Auf der Suche nach Emanzipation und Freiheit. Eine Reise rund um die Welt finanziert durch den Verkauf von Porträtkarten.
Autor: Bernhard Tuider
Am frühen Sonntagmorgen des 16. Juli 1911 versammelte sich eine Menschenmenge auf dem Dam, dem zentralen Platz in Amsterdam, um den von Abraham (Bram) Mossel (1891–1944), Frans van der Hoorn (1891–1946) und Gerard Perfors (1890–1964) publizistisch angekündigten Start zu ihrer für acht Jahre geplanten Reise – zu Fuß – rund um die Welt beizuwohnen. Die drei Vegetarier absolvierten nur die Grundschule und wuchsen in Amsterdam bzw. Den Haag in armen kinderreichen Arbeiterfamilien auf, in denen ihr Lebensstil sie zu Außenseitern machte. Sie tranken keinen Alkohol und waren in Jugendvereinigungen von Vegetarier*innen und Sozialist*innen aktiv, wo sie auch nach Inspiration suchten, um sich vom Arbeitermilieu und dessen engen traditionellen Rollenbildern zu emanzipieren.1
Obwohl sie die Welt außerhalb der Niederlande nur aus Büchern und Erzählungen kannten, beschlossen Bram und Gerard spontan im Frühjahr 1911 eine Weltreise zu unternehmen. Da Frans Esperanto beherrschte, eine 1887 von Ludwik Zamenhof initiierte transnationale Sprache, und unter seinem Namen bereits Artikel in der Zeitschrift „Laborista Esperantisto“ publiziert hatte, fragte Gerard seinen Jugendfreund aus Den Haag, ob er mitkommen wollte, und war sehr froh, als Frans sofort zustimmte.2
Das genaue Ziel ihrer Reise war vage. Sie wollten in anderen Ländern nach Freiheit und ihren Idealen streben, reisend ihre Talente fördern und direkt mit anderen Menschen und Kulturen in Kontakt kommen. Da sie kaum Geld hatten, um ihre Reise zu finanzieren, planten sie, Porträtkarten drucken zu lassen und an die Bewohner*innen der Dörfer und Städte zu verkaufen, durch die sie kommen sollten. Außerdem schrieben sie unterwegs Reisereportagen für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften, darunter „De Amstelgids“ und „De vegetarische bode“.
Schon bald nach ihrem Start hatten sie einen gut organisierten Tagesablauf, den sie für mehrere Wochen beibehielten. Täglich gingen sie circa sechs oder sieben Stunden, sie lernten die Sprache Esperanto, machten Notizen in ihren Tagebüchern und schwammen regelmäßig in Gewässern, an denen sie vorbeikamen. Informationen über die Gegenden, durch die sie wanderten, hatten sie vor allem aus deutschsprachigen Reiseführern und von Menschen, die Esperanto sprachen oder zu einer Vereinigung von Vegetarier*innen gehörten. Wo sie übernachteten, war davon abhängig, in welcher Gegend sie waren und wie viel Geld sie gerade hatten. Dementsprechend schliefen sie manchmal in Hotels und Herbergen, aber auch oft in Hütten, Scheunen, auf Heuhaufen oder einfach neben der Straße im Wald oder auf einem Feld. In allen größeren Städten, die sie erreichten, führte sie ihr erster Weg in das Hauptpostamt, um ihre Poste Restante-Briefe abzuholen, die sie von ihren Freund*innen während ihrer Reise erhielten.3
Anfang August 1911 erreichten sie den Vaalserberg, wo sie zum ersten Mal in ihrem Leben eine Landesgrenze überschritten. Durch ihre auffallende Kleidung – einen Filzhut, eine schwarze samtene Jacke mit hohem Kragen, Sandalen, einen Rucksack und über ihrer Brust eine Schärpe mit der Aufschrift „Mondvojaĝantoj“ bzw. „Mondvojaĝistoj“, später auch „Weltreisende“ und „Globetrotter“ – riefen sie nahezu überall Reaktionen hervor. Damit erreichte das Trio genau das, was es wollte. Es war wichtig als Weltreisende Bekanntheit zu erlangen, so dass möglichst viele Personen über sie sprechen, schreiben und ihre Porträtkarten kaufen konnten. Kurze Artikel in lokalen Zeitungen über „die vegetarischen Weltreisenden“ förderten ebenso den Verkauf, der sehr wichtig war, damit sie sich überhaupt Proviant und Unterkunft leisten konnten. Die Porträtkarten, von denen sie immer zahlreiche Exemplare mittransportierten, verkauften sie entlang ihres Weges, in Geschäften und in Unterkünften, in denen sie übernachteten. In größeren Städten besuchten sie auch systematisch Restaurants und Kaffeehäuser, um ihre Karten anzubieten.4
Nachdem die drei Abenteurer Mitte September 1911 die Grenze zur Schweiz passiert hatten, gingen sie über Zürich, Luzern, den Klausen- (1.948 m), Strela- (2.352 m) und Flüelapass (2.383 m) – zum Teil über Felsen und Schneefelder – weiter durch das Etschtal nach Bozen, wo sie Ende Oktober 1911 ankamen.5 Von dort wanderten sie über Verona und Padua nach Venedig, nahmen Ende November 1911 ein Schiff nach Triest und gingen über Laibach und Marburg nach Graz.6
Am 2. Februar 1912 erreichten sie Wien, wo sie bis zum 18. März 1912 blieben – länger als an allen Orten davor. Zunächst übernachteten sie im 2. Bezirk in einem Hotel in der Novaragasse. Danach wohnten sie für drei Wochen im 1905 eröffneten Männerwohnheim in der Meldemannstraße, in dem auch Adolf Hitler von Februar 1910 bis Mai 1913 lebte, sie übersiedelten dann aber Ende Februar 1912 in eine Privatunterkunft, die ebenso im 20. Bezirk lag.7
Auch in Wien hatten sie einen geregelten Tagesablauf. Nach dem Frühstück gingen sie oft in das Dianabad schwimmen, mehrmals in der Woche waren sie am Hauptpostamt, um ihre Briefe abzuholen bzw. aufzugeben und sie besuchten fast täglich ihr Stammcafé, das in der Nähe der Ferdinandsbrücke, der heutigen Schwedenbrücke lag. In seinem Tagebuch nennt Gerard nicht den Namen des Kaffeehauses, es könnte aber das Café Siller gewesen sein. Dort lasen und schrieben sie ihre Briefe, ihre Artikel für Zeitschriften, machten Notizen in ihren Tagebüchern und verkauften nebenbei auch immer ein paar Porträtkarten. Eines ihrer Lieblingslokale war das bekannte „vegetarische Speisehaus Thalysia“ in der Oppolzergasse, das auch Franz Kafka 1913 besuchte.8
Meistens begannen sie am späteren Nachmittag mit dem systematischen Verkauf ihrer Porträtkarten. Dafür wählten sie zunächst einen Stadtteil aus, gingen dort v.a. in Kaffeehäuser und Restaurants, sprachen zuerst mit dem*der Besitzer*in und wenn sie eine Erlaubnis erhielten, begannen sie den Gästen ihre Porträtkarten anzubieten. In Wien lief der Verkauf besonders gut. Während der sechs Wochen ihres Aufenthaltes ließen sie mindestens zwei Mal 2.000 Karten – insgesamt 4.000 Porträtkarten – nachdrucken.9 Gerard notierte in seinem Tagebuch auch, wie viel sie durch den Verkauf verdienten, pro Tag meistens zwischen 20 und 50 Kronen, an einem Abend sogar 67 Kronen (33 ½ Gulden), was einer heutigen Kaufkraft von circa 450 Euro entspricht.10
Manchmal wählte das Trio auch spontan ein Lokal aus, worüber Gerard am 13. Februar 1912 in seinem Tagebuch notierte:
Wenn die drei abends keine Porträtkarten verkauften, besuchten sie Veranstaltungen von Vegetarier*innen oder von Esperantosprechenden. Der Wiener Esperanto-Verein und der Deutsch-Österreichische Esperantisten-Verband trafen sich damals regelmäßig im Café Prückel am Stubenring, wo das Trio am 23. Februar 1912 auch auf Deutsch und Esperanto einen Vortrag über ihre Weltreise hielt.12
Seit dem Beginn der Reise war Gerard regelmäßig in Briefkontakt mit seiner Freundin Marie Zwarts (1890–1962), die in Delft wohnte, wo sie nach der Grundschule als Dienstmädchen arbeitete. Marie befürwortete die Weltreise ihres Freundes, obwohl sie traurig war, dass sie sich dadurch acht Jahre nicht sehen sollten. Die Briefe von Gerard und die Schilderungen seiner Reiseerlebnisse trugen dazu bei, dass Marie ihrer Sehnsucht und ihrem Freiheitsdrang nachgab und schließlich nach Wien reiste. Nach einer 26-stündigen Zugfahrt traf sie am Abend des 2. März 1912 am Westbahnhof ein und machte das „vegetarista trio“ zu einem Quartett.13
Am 18. März setzten sie zu viert ihre Reise fort und gingen über Preßburg nach Budapest. Da ihnen die Stadt gefiel und sie viele Porträtkarten verkauften, weilten sie acht Wochen in der Hauptstadt Ungarns von 13. April bis 4. Juni 1912. In jedem Land, in dem sie blieben, sorgten sie dafür, dass die Texte der Porträtkarten in verschiedene Sprachen übersetzt wurden, damit sie möglichst viele Menschen mit ihrer Geschichte erreichten.14
Im Sommer wanderten sie über die Balkanhalbinsel nach Konstanza. Von dort fuhren sie im Oktober 1912 mit einem Schiff nach Konstantinopel und danach weiter über Smyrna nach Alexandria.
