Mit der Tänzerin und Performance-Künstlerin Cilli Wang verband Elias Canetti eine lebenslange Freundschaft, die sein Werk nachhaltig inspirierte. Ihr Nachlass befindet sich seit 2006 im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek.
Autor: Bernhard Fetz
Canettis Wien, das waren – neben prägenden Erfahrungen wie dem Brand des Justizpalastes – vor allem Begegnungen mit Menschen; es waren sehr unterschiedliche „Figuren“, denen Canetti begegnete, darunter wenig gebildete Einbrecher und hochbegabte, körperlich aufs Schwerste beeinträchtigte Philosophen. Die Kabarettistin, Schauspielerin und Tänzerin Cilli Wang (1909–2005) war eine lebenslange Freundin Canettis, die er 1932 über ihren Mann, den aus Breslau stammenden Philosophen und Regisseur Hans Schlesinger (1896–1945), kennen lernte. Sie war eine Verwandlungskünstlerin, die Pantomime und Tanz zu einer ganz eigenen neuen Kunstform verband. Diese Mischung aus vollendeter Bühnentechnik und fast animistischen Fähigkeiten zur Verwandlung in unbelebte und belebte Wesen war Canettis Vorstellungen nahe.
Mit Cilli Wang und ihrem Mann Hans Schlesinger zeigt sich eine unbekanntere Facette jenes Wiener Milieus um 1930, das für Canetti so prägend war. Mit ihr verbinden sich seine Anfänge als Schriftsteller; Wang war für Canetti „Wienerin im besten, im Nestroyschen Sinn des Wortes“. (Canetti: 2005, 123)
Als Canetti Cilli Wang 1931 in Wien kennen lernte, war der noch kaum bekannte Schriftsteller ein Figuren- und Stimmensammler, ein Beobachter auf der Jagd nach menschlichen Verhaltensweisen, die vor allem auch Haltungen im wörtlichen Sinne waren. Zurückgekehrt aus dem schrillen Bohème-Berlin, ist die Ruhe auf den Spaziergängen in der Vorstadt Hietzing, die ihren Ausgang von seiner Wohnung in der Hagenberggasse nehmen, trügerisch. Eine Figur springt den Spaziergänger an. Es ist ein „Überfall“, ein „Schlag auf die Augen“, ein „Stein auf den Kopf“. „Ich war ihr noch nie begegnet, sie befremdete mich bis zum Erschrecken, sprang mich an, hockte sich mir auf die Schultern, verschränkte die Beine auf meiner Brust, lenkte mich, so rasch wie sie wollte, wohin es ihr gefiel.“ (FO: 298) Hier zeigt sich der phänomenologische und radikal antipsychologische Ansatz eines Schriftstellers, dessen Figuren zwar Kopfgeburten sind, ihn jedoch anspringen, als wären sie echt. Und das sind sie ja auch, zusammengesetzt aus Gehörtem und Gesehenem und hier real als Körper, der auf dem Erzähler lastet und diesen dirigiert. Diese Kunstfiguren sollten so exemplarisch wie nur irgend möglich sein, ohne ihren Standpunkt wäre – so die Hoffnung, wie sie die Autobiographie rekonstruiert und stilisiert – die Welt „ärmer“ und „verlogener“. (Vgl. FO: 299) Zu den Figuren, die sich in den Vordergrund drängen, gehören der „Wahrheitsmensch“, der „Phantast“, der „religiöse Fanatiker“, der „Sammler“, der „Verschwender“, der „Tod-Feind“ natürlich und der „Büchermensch“. (FO: 299/300) Die Mittel der präzisen Übertreibung (Vgl. Canetti 1995: 344)i und der satirischen Typisierung sind auch die Mittel der Verwandlungskünstlerin Cilli Wang.
