Autorin: Katharina Manojlovic
[…] ein Ausflug auf die bewaldeten Höhen des Kahlenbergs, der ja nun auch nicht der Kahlenberg sein kann, auf den ich nur einen Spaziergänger, aber niemals einen Leser mitnehmen kann, einen Leser könnte ich doch nur mitnehmen auf einen Berg aus Worten, auf Wortwege […]
Ingeborg Bachmann
Im Werk Ingeborg Bachmanns erscheint Wien als mythisch aufgeladene und zugleich vertraute Erinnerungslandschaft: Bekannte Ortsnamen leuchten uns entgegen und lassen die Stadt im Text in Erscheinung treten. Dabei ist ihre Wirklichkeit eine andere: Wien ist „auf dem Papier“ zu finden und doch „immerzu woanders“. (Bachmann 1993, S. 342)
Den konkret beschriebenen Schauplätzen, Detailaufnahmen der Stadt und poetischen Alltagsbeobachtungen dieser Ausstellung werden im Kapitel „Wienblicke“ weit ausholende Utopien zur Seite gestellt, dystopische Visionen und Entwürfe möglicher Städte, besserer vielleicht, die unerreichbar bleiben oder erst zu bauen wären. Einen Einblick gibt der folgende Text.
Urbane Utopien
In der Literatur bilden Städte seit langem Kristallisationspunkte utopischer Visionen. Ja, man kann sagen, dass die Utopie und das Bild der Stadt untrennbar verbunden sind (und von „urbanen Utopien“ zu sprechen geradezu tautologische Qualität hat). (Vgl. Pinder 2005, S.18) Ihr Name, erdacht vom englischen Politiker und Sozialphilosophen Thomas More in seinem 1516 erschienenen satirischen Roman De optimo rei publicae statu, deque nova insula Utopia (Vom besten Zustand des Staates oder von der neuen Insel Utopia) leitet sich von einem Sprachspiel her, von Griechisch eu-topos / ou-topos: Mores utopischer Inselstaat ist kein Ort und zugleich ein guter. Utopien können zeitlich oder räumlich außer Reichweite liegen oder in Bezug auf die an sie geknüpften gesellschaftlichen Bedingungen. Nicht nur weil solche utopischen Visionen unerreichbar bleiben, in fernen Zeiten oder Fantasiereichen angesiedelt sind oder sich als nicht verwirklichbar erweisen (und gerade angesichts des Scheiterns politischer Utopien und ihrer Assoziation mit totalitären Systemen), begleiten sie Misstrauen und Kontroversen. Egal, ob es sich um Platons idealen Staat handelt oder Visionen der europäischen Moderne, wie das einflussreiche Konzept kooperativ organisierter Gartenstädte des britischen Urbanisten Ebenezer Howard um die Wende zum 20. Jahrhundert oder die Theorien des schweizerisch-französischen Architekten und Künstlers Le Corbusier: Sie alle wecken auch Vorstellungen von sterilen Ordnungen, zwanghaftem Perfektionismus und widerspruchsbefreiten Zonen. (Ebd., S. 52)
In seinem Buch Vom Glück in den Städten (2002) bestreitet der Architekt, Universalgelehrte und langjährige Bürgermeister von Belgrad Bogdan Bogdanović (1922 geboren ebenda, 2010 gestorben in Wien), dass die „hellseherische[n] Urbanisten“ der späten 1950er-Jahre mit ihrer „futurologische[n] oder besser futurographische[n] Darstellung phantastischer Städte“ nennenswertes Neues von ihren Reisen in die Zukunft mitgebracht haben:
Gewöhnlich gingen sie nicht über den Rahmen der Gemeinplätze vieler literarischer Träumereien hinaus, von den außerirdischen Exkursionen Cyrano de Bergeracs oder Jonathan Swifts über Jules Verne bis zu den angestrengten Science Fiction-Exhibitionen moderner Autoren. Solche Texte galten seit jeher als unterhaltsame […] Lektüre. Die urbanistische Phantastik hingegen war mehr als ernst und bis auf seltene Ausnahmen auf tragische Weise humorlos. (Bogdanović 2002, S. 60f.)
