Bei ihrem erfolgreichsten Werk sei sie „ausgerutscht“, erzählte Luna Alcalay 16 Jahre nach der Entstehung ihrer Komposition „ich bin in sehnsucht eingehüllt – szenische Reflexionen nach Texten von Selma Meerbaum“. Die Gedichte der jugendlichen Selma Meerbaum, die 1942 im Zwangsarbeitslager Michailowka entkräftet am Fleckfieber starb, hatten Alcalay angeregt, ihre ansonsten oft komplexeren Verfahrensweisen beiseitezulassen. Das Werk wurde in der Folge dutzende Male, darunter in New York und Los Angeles, aber auch in zahlreichen mitteleuropäischen Städten aufgeführt. Dieser breite Erfolg ereignete sich nach Jahrzehnten einer langen, unter anderem mit der Darmstädter Avantgarde verbundenen Laufbahn.
Alcalays Vater, ein 1892 in Sarajevo geborener sephardischer Jude, heiratete 1922 die acht Jahre jüngere Wienerin Maria Günther. Darauf ließ sich das Paar in Zagreb nieder, wo 1928 Lucia, genannt Luna, geboren wurde. Luna Alcalay verstand sich als Kind von Eltern mit „altösterreichischen Wurzeln“, die Rolle ihres Vaters als Kantor in der Synagoge empfand sie als eine Keimzelle ihrer musikalischen Begabung. Die gutbürgerliche Herkunft erlaubte eine ausgesuchte erste musikalische Ausbildung, die in Klavierunterricht beim Busoni-Schüler Svetislav Stančić und Kompositionsunterricht beim damals noch jungen kroatischen Komponisten Bruno Bjelinski mündete. Im Jahr 1947 inskribierte sie sich an der Musikakademie Zagreb.
Schon früh zeigten sich die künstlerischen Begabungen Alcalays, die in ihrer Jugend nicht nur als Pianistin und Komponistin, sondern auch als Autorin und Malerin aktiv war. Diese Offenheit für Vielfalt sollte ein wesentlicher Baustein ihres Werks werden, das von vielen außermusikalischen Einflüssen geprägt war – graphische Notierungen sind genauso anzutreffen wie die intensive persönliche Reaktion auf literarische Vorlagen in ihrer Musik.
Alcalay beendete ihr Studium in Zagreb nicht. Die Jahre des NS-Terrors am Balkan hatten der Familie stark zugesetzt: