1938: Die NS-Zeit: die politisch missbrauchte Bibliothek

Mit dem Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland am 12. März 1938 beginnt eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte der Österreichischen Nationalbibliothek. Paul Heigl, ein überzeugter Nationalsozialist der ersten Stunde und SS-Mitglied höheren Ranges, wird noch am 16. März 1938 vom Reichsstatthalter mit der kommissarischen Leitung der Nationalbibliothek beauftragt, sein Vorgänger Josef Bick gleichzeitig inhaftiert. Heigl leitet das Haus bis zu seinem Selbstmord im April 1945. MitarbeiterInnen der Bibliothek werden in der Folge aus rassischen Gründen entlassen, auch die Benützung der Bibliothek ist jüdischen Personen untersagt. Objekte aus dem Prunksaal und den Sondersammlungen werden in unterirdische Magazine evakuiert.

Seine guten Beziehungen zu Gestapo, SS und SD ermöglichen Heigl eine aggressive Erwerbungspolitik: im Aktenbestand der Generaldirektion finden sich zahlreiche Ansuchen Heigls um Beschlagnahme und Verwertung jüdischen Vermögens. Die beschlagnahmten Bibliotheken stammen von jüdischen Privatpersonen – wie etwa die Privatbibliothek von Alphonse de Rothschild, die Musikaliensammlung Gottlieb Kaldecks oder die umfangreiche Fotosammlung Raoul Kortys – sowie von jüdischen Einrichtungen wie der Israelitischen Kultusgemeinde Wien aber auch von regimefeindlich eingestuften Vereinen wie der Freimaurergroßloge Wien.

Mit dem zugewiesenen Raubgut verfährt die Nationalbibliothek unterschiedlich: ein Teil wird in die eigenen Bestände aufgenommen, manches an Bibliotheken des Deutschen Reichs weitergegeben, andere Teile sollten zur Ausstattung der geplanten Führerbibliothek in Linz beitragen.

Auf der gesetzlichen Grundlage des Kunstrückgabegesetzes 1998 bemüht sich die Österreichische Nationalbibliothek um eine lückenlose Restitutionaller noch in ihrem Besitz befindlichen unrechtmäßigen Erwerbungen aus der NS-Zeit.

In ihrem 2003 fertiggestellten Provenienzbericht sind über 52.000 solcher Objekte aufgelistet, die mittlerweile nahezu vollständig an die rechtmäßigen Erben – bzw. im Falle von unbekannten Vorbesitzern, an den Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus – zurückgegeben werden konnten. Nur durch einen vorbildlichen, sensiblen und ehrlichen Umgang mit ihrer eigenen Vergangenheit kann die Österreichische Nationalbibliothek Glaubwürdigkeit als zentrale Gedächtnisinstitution dieses Landes beanspruchen.

Provenienzforschung und Restitution

Weiterführende Literatur:
Hall, Murray G.: ... Allerlei für die Nationalbibliothek zu ergattern ...: eine österreichische Institution in der NS-Zeit / Murray G. Hall; Christina Köstner. - Wien [u.a.] : Böhlau, 2006.

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