Cilli (Zäzilie) Wang wurde 1909 als Kind jüdischer Eltern in Wien geboren. Bereits in der Schulzeit zeigten sich ihre Talente:
„Ich hatte schon [S]tandard Nummern, in Verkleidung und Darstellung: Mantel, Schirm, Hut und eine falsche Nase, das war der Jud, über den die Eltern Tränen lachen konnten. Aber ich habe ihn eigentlich gar nicht komisch gemeint, so wie ich ihn gesehen und erlebt habe; wie ich überhaupt eine große Beobachtungsgabe hatte und mich in Situationen einleben konnte.“ (DA: 2)
Cilli Wang beugte sich dem Wunsch ihrer Eltern und nahm eine Lehrstelle in einem Kunstgewerbeatelier im ersten Bezirk in Wien an. Wenig später erhielt sie einen Platz in der Tanzklasse an der Akademie für Musik und darstellende Kunst; deren Leiterin die legendäre Gertrud Bodenwieser war, die im Nebenfach „moderner Tanz“ unterrichtete. (Vgl. DA: 2)
Wang begann ihre Karriere im Jahr 1929 als Tänzerin zu Gedichten von Wilhelm Busch, Christian Morgenstern (Das große Lalula) und Goethe (Gesang der Geister über den Wassern), die vom jungen Sprechkünstler Ernst Ceiss vorgetragen wurden. Die Herausforderung bei letzterem Gedicht bestand darin, die Gedankenlyrik Goethes szenisch umzusetzen. Bald jedoch wollte Wang die Texte selber sprechen und erweiterte ihr Repertoire um den Suppenkaspar aus dem Struwwelpeter und die Zäzilie von Christian Morgenstern. In diesem Gedicht wirft das Dienstmädchen schließlich die zu putzenden Scheiben ein, um der Forderung der Hausfrau, die Fenster so sauber wie Luft zu putzen, gerecht zu werden. Die pantomimische Realisierung der Zäzilie sollte eine der erfolgreichsten Nummern im Repertoire Cilli Wangs werden. Zudem tanzte sie nun auch nach Musik. Ihr erster selbständig choreographierter Tanz war the little shepherd aus Claude Debussys kleiner Klaviersuite children’s corner.
Ende 1930 lernte Cilli Wang den Schauspieler, Dramaturgen und Regisseur Hans Schlesinger kennen. Sie führte ihm Teile ihres Repertoires vor und machte dabei so „großen Eindruck“ auf ihn, dass Schlesinger das Theater im nordböhmischen und bis 1918 zur Donaumonarchie gehörenden Teplitz-Schönau, wo er engagiert war, verließ und nach Wien übersiedelte. (Vgl. DA: 14) Hans Schlesinger wurde zu Cilli Wangs Partner, Nummernschreiber und Sprach-Lehrmeister. Er ließ sie pausenlos Goethes Faust rezitieren, um Sprachrhythmus und Aussprache zu trainieren. Anfang 1931 begann Wangs erfolgreiche Berliner Zeit; besonders sticht ihr Engagement in Werner Finks berühmtem Kabarett Die Katakombe hervor, das von 1929 bis zu seiner Schließung durch die Nazis 1935 existierte. Bei einer Aufführung im Varietétheater Wintergarten bekam sie zum ersten Mal den Judenhass zu spüren, als der Chef einer Truppe von Artistinnen auf Einrädern, „angefeuert durch den Applaus“ und im Rhythmus der Musik, ins Publikum schrie: „hauts die Juden, hauts die Juden! Das war 1931. Und das letzte, das ich in Berlin hörte und ich wusste, dass es auch meiner Heimreise galt.“ (DA: 14)
Cilli Wang ging zurück nach Wien und heiratete 1932 Hans Schlesinger, auch aus finanziellen Gründen. Schlesinger und Wang hatten in Wien ein Theater eröffnet, das sie Beispiele nannten, das allerdings schon nach kurzer Zeit Bankrott ging. Zur Hochzeit bekamen sie von Wangs Vater ein Atelier im 4. Wiener Bezirk geschenkt. Den Platz benötigte das Ehepaar vor allem für das Einstudieren von Ensembleszenen, nachdem Schlesinger die Leitung der Schauspielabteilung an der Volkshochschule Ottakring übernommen hatte, das Theater der Volkshochschule. Hier traten Schauspieler auf, die aus Deutschland geflohen waren (vgl. Hanuschek 2005: 300), unter ihnen auch Cilli Wang. Der große Saal der Volkshochschule wurde in den 1930er Jahren zu einem der intellektuellen Zentren Wiens, ohne aufzuhören, ein Ort der sozialdemokratischen Wiener Volksbildung zu sein. Broch, Musil und Canetti hielten hier Vorträge, und Cilli Wang tanzte: „Stürmisch bekannte sich die Ottakringer Volkshochschulgemeinde zur aktuellen Verwandlungskunst der Cilli Wang – aus dem Suppenkaspar wurde der Krisenkaspar, aus Napoleon wurde Der kleine Mann.