Am 3. Dezember 1912 erreichten sie Kairo, wo sie den Winter 1912/1913 verbrachten.15 Anfang März 1913 reisten sie per Schiff von Port Said nach Beirut und wanderten danach durch den Libanon, Syrien und Palästina.16 Beinahe zwei Jahre hatten sie vom Verkauf ihrer Porträtkarten gelebt, aber in Palästina war ihre Geschichte weniger beliebt, und weil ihre Einkünfte schwanden, mussten sie sich eine Alternative überlegen. Gerard und Marie gingen nach Jerusalem, wo sich Gerard in seinem Lehrberuf als Tischler betätigte. Bram und Frans zogen getrennt voneinander von einer jüdischen Siedlung zur nächsten, wo sie als Taglöhner arbeiteten.17
Ursprünglich planten sie länger in Palästina zu bleiben und erst nach ein paar Monaten wieder zu viert weiterzureisen, aber es sollte bei diesem Vorhaben bleiben. Durch den Ersten Weltkrieg endete ihre „Weltreise“. Gerard, Marie und Bram reisten im September 1914 über Ägypten zurück in die Niederlande. Auch Frans wollte Palästina verlassen, erhielt aber, als er das Schiff in Jaffa betreten wollte, keine Ausreiseerlaubnis, weil man ihn für einen ausländischen Spion hielt – Frans blieb allein in Palästina zurück.18 Obwohl die Reise das „holand‘ vegetarista kvaropo“ nicht rund um die Welt führte, waren es keine verlorenen Jahre, sondern wertvolle, prägende Erfahrungen, von denen die vier ihr Leben lang zehrten.
Über den Autor: Mag. Bernhard Tuider ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Sammlung für Plansprachen der Österreichischen Nationalbibliothek.
1 Vgl. Willems, Wim (2021): De wereldwandelaars. Een verbond van idealisten. Amsterdam: Querido, S. 11–16.
2 Vgl. Willems (2021), S. 32f.
3 Vgl. Willems (2021), S. 35, 43, 54, 58.
4 Vgl. Willems (2021), S. 22, 36–38, 44.
5 Vgl. Mossel, Bram (1917): De wereldwandelaars (een zwerftocht door Europa). Amsterdam: Maatschappij voor Goede en Goedkoope Lectuur, S. 61–119.
6 Vgl. Willems (2021), S. 61–66.
7 Vgl. Perfors, Gerard: 2e dagboek, vanaf Neustadt (Oostenrijk) 27 januari 1912 tot Fehértemplom (Hongarije) 15 augustus 1912. Collectie Joods Museum Amsterdam, 3. und 24.2.1912.
8 Vgl. Perfors: 2e dagboek, 20., 28. und 29.2.1912.
9 Vgl. Perfors: 2e dagboek, 19.2.1912.
10 Vgl. Perfors: 2e dagboek, 15.2.1912. Historischer Währungsrechner der OeNB.
11 Perfors: 2e dagboek, 13.2.1912. Original: „Daar zagen wij een Kinematograaf. Wij besloten daar eens heen te gaan om te vragen of wij onze kaarten in de pauze mochten verkopen. Dit werd ons niet toegestaan. Toen wij buiten waren kwam ons de directeur achterop. Hij zei dat als wij toch vergunning konden krijgen wij de voorstelling gratis aan konden zien en in de grote pauze moesten wij ons dan aan het publiek voorstellen en vragen of het een portret wilde kopen. In de pauze deed Frans het woord, wat hem werkelijk goed afging. Bijna alle aanwezigen kochten een kaart en zelfs een paar gaven nog 1 Kroon.“
12 Vgl. Perfors: 2e dagboek, 23.2.1912.
13 Vgl. Zwarts, Marie: Het eerste dagboek. Collectie Joods Museum Amsterdam, S. 1–7.
14 Vgl. Willems (2021), S. 93f.
15 Vgl. Willems (2021), S. 153–167.
16 Vgl. Willems (2021), S. 168–190.
17 Vgl. Willems (2021), S. 191–209.
18 Vgl. Willems (2021), S. 210–225.
Mossel, Bram (1917): De wereldwandelaars (een zwerftocht door Europa). Amsterdam: Maatschappij voor Goede en Goedkoope Lectuur.
Perfors, Gerard: 1e dagboek vanaf de dag van vertrek, Amsterdam, 16 juli 1911 tot Neustadt (Oostenrijk), 26 januari 1912. Collectie Joods Museum Amsterdam.
Perfors, Gerard: 2e dagboek, vanaf Neustadt (Oostenrijk) 27 januari 1912 tot Fehértemplom (Hongarije) 15 augustus 1912. Collectie Joods Museum Amsterdam.
Willems, Wim (2021): De wereldwandelaars. Een verbond van idealisten. Amsterdam: Querido.
Zwarts, Marie: Het eerste dagboek. Collectie Joods Museum Amsterdam.
Abb. 1: Ansichtskarte: Paleis (Dam). Amsterdam, um 1910. Signatur: ÖNB KAR AKON 114/105.
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