„Urbano-Poetiken“
Bogdanović ging 1993 auf Einladung seines Jugendfreundes, des Schriftstellers Milo Dor, ins Wiener Exil; sein schriftstellerischer Nachlass befindet sich im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (über 12.500 Werke des Architekten sind Teil der Sammlung des Architekturzentrum Wien). Die ihn zeitlebens beschäftigende, nicht auf einen Nenner zu bringende Wissenschaft von der Stadt verstand er als „Urbano-Poetik“; – abgeleitet von einer „Urbanologie“, der er sich zugehörig wissen wollte in Abgrenzung zu einem praktischen „Urbanismus“, den er im Rückblick auf seine frühe Lehrtätigkeit im Jugoslawien der 1960er-Jahre als „das gemeinsame Hobby von Technokraten, Politikern und Ideologen“ ansah. (Ebd., S. 19)
Wenn es um die Auslotung ungekannter (urbaner) Räume geht, erinnern Bogdanovićs Stadterkundungen – die, so fand er, nur zu Fuß, „mit den Hacken sozusagen“, funktionieren würden (weshalb er seinen Studierenden die „Johnnie-Walker-Methode“ ans Herz legte) – in manchem an jene der Situationisten und ihrer Vorgänger. (Ebd., S. 17) Das 1953 von dem 19-jährigen Ivan Chtcheglov, einem Mitglied dieser künstlerisch-politischen Vereinigung, veröffentlichte Formulaire pour un urbanisme nouveau (Formel für einen neuen Urbanismus) inspirierte zahlreiche ihrer Aktivitäten und Theorien, insbesondere die „Psychogeographie“, deren Ziel es war, die Wirkung städtischer Räume auf ihre BewohnerInnen zu untersuchen und die den Geografien einer Stadt eingeschriebenen Qualitäten und Handlungsmöglichkeiten mithilfe verschiedener Techniken, etwa des ziellosen Umherschweifens über mitunter längere Zeiträume („Dérive“) zu beeinflussen. Der Utopismus, den sie vertraten, distanzierte sich, bei allem ihm selbst innewohnenden Eskapismus, von abstrakt bleibenden, in einem unerreichbaren Nirgendwo angesiedelten, erhabenen Visionen eines besseren Lebens: Die Revolution sollte im Hier und Jetzt stattfinden, in Städten, die existierten. (Vgl. Pinder 2005, S. 245) Auch eine in der Ausstellung präsentierte Skizze Bogdanovićs lässt die Stadt als „psychisches Feld“ erscheinen, als „KONTINUUM / ALS MEIN KONTINUUM /!“, in das sich unsere tagtäglichen Bewegungen und Wege einschreiben lassen. Die Stadt ist hier zugleich „Abdruck“ (oder Spur) unserer Persönlichkeit und „bildet sich in uns ab“ („GRAD SE OCTRAVA […] U NAMA …“). (Bogdanović, LIT 393)
Abb. 1: Bogdan Bogdanović: „GRAD“, ohne Datum. Typoskript mit Filzstiftzeichnung, 29,7 x 21 cm. Österreichische Nationalbibliothek, Literaturarchiv, LIT 393/11/1.9.2
Gartenstadt
Als „konkrete Utopie“ kann die Hommage „WIG 74“ Friedrich Heers (1916–1983) an die zweite Internationale Gartenschau Wiens gelten. „Eine Million Quadratmeter Gartenparadies im sonnigen Süden Wiens“ werden, vordergründig wenigstens, in dem vier Typoskript-Seiten umfassenden Gedicht aus dem Nachlass des Historikers, Kulturphilosophen und Schriftstellers besungen. Heer, dessen außerordentlich umfangreiches Werk auch von der lebenslangen Auseinandersetzung mit seiner Geburtsstadt Wien zeugt, schrieb es anlässlich der zweiten „Wiener Internationalen Gartenschau“, die im Jahr 1974 auf dem Gelände des heutigen Kurparks Oberlaa im Süden Wiens stattfand. Unerreichbarer als der Mond mögen zur Zeit der Entstehung von Heers Gartenode die darin imaginierten offenen Grenzen gewesen sein: Budapest rückt nahe an Wien, „hinter den blauen