Erich Fried (1921–1988) gehört zu den herausragenden Persönlichkeiten der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Seine literarische Leistung, u. a. als Erneuerer der politischen Dichtung ab den 1960er-Jahren, wurde vielfach gewürdigt und 1987 mit dem renommiertesten deutschsprachigen Literaturpreis, dem Georg-Büchner-Preis, ausgezeichnet. Internationale Anerkennung erlangte er auch als Übersetzer, insbesondere von William Shakespeare und dem walisischen Schriftsteller Dylan Thomas. Wissenschaftlich bisher kaum Beachtung gefunden hat er hingegen als engagierter Rundfunkkommentator der BBC.
Der aus Wien 1938 vertriebene Schriftsteller war von Anfang der 1950er-Jahre bis 1968 politischer Kommentator beim „German Soviet Zone Programme“ des britischen Rundfunksenders, wo er vor allem in seiner wöchentlichen „Intimus“-Sendung als unorthodoxer ‚Linker‘ in ideologiekritischer Absicht über (welt-)politische, philosophische, kunsttheoretische, psychologische und andere Themen zu HörerInnen in der DDR sprach. Der Nachlass Erich Frieds, der zu den umfangreichsten des Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek zählt, enthält auch zu diesen „Persönlichen Betrachtungen“, wie Fried seine Sendungsbeiträge nannte, umfangreiches Material.
Um die Vielschichtigkeit von Frieds „Intimus“-Tätigkeit nur im Bereich der Literatur anzudeuten sei auf seine zahlreichen Beiträge zu Literaturgeschichte und -betrieb verwiesen: u. a. Auseinandersetzungen mit Exilliteratur und der Gruppe 47, Berichte über einzelne bedeutende literarische Events, z. B. über den internationalen Schriftstellerkongress in Edinburgh 1962, den Moskauer Schriftstellerkongress 1965 und das Londoner Poetry International 1967 (mit Ingeborg Bachmann, Hans Magnus Enzensberger, Allen Ginsberg oder Pablo Neruda). Literaturtheoretische Diskurse, u. a. zu politischer Literatur und zum Sozialistischen Realismus (dem sogenannten „Bitterfelder Weg“ der DDR), werden in Zusammenhang mit Ernst Fischer und Georg Lukács abgehandelt.
Zu den Autor*innen, die in den verschiedenen Sendungen zentral oder zumindest markant aufscheinen, zählen u. a. Johannes R. Becher, Wolf Biermann, Johannes Bobrowski, Volker Braun, Bertolt Brecht, Willi Bredel, Paul Celan, Günter Bruno Fuchs, Günter Grass, Stefan Heym, Kuba (d. i. Kurt Barthel), Günter Kunert, Nelly Sachs, Peter Weiss, Christa Wolf, Arnold Zweig und Erich Fried selbst, der des Öfteren auch auf sein eigenes Werk Bezug nimmt. Aus dem nicht deutschsprachigen Bereich vertreten sind etwa Anna Achmatova, Ilja Ehrenburg, Jean Genet, Graham Greene, Ernest Hemingway, Ted Hughes, Stanislaw Jerzy Lec, Ladislav Mňačko, Christopher Middleton, Adrian Mitchell, Jean-Paul Sartre oder Yevgeny Aleksandrovich Yevtushenko.
Im Nachlass Erich Frieds am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek sind insgesamt 319 verschiedene „Intimus“-Sendungen als Typoskripte erhalten geblieben. Von diesen Sendungen gibt es oft zwei oder mehr schriftliche Fassungen, insgesamt 620 Versionen. Jede Sendung umfasst in der Regel 5 Seiten. Daraus ergibt sich ein Gesamtumfang von ca. 3.100 Blatt. Formal erschlossen können sie im Bibliothekskatalog abgerufen werden (430 Treffer).
Bis auf wenige Ausnahmen sind diese – aus international zeithistorisch-dokumentarischer Perspektive, aber auch in engerem Bezug auf das ‚Profil‘ Erich Frieds hochinteressanten – „Persönlichen Betrachtungen“ ungedruckt geblieben und auch von der Wissenschaft nur unzureichend wahrgenommen worden.
Um der Relevanz dieses Bestandes Rechnung zu tragen, ist ein breit angelegtes, mehrjähriges internationales wissenschaftlich-digitales Editionsprojekt geplant, als Kooperation der Österreichischen Nationalbibliothek mit den Universitäten Wien und Gießen sowie weiteren Expertise-Partner*innen aus Deutschland, Großbritannien und Österreich.
Das Potenzial einer fundierten Erschließung und Analyse dieser Materialien zeigt sich beispielhaft an einer Sendung aus dem Jahr 1966, die in den großen Themenbereich der internen DDR-Regimekritik gehört – hier mit besonderem Augenmerk auf den ‚Dissidenten‘ Robert Havemann, mit dem sich Fried in seinen Sendungen immer wieder (insbesondere in den 1960er-Jahren) auseinandergesetzt hat, und auf den Liedermacher und Lyriker Wolf Biermann.
Die Case Study zeigt erstmalig beispielhaft die herausragende literarische, politik- und kulturgeschichtliche Bedeutung eines bisher kaum zugänglichen Teils von Erich Frieds Werk. Die geplante wissenschaftlich-digitale Edition sämtlicher „Intimus“-Sendungen wird anhand von Registern, Stellenkommentaren und Analysen zum politischen Hintergrund und zur Rezeption aufschlussreiche Einblicke in die europäische Nachkriegsgeschichte und ihre kulturpolitischen Diskurse aus der Sicht eines Emigranten gewähren. Im Zentrum stehen insbesondere die literaturtheoretischen und politischen Diskussionen der deutschen Linken in den 1960er-Jahren und die Interdependenz von literarischen Strömungen und Entwicklungen in literarischen, kulturellen und politischen Institutionen in der DDR und der BRD. Sie kann dabei u.a. auf bisher unausgewertete Akten aus der „Behörde des/der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR“ zurückgreifen. Die Case Study stellt erste Ergebnisse entsprechender Recherchen vor. Sie untersucht überdies exemplarisch argumentative Strategien und rhetorische Strukturen der „persönlichen Betrachtungen“.
Über die Autor*innen:
Carsten Gansel, Professor für Neuere Deutsche Literatur und Germanistische Literatur- und Mediendidaktik an der Justus-Liebig-Universität Gießen, ist ein international ausgewiesener Experte für DDR-Literatur und deren gesellschaftliche Verankerung.
Roland Innerhofer ist emeritierter Professor für Neuere deutsche Literatur mit besonderer Berücksichtigung der österreichischen Literatur am Institut für Germanistik der Universität Wien.
Volker Kaukoreit (Priv.-Doz. Dr.), Literaturwissenschaftler, war bis 2020 stellvertretender Leiter des Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek, wo er sich als Fried-Spezialist viele Jahre lang mit der Bearbeitung des Nachlasses von Erich Fried beschäftigt hat.
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Die Sammlung sowie der Lesesaal von Bildarchiv und Grafiksammlung bleiben am 22. Jänner 2025 geschlossen.