“ Diese Sätze stammen von Viktor Matejka, dem legendären Wiener Kulturstadtrat nach 1945. (Matejka 1981: 30)
Im Atelier in der Weyringergasse probte Hans Schlesinger, der sich für das zeitgenössische Theater einsetzte, auch Canettis Hochzeit. Cilli Wang spielte das Mariechen, Leon Epp den Bräutigam mit dem Wuschelhaar. Wie Cilli Wang Sven Hanuschek erzählte, hat Canetti sein Stück 1932 dort auch vorgelesen, unter den Gästen soll sogar der Regisseur Otto Preminger gewesen sein. (Vgl. Hanuschek 2005: 301) Zur geplanten Uraufführung kam es allerdings nicht.
Von 1935–1936 hatte Wang zahlreiche Auftritte im Lieben Augustin bei Stella Kadmon, im ABC in der Porzellangasse, im Simpl, den damals bekanntesten Kabarettbühnen Wiens, und gemeinsam mit Gertrud Kraus auch im Volksgarten. Kraus gehörte mit Grete Wiesenthal und Gertrud Bodenwieser zu den Reformerinnen des freien Tanzes im Wien der 1920er und 1930er Jahre und später zu den Mitbegründerinnen der modernen israelischen Tanzkultur.
Schlesingers Texte zeigen einerseits seinen Wortwitz und den Sinn für groteske Mensch-Ding-Beziehungen, andererseits werden sie immer politischer. Marie heißt ein Gedicht, das vielleicht auch mit Blick auf Bertolt Brechts Erinnerung an die Marie A. verfasst wurde. In Schlesingers Text steht Marie vor dem Kölner Dom und zögert, bis sie ihm schließlich zunickt. Der Dom nickt zurück und gerät ins Wanken.
Unter den zahlreichen Nummern, die Schlesinger für Cilli Wang schrieb, waren der Krisenkaspar und die Harlekinade die bekanntesten und erfolgreichsten. Der Krisenkaspar ist im Rhythmus des Suppenkaspar gedichtet und beinhaltet Phrasen wie „ich kenne keine Krise, nein“, Schlesingers Figur zeigt den Kaspar als Krisengewinnler: „Am vierten Tage endlich gar / der Kaspar schon im Ausgleich war, / er schloss das Werk und war bereits / am fünften Tage in der Schweiz.“ (Wang, o.D.: Typoskript Nachlass, o.S.)
1935 ging Wang in die Schweiz zu Erika Mann, die eine komische Tänzerin suchte. Die Pfeffermühle war ein politisches Kabarett, und als politisch wurden auch Wangs Tänze aufgefasst. Ihr Ländler wurde später wegen Lächerlichmachung deutschen Volkstums verboten. Als die Bedingungen für politisches Kabarett auch in der Schweiz immer schwieriger wurden und die Pfeffermühle nur noch unter Schutz spielen konnte, entschloss sich Wang dazu ihr Engagement zu beenden; sie fuhr für Gastspiele nach Holland, in die Tschechoslowakische Republik und nach Polen. In London kam sie schließlich wieder mit Hans Schlesinger zusammen. Als Adolf Hitler am 13. März 1938 den „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich verkündete, war beiden klar, dass sie nicht mehr nach Wien zurückkonnten. Wangs Manager verschaffte ihr ein Engagement und damit eine Arbeitsbewilligung in Den Haag, wo sie ebenfalls außerordentlich erfolgreich war. Während der deutschen Besatzung lebten Wang und Schlesinger drei Jahre als Illegale in Den Haag. Am 10. April 1945 läuteten deutsche Soldaten an der Haustüre. Hans Schlesinger, der sich aus Angst vor Entdeckung auf dem Dachboden versteckt hielt, erlitt einen Herzinfarkt und starb.
