Autor: Hans Höller
Die Ausstellung „Im Rausch des Schreibens. Von Musil bis Bachmann“folgt in fünf thematischen Kapiteln den rauschhaften Zügen, die das Schreiben annehmen kann. Im Zentrum stehen außerdem Texte, die in unterschiedlichen Spielformen von Entgrenzung und Genuss, von tranceartiger Entrückung und Körpergetriebenheit handeln. Die Tasse Kaffee, der Zug an der Zigarette oder das Hören einer bestimmten Musik – die Stimulanzien der literarischen Imagination reichen von alltäglichen Genussmitteln bis zu bewusstseinserweiternden Substanzen. Außergewöhnliche Original-Exponate, ergänzt durch fotografische (Selbst-)Inszenierungen und kulturhistorische Dokumente, vermessen das Feld zwischen Schreibarbeit und literarischer Grenzerfahrung. Begleitend zur Ausstellung ist im Paul Zsolnay Verlag auch ein gleichnamiges » Buch erschienen. Darin veranschaulicht beispielsweise der Literaturwissenschaftler Hans Höller den psychischen und physischen Ausnahmezustand im Prozess des Schreibens bei Ingeborg Bachmann. Lesen Sie hier einen Auszug aus seinem Beitrag.
Um Feuer zu bekommen für eine letzte und allerletzte Zigarette
Was für eine ungeheure Spannweite von Erfahrungen, Gefühlen und Gedanken tut sich allein in Bachmanns Malina-Roman auf, der doch zugleich neben den vielen anderen Gattungsformen ein Kriminalroman ist, dessen letzter Satz „Es war Mord“ lautet und der wie ein kriminalistischer Befund die Geschichte des weiblichen Ich resümiert, eine Geschichte, die Bachmann, wie erwähnt, selbst als ihre „geistige, imaginäre Autobiographie“ bezeichnet hat. Und wie in den Gedichten wird auch hier das Drama von der Entstehung der Werke „erzählt“, bei der sich das schreibende Ich der Gefahr aussetzt, im Rausch des Schreibens zu verbrennen. Das Wissen um die tödliche Seite der selbstruinösen Verausgabung ist am Schluss von Malina in den fortirrenden Gedanken des weiblichen Ich enthalten, wenn sie an der glühenden Herdplatte steht, an der sie so oft eine letzte und noch eine letzte Zigarette angezündet hat. Diese Stelle liest sich wie ein trauriger Abgesang auf all die Stellen vom Erglühen, vom Feuer und vom Entbranntsein im Rausch des Schreibens. Es ist Nacht, „sie“ steht vor dem Herd, um Kaffee zu kochen, sie sieht auf die glühende Herdplatte, auf die sie zu fallen droht, und muss aufpassen, dass sie sich nicht „selber verstümmle, verbrenne“:
„denn Malina müßte sonst die Polizei und die Rettung anrufen, er müßte die Fahrlässigkeit eingestehen, ihm sei da eine Frau halb verbrannt. Ich richte mich auf, glühend im Gesicht von der rotglühenden Platte, auf der ich nachts so oft Fetzen von Papier angezündet habe, nicht etwa um etwas Geschriebenes zu verbrennen, sondern um Feuer zu bekommen für eine letzte und allerletzte Zigarette. […] Ich kann den Schalter noch auf 0 zurückstellen. Es war einmal, aber ich verbrenne nicht, halte mich gerade, der Kaffee ist fertig, der Deckel auf die Kanne getan. Ich bin fertig. […] Es war einmal, aber ich verbrenne nicht, halte mich gerade, der Kaffee ist fertig.“ (Bachmann 1995: 3.1, 691f.)