Bergen führt die Strasse nach Brünn, nach Prag“. (Heer, ÖLA 188, 1) „[A]uf einer Erde, die täglich / […] getränkt wird mit Blut“ – und dreißig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges – scheint „Gärten der Nationen“ zu errichten möglich (ebd.), wenigstens auf dem Gelände der WIG, fand sich ein „Utopischer Garten“ doch bereits im Anforderungsprofil der Ausschreibung zu dieser Schau. „Gärten sind ja immer auch dies: Utopie / Verheissung eines Glücks, das noch nicht da ist“, heißt es bei Heer. (Ebd.) Seiner Vision Wiens als „Schwesterstadt aller Städte“ wohnt ein antizipatorisches Moment inne, zeigt sie doch an, was es zu verwirklichen gilt: „es liegt nur an uns, dies an uns zu bestellen“. (Ebd., 4)
Abb. 2: Wien-Aktuell, Nr. 143: Wandzeitung der Stadt Wien zur WIG 74. Alois Brunnthaler / Horst Riedler, Druck- und Verlagsanstalt Vorwärts AG, Wien. Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv und Grafiksammlung, PLA16740454
Seestadt
Möglichkeitsräume offenbaren sich uns auch in der literarisch-künstlerischen Annäherung an die Seestadt Aspern zur Zeit ihrer Planung: Das Buch aspern. Reise in eine mögliche Stadt (2013) der AutorInnen Thomas Ballhausen, Andrea Grill und Hanno Millesi führt in die nähere Gegenwart Wiens, dorthin, wo sich ab 1912 der Vorgänger des heutigen Flughafens Wien-Schwechat befand und seit 2009 eines der größten Stadtentwicklungsgebiete Europas im Entstehen begriffen ist. Es erkundet in Texten und Bildern Gebiete, die mittlerweile tatsächlich Form angenommen haben und ist zugleich eine Suche nach universalen Möglichkeiten städtischen Lebens. In der Ausstellung ist eine eigens angefertigte Installation des Künstlers Hanno Millesi zu sehen, die einige, auch im Band zu Aspern enthaltene Collagenarbeiten versammelt.
Abb. 3: Hanno Millesi: „Yesterday’s People“, 2015. Collage, 11,9 x 13,8 cm. © Hanno Millesi
Begleitend zur Ausstellung » Wien. Eine Stadt im Spiegel der Literatur im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek erschien ein gleichnamiger Katalog, hrsg. von Bernhard Fetz, Katharina Manojlovic und Kerstin Putz. Wien, Bozen: Folio Verlag 2019, 192 Seiten, zahlreiche Abbildungen.
Zur Autorin: Katharina Manojlovic ist Mitarbeiterin des Literaturmuseums der Österreichischen Nationalbibliothek und Mitkuratorin der aktuellen Sonderausstellung „Wien. Eine Stadt im Spiegel der Literatur.“
Literatur:
Eingangszitat aus: Bachmann, Ingeborg: „Todesarten“. Typoskript aus dem Nachlass, o.D. Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, LIT 423/N3251.
Bachmann, Ingeborg (1993): Der Fall Franza. In: dies.: Werke, Bd. 3: Malina und unvollendete Romane. Hg. v. Christine Koschel, Inge von Weidenbaum, Clemens Münster. München: Piper.
Ballhausen, Thomas / Andrea Grill / Hanno Millesi (2013): aspern. Reise in eine mögliche Stadt. Wien: Falter Verlag.
Bogdanović, Bogdan (LIT 393): „GRAD“, Typoskript und Zeichnung, A4, o. D. Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, LIT 393/11/1.9.2.
Bogdanović, Bogdan (2009): Vom Glück in den Städten. Wien: Paul Zsolnay Verlag.
Heer, Friedrich (ÖLA 188): „WIG 74“, Typoskript [1974]. Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, ÖLA 188/W45.
Pinder, David (2005): Visions of the City. Utopianism, Power and Politics in Twentieth-Century Urbanism. Edinburgh: Edinburgh University Press.
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