Nach dem Krieg machte Cilli Wang eine Weltkarriere, mit Stationen in Südamerika, in Südafrika, wiederholt auch in London, wo sie Canetti immer wieder sah und, der alle seine Freunde zu ihren Aufführungen brachte. Ein Höhepunkt in ihrer langen Karriere war die Israel-Tournee im Jahr 1950. Cilli Wang starb 2005 in Wien.
Für Elias Canetti war Cilli Wang eine Wiener Überlebende, nachdem fast alle tot waren. Die Briefe an die Freundin sind wie ein Barometer der wechselnden Wien-Zustände Canettis zu lesen. In den 1950er Jahren ist die Distanz zu Wien sehr deutlich, wenn Canetti Cilli Wang in einem langen Brief vom 14. und 15. Oktober 1953 von seinen Erfahrungen in der Stadt anlässlich einer vom Pen-Club in der Galerie Würthle organisierten „Vorlesung“ schreibt: „Was soll ich Dir über Wien selbst sagen? Ich war erst entsetzt, aber dann habe ich mich daran gewöhnt […] Ich finde die Überbetonung des Dialekts unerträglich, genauso wie die provinziellen Trachten.“ (Canetti 2018: 99) Das erinnert an die Wien-Erfahrungen der Schriftstellerin, Publizistin und Emigrantin Hilde Spiel, die 1946 als war correspondent für einige Wochen nach Wien zurückkehrte. Ihre Eindrücke des zerstörten Nachkriegs-Wien hielt sie in Form eines in englischer Sprache verfassten Tagebuchs unter dem Titel The Streets of Vineta fest. Auch Hilde Spiel kommentierte den Provinzialismus der einst so weltläufigen Stadt.ii
Mit Hans Schlesinger verbanden Canetti seine Wiener Anfänge als Schriftsteller:
„Es war kein Zufall, der uns (gemeint ist Cilli Wang, d. Verf.) zusammengeführt hat: Wir sind vom selben Mann entdeckt worden: Hans Schlesinger, der Regisseur, war einer der eigenwilligsten Geister der Wiener Vorkriegszeit. Er hat den Krieg nicht überlebt, von ihm übriggeblieben sind Cilli Wang und ich. Das erklärt vielleicht die geschwisterlichen Gefühle, die ich für sie habe. Sie war seine Frau und ich immerhin sein Freund. Als ich ihn kennenlernte, war sie in Berlin. Ich las ihm mein erstes Drama vor, und er verstand es so gut wie seither niemand.“ (Canetti 2005: 122)
Warum war Hans Schlesinger ein so verständnisvoller und hellsichtiger Leser der Hochzeit? Was Canetti und Schlesinger auch verbindet, ist die Verarbeitung eines mehr oder weniger bewussten Otto-Weininger-Komplexes, dessen Einfluss ein bei allen sonstigen Unterschieden übergreifendes Generationen-Phänomen war.