Nicht wenige Blätter im Nachlass Ingeborg Bachmanns zeigen Brandflecken und eingebrannte Löcher, Kaffeeflecken, Zeichen der rauschhaften Arbeit des Schreibens, aber diese Spuren sind oft auch Zeichen der Not, sich zum Schreiben anfeuern und antreiben zu müssen. Doch nicht diese augenfälligen äußerlichen Indizien machen die Bedeutung des Bachmann-Nachlasses aus. In jenen aufbewahrten „staubigen verbleichten Blättern und Papierfetzen“, wie Malina einmal im Roman die „Hinterlassenschaft“ des weiblichen Ich nennt, ist ein Drama des Schreibens und der Werkentstehung überliefert, wie es selten eines in dieser Form gegeben hat. (Bachmann 1995: 3.1, 632f.) Die Entstehungshandschriften und -typoskripte sind einzigartige historische Dokumente der Geschichte des Schreibens nach 1945. Zu Recht ist der Nachlass Ingeborg Bachmanns im Juni 2016 in das österreichische Memory of the World Register des Weltkulturerbes aufgenommen worden. Erst wenn man die Entwürfe, Vorstufen und Fragmente der Werke kennt, bekommt man eine konkrete Vorstellung von dem, was Schreiben nach 1945 bedeutet. Die Brüchigkeit der Werkgenesen, das häufige Abbrechen und Scheitern der Schreibprojekte, aber auch das immer wieder neue Ansetzen und Weiterarbeiten geben eine Vorstellung von der fragwürdig gewordenen Idee des geschlossenen Werks. In ihm sah die Autorin den Ausdruck einer gedächtnislosen Kultur und einen Begriff von Autorschaft, der auf der Domäne männlicher Macht, verflochten mit der bisherigen Gewaltgeschichte, beruht.
Oft setzt die Textentstehung mit traumatischen Impulsen ein, mit destruktiven Erfahrungen, deren erste Notate dann immer weiter bearbeitet werden, bis sie zuletzt verwandelt sind in ein Werk, das „weiß“, wovon es ausgegangen ist, und das in seiner neuen Sprache und Form einen Gegenentwurf darstellt. Dieses Ausgesetztsein, dieses Abweichenmüssen von der normalen Erfahrung, auch dort, wo es um die schmerzliche Seite der Realität geht, die Unfähigkeit, diesen Blick abschütteln zu können, ihn wie eine Verdammnis erleben zu müssen oder wie ein Stigma – darin lag schon für die junge Dichterin die schmerzliche Last der „Trunkenheit“, und sie kannte schon früh den Preis für den Weg in die schwindelnde Höhe des Kunstwerks.
Zu der in Extreme zerrissenen Welt von Bachmanns Werk, wie sie in den Textgenesen vor Augen liegt, gehört auch die ungeheure Spannweite von Feuer und Rausch in ihrem Œuvre. Neben der philosophisch anspruchsvollsten Dichtung, die ihren Ursprung in der rauschhaften Wahrnehmungserweiterung mitdenkt, gibt ihr Werk auch Kunde von der Agonie durch die Einnahme von Rauschmitteln und von der sozialen Deprimiertheit jenes Sich-Fügens in das „gemeine Unglück“ (Sigmund Freud) einer krank machenden Welt. Die Beunruhigung, die vom Leben und Werk Ingeborg Bachmanns ausgeht, liegt nicht zuletzt in der anstößigen Spannweite, die sich zwischen Unter dem Weinstock oder dem Mohngedicht In Apulien und dem nicht zu Lebzeiten veröffentlichten Alkohol-Gedicht auftut:
ALKOHOL
Trinken, was trinken,
ich trinke, trinke den Staub auf den Flimmer auf
ich trinke in mich hinein soviel Schilling
ich trinke meine Arbeit in mich hinein trinke
heraus, ich kann nur mehr trinken
mich aus allem heraus trinken, das säuft
den Geschmack weg aus allem, aus Staub aus
ich sags nicht weil keiner es sagt
warum es trinkt, sich zu Tod säuft,
ich bins ja ja nicht, es säuft sich
an ich sag nicht, weil keiner sagt
