umgearbeitet von Anton Sturm. Erstes Bändchen, Wien 1821. ONB-Signatur 234363-A.1.Alt-Mag. Reimspiel S. 21.
8 Ebd. S. 88.
9 Ebd.
10 Taschen Kalender für 1794 aus der Revolutions Geschichte Frankreichs bey H[ieronymus] Loeschenkohl, Wien 1793. ONB-Signatur 307744-A.Alt-Rara. Zitat S. 78.
11 Ebd. S. 80.
12 Ignaz Franz Castelli: Freut euch des Lebens! Oder: Wollen wir lachen und fröhlich seyn? Ein Universal-Ratgeber zum Genusse geselliger Freuden … in sechs Bändchen, Wien [1839]. ONB-Signatur 307690-A.Alt-Mag.
13 Freut euch des Lebens!, Erstes Bändchen. Pfänderauslösen S. 46ff., Liebesbrücke S. 51.
14 Der feine Gesellschafter. Ein treuer Wegweiser für junge Leute, sich in Gesellschaft und im Umgange beliebt zu machen, Kaschau 1825. ONB-Signatur 305483-A.Alt-Mag.
15 Das Hammer- und Glockenspiel. Eine neue Unterhaltung für kleinere und größere Gesellschaften, Wien [um 1825]. ONB-Signatur 308975-A.Alt-Rara.
16 ÖNB-Forschungsblog 2.8.2017. Das Hammer- und Glockenspiel. Eine neue Unterhaltung für kleinere und größere Gesellschaften (abgerufen am 3.10.2024).
17 Das Buch der Zauberei, oder Magie für das gesellschaftliche Leben, Wien 1839. ONB-Signatur 305508-B.Alt-Mag. Solche „natürlichen Zaubereien“ hatten bereits in der frühen Aufklärung der Unterhaltung in intellektuellen Kreisen gedient.
18 "Gesellschaftsspiel der Schubertianer", Lichtdruck von Max Jaffé nach L. Kupelwieser. ONB-Signatur PORT_00001999_01 POR MAG.
19 In der Vorrede zu „Freut euch des Lebens!“, Erstes Bändchen S. 3.
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