Hans Schlesinger hat zumindest zwei Einakter verfasst, die 1923 im Selbstverlag als Bühnenmanuskripte gedruckt wurden: Weib. Ein Akt heißt das eine, Nachtstück das andere; beide gehen von einem dramatischen Grundeinfall aus, der am Schluss dramaturgisch äußerst effektvoll aufgelöst wird. In Weib geht es im Gespräch dreier Freunde – Dichter, Maler und Musiker – darum, wessen Kunst für die Zukunft ist und welche Kunst nur der Gegenwart dient, sowie um die Frage, welchem Grundantrieb sich das künstlerische Werk verdankt. Es verdankt sich demselben „Weib“, dem alle unabhängig voneinander verfallen sind, jeder auf seine Weise, und das ausgerechnet „Mitzi“ heißt: „Ich bin das Weib! Da stehe ich! Mehr als ihr! Wurzel alles Seins. Kampf. Glück. Werden und Vergehen! In mir pulst das Leben. Ich will und alles will. Ich will nicht und keiner will! (zum Maler): Ich will! Du bist mein Herr! (Umarmt ihn).“ (Schlesinger 1923: 20) Aus dem Wettstreit der Männer und dem Wettstreit der Künste geht der Maler als Sieger hervor, dessen Aktbild Mitzis auch und gerade als Produkt der Kunst-Scheinwelt alle betört. In Nachtstück muss ein reicher Herr, der sich ein armes Mädchen hält, erkennen, dass die Begehrte und zugleich als Dirne Verachtete seine Schwester ist – Abkömmling derselben verruchten Kupplerin wie er selbst, einer Kupplerin, die versucht hat, ihm die eigene Tochter zu verkaufen. Die Hure und Kupplerin verwandelt sich in die Mutter, die am Schluss vom Sohn und Freier erdrosselt wird. (Schlesinger 1923 b: 22f.)
Aus diesen Kurzcharakterisierungen wird deutlich, wie das Motiv selbstzerstörerischer Begierde gepaart mit Verlogenheit diese postexpressionistischen Einakter mit Canettis Hochzeit verbindet; ebenso wie die Zuspitzung auf einen dramatischen Grundeinfall, wobei Canettis Stückanlagen wesentlich komplexer sind. Wenn Schlesinger tatsächlich sofort die „wesentlichen Einflüsse“ auf die Hochzeit, nämlich Kraus, Nestroy und Büchner, erkannt hat (vgl. Hanuschek: 300), dann vielleicht auch deshalb, weil in der Kürze der Schlesingerschen Dialogsätze ebenso wie im Jargon seiner Figuren, dem schwülstigen des Musikers wie dem aufgeblasen moralisierenden des Dichters, Nestroy und Kraus mitschwingen; wie eben auch Weininger mehr als bloß mitschwingt, wenn das sexualisierte und verherrlichte „Weib“ zugleich Glück und Verhängnis der Männer ist.
In Canettis Hochzeit sind alle von Gier getrieben, Männer wie Frauen. Der entscheidende Moment des Stückes ist der Schluss, wenn die sterbende Frau des Hausbesorgers, die alte Kokosch, endlich nicht mehr von ihrem Mann am Sprechen gehindert wird und ausreden kann. (Vgl. Canetti 1995 b: 70) Es ist ein Moment der Erlösung und der Liebe. Der Weininger-Komplex ist komplex und hier nur angedeutet. Sven Hanuschek hat unter Bezug auf Studien zum Weininger-Einfluss bei Canetti gemeint: „Die Misogynie der Blendung war eine artifizielle, eine als hassenswert ausgestellte Haltung gegen die Weininger-Mode der Zeit. Anna Mahler gegenüber sprechen die Aufzeichnungen eine andere Sprache.“ (Vgl. Hanuschek: 271)
Canettis literarische Antwort auf diese für die intellektuellen Männer seiner Generation so prägende Frage ist vielschichtig und ästhetisch wie inhaltlich radikal. Schlesinger muss in Canetti einen Geistesverwandten erkannt haben, dessen literarisches Vermögen für ihn unerreichbar blieb.