man soll mich nicht aufrütteln
mich zwingen zu sagen, es weiß ja jeder
warum es säuft. Sich besäuft, sich
sich betäubt, es betäubt sich
Und was Liebe und Krätzen und Fortschritt
Es weiß ja jeder und wer nicht säuft, weiß
auch, es weiß ja jeder, das sag ich nicht mehr,
weiß weiß weiß weiß weiß weiß
weiß weiß weiß
weiß
mehr sag ich nicht
als daß jeder weiß
(Bachmann 2000: 151)
Vielleicht ist aber dieses Gedicht nicht weniger gelungen als Unter dem Weinstock? Auch ohne kulturkritisches Wissen „weiß“ es, und es weiß sogar mehr, weil in dem Zustand, um den es weiß, das übliche kritische Wissen nicht mehr zählt und auch nicht mehr die üblichen Übereinkünfte, wie ein Kunstwerk zu sein hat. Seine Kunst liegt in der Mimesis des Kunstfernen oder Kunstfremden, von dem ihr Paul Celan in seinem Brief vom 21. September 1963 geschrieben hatte, als er erfuhr, dass sie „eben erst wieder aus der Klinik zurück“ sei. Von seinem damals fertiggestellten Gedichtband berichtet er ihr, er sei darin „mitunter […] einen recht kunstfernen Weg gegangen. Das Dokument einer Krise, wenn Du willst – aber was wäre Dichtung, wenn sie nicht auch das wäre, und zwar radikal?“ (Bachmann / Celan 2009: 158f.) Bachmanns Gedicht – und das gilt auch für andere Gedichte in dem postum erschienenen Band mit den Gedichtentwürfen Ich weiß keine bessere Welt (2000) – geht in seiner Kunstferne noch einen Schritt weiter. Was die Schriftstellerin damals in einer Rezension von Leo Lipskis Roman Ein Maximum an Exil geschrieben hat, lässt sich übertragen auf das Ich im Gedicht Alkohol und in den anderen Gedichtentwürfen und -fragmenten von Ich weiß keine bessere Welt aus der Zeit der schweren physischen Krise in den Jahren von Ende 1962 bis 1964. Es geht ihr in der Rezension vor allem um das Ich im Roman, das von sich sagt: „Das Leben legt sich auf das Gesicht wie eine Staubschicht. Die Menschen sind von mir abgefallen.“ Dieses Ich ist ein „Punkt, der Nichtlebenkönnen heißt, der Sehen heißt, Fühlen, Riechen, Einverleiben, der Murmeln ist, Zerbröckeln, Zerfallen, Weinen, Versinken […].“ (Bachmann 2005: 439–452)
Über den Autor: Hans Höller ist emeritierter Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Salzburg und gemeinsam mit Irene Fußl Herausgeber der neuen Salzburger Bachmann-Edition.
Vollständiger Aufsatz:
Höller, Hans (2017): „Meine Trunkenheit kann ich nicht abschütteln“. Rausch und Trauer im Werk Ingeborg Bachmanns, in : Katharina Manojlovic und Kerstin Putz (Hrsg.), Im Rausch des Schreibens. Von Musil bis Bachmann (= Profile, Bd. 24), Wien: Paul Zsolnay Verlag, S. 13-27.
Bachmann, Ingeborg (2005): Kritische Schriften, hg. v. Monika Albrecht u. Dirk Göttsche, unter Leitung v. Robert Pichl. München, Zürich: Piper.
Bachmann, Ingeborg (1995): „Todesarten“-Projekt. Kritische Ausgabe. Bd. 1–4, hg. v. Monika Albrecht u. Dirk Göttsche, unter Leitung v. Robert Pichl. München, Zürich: Piper.
Bachmann, Ingeborg (2000): Ich weiß keine bessere Welt. Unveröffentlichte Gedichte, hg. v. Isolde Moser, Heinz Bachmann u. Christian Moser. München, Zürich: Piper.
Bachmann, Ingeborg / Celan, Paul (2009): Herzzeit. Der Briefwechsel. Mit den Briefwechseln zwischen Paul Celan und Max Frisch sowie zwischen Ingeborg Bachmann und Gisèle Celan-Lestrange, hg. u. komm. v. Bertrand Badiou, Hans Höller, Andrea Stoll u. Barbara Wiedemann. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch.
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