Ein zweites Moment, das Canetti und Schlesinger verband, war das „Rätsel“ Verwandlung. Canetti war von Anbeginn an von Cilli Wangs Verwandlungskunst fasziniert und betonte das immer wieder in seinen Briefen und in seiner Hommage an die Freundin:
„Wir sprachen viel über Verwandlung, das Rätsel, das uns beide unablässig beschäftigte. Jedes Gespräch darüber endete bei ihm in Cilli Wang. Sie war das Beispiel, auf das er immer verwies. Was mir am Vorgang der Verwandlung unbegreiflich sei, an ihr würde es mir noch unbegreiflicher werden. Sie stelle dar, wovon wir nur sprächen. Gäbe es Verwandlung noch nicht – sie hätte sie erfunden. Sie sei unbeirrbar sie selbst, aber zu allem imstande. Er zeigte mir Bilder von ihr, die er immer bei sich hatte: das länglich-großäugige Gesicht eines Clowns. Ich war von der Frage in diesen Augen betroffen. Wenn ein Kind stumm wäre, würde es mit diesen Augen fragen.“ (Canetti 2005: 122)
In vielen Rezensionen wurde Cilli Wangs Bühnenkunst als parodistisch und grotesk bezeichnet. Sie selbst sprach sich sehr deutlich gegen diese Charakterisierungen aus. Wangs Kunst wollte zu nichts anderem da sein als zur „Verwandlung, Verzauberung des ganzen Menschen. Die Arbeit des Künstlers muss einmal aufhören, bloße Kunst zu sein, l’art pour l’art, sie muss l’art pour la réalité werden, eine Art Magie. Wir durchschauen vollkommen die Unwirklichkeit der Bühne und müssen trotzdem glauben.“ (Wang 1981: 28) Und an anderer Stelle, mit sehr deutlichem Canetti-Bezug: „Ich ,sublimiere‘ doch nur, erhebe zu einer Kunstform, was alle Kinder, was alle Primitiven tun: die Kinder, wenn sie Eisenbahn und Autos ,sind‘, die Primitiven, wenn sie Tiger ,sind‘ oder ,Teufel‘.“ Sie nenne, was sie mache, „Verwandeleien“, schreibt Wang; nichts mehr möge von ihr als Privatperson übrigbleiben, am glücklichsten sei sie, wenn sich auch das, „worin ich mich verwandelt habe, während des Tanzes selbst noch ein bisschen verwandeln kann“. (Wang 1981: 16)
Elias Canettis besessene Fixierung auf Körperlichkeit, auf gestischen, stimmlichen und physiognomischen Ausdruck, sowie die Rezeption ritueller und mythischer Quellen machen ihn zum Vertreter einer literarischen Anthropologie par excellence. Kiens Leidensweg im Roman Die Blendung ist ein ins Groteske verzerrter Passionsweg, eine körperliche Tortur, die gerade den auf die Wahrung seiner Körpergrenzen so bedachten Kopfmenschen umso vehementer trifft.
Canettis Blick ist immer ein genuin literarischer; auch dort, wo sein Interesse für archaische Mythen sich einer historischen Anthropologie annähert. Das Provozierende an Canettis literarischer Anthropologie liegt zum einen in der Missachtung der Historizität und kulturellen Bedingtheit der zitierten Dokumente (in Masse und Macht); zum anderen in der teils expliziten, wie an der Ablehnung Freuds deutlich wird, teils nur als Leerstelle lesbaren Abwehr philosophischer, soziologischer oder psychologischer Diskurse. Dies forderte besonders im Falle von Masse und Macht Kritik heraus. Die Massen erscheinen bei Canetti aufgrund ihrer schieren Größe und aufgrund ihrer physischen Präsenz nackt, aller diskursiven Attribute und aller ideologischen Formierungen scheinbar entkleidet.
Canettis faszinierende literarische Anthropologie und seine sensualistische Poetik richten den Blick auf Gesten und Phänomene unmittelbarer alltäglicher Evidenz: Gehen, Sitzen, Stehen, Kriechen und Hocken als anthropologische Phänomene, die gleichwohl Aussagen über das Wesen von Macht erlauben, verbinden die Figuren des asketischen Sinologen Kien und seiner Haushälterin Therese in Die Blendung mit Kapiteln aus Masse und Macht und auch mit einzelnen Figuren in den Dramen. Diese literarische Anthropologie ist eng verbunden mit dem Canettischen Zentralbegriff der „Verwandlung“, dem Gegengift gegen jegliches philosophisches Systemdenken. Die Verwandlung besitzt nicht nur eine anthropologische Qualität, sondern auch eine ästhetisch-literarische. Um das in mythischen Erzählungen und in der Physiognomie der Dinge verborgene Wissen um den Menschen wieder in Umlauf bringen zu können, bedarf es der genuin literarischen Arbeit, der Aufladung des Anderen mit poetisch-imaginativen Energien. Und dies ist es, was Canetti auch in den „Verwandeleien“ der ältesten Wiener Freundin und Überlebenden Cilli Wang gesehen hat:
„Es ist nicht möglich, an sie zu denken, ohne dass einen ein Glücksgefühl überkommt. [...] Jedem Menschen jeden Alters und jeder Herkunft so viel bedeuten zu können, ohne einem Publikum zu schmeicheln, ist, glaube ich, das Rarste, was es gibt. Ich habe es nur in diesem einen Fall erlebt.“ (Canetti 2005: 122)
Eine erweiterte Fassung dieses Beitrages ist in einer Elias Canetti und Wien gewidmeten Ausgabe der Oxford German Studies, Nr. 50, Ausgabe 1 (2021) erschienen. Siehe: Oxford German Studies: Vol 50, No 1 (tandfonline.com)
Dr. Bernhard Fetz ist Direktor des Literaturarchivs, des Literaturmuseums, der Sammlung für Plansprachen und des Esperantomuseums der Österreichischen Nationalbibliothek und Dozent am Institut für Germanistik der Universität Wien.
Canetti, Elias (1995): Werke in 10 Bänden, Bd. IV, Aufzeichnungen 1942–1985. München, Wien: Hanser.
Canetti, Elias (1995 b): Werke in 10 Bänden, Bd. II, Hochzeit/Komödie der Eitelkeit/Die Befristeten/Der Ohrenzeuge. München: Hanser.
Canetti, Elias (2005): Über Cilli Wang, in: Werke in 10 Bänden, Bd. X, Aufsätze, Reden, Gespräche. München, Wien: Hanser, S. 122–125.
Canetti, Elias (2018): Ich erwarte von Ihnen viel. Briefe, hg. von Sven Hanuschek und Kristian Wachinger, München, Wien: Hanser.
DA = Wang, Cilli: Der Anfang, unveröffentlichtes Typoskript aus dem Nachlass, ohne Datum. Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, Signatur 297/W1/1.
FO = Canetti, Elias (1993): Werke in 10 Bänden, Bd. VIII, Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921-1931. München, Wien: Hanser.
Hanuschek, Sven (2005): Elias Canetti. Biographie. München, Wien: Hanser.
Matejka, Viktor (1981): In Freundschaft zu Cilli Wang, in: Zauber der Verwandlung. Cilli Wang in ihren Gestalten, hg. von Oskar Pausch und Alfred Koll. Wien: Österreichisches Theatermuseum.
Schlesinger, Hans (1923): Weib. Ein Akt. Wien: Bugra.
Schlesinger, Hans (1923 b): Nachtstück. Ein Akt. Wien: Bugra.
Spiel, Hilde (1968): Rückkehr nach Wien. Ein Tagebuch. München: Nymphenburger Verlagshandlung.
Wang, Cilli (1981): Cilli Wang über ihre Arbeit, in: Zauber der Verwandlung. Cilli Wang in ihren Gestalten. Hg. von Oskar Pausch und Alfred Koll. Wien: Österreichisches Theatermuseum.
Wang, Cilli (o.D.): Von mir vorgetragen, unveröffentlichtes Typoskript aus dem Nachlass, Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, Sign. 297/S1.
i„Es interessiert mich nicht, einen Menschen, den ich kenne, präzis zu erfassen. Es interessiert mich nur, ihn präzis zu übertreiben.“ Aufzeichnung von 1971.
ii Für ihr mehr als zwanzig Jahre später veröffentlichtes Buch Rückkehr nach Wien (1968) übersetzte und erweiterte Spiel ihre Aufzeichnungen von 1946. Vgl. etwa die Passage auf S. 35: „Es gibt auch Neues: die Tirolerhüte, die jeder, auch der vornehmste Einwohner dieser einst so eleganten Stadt, jetzt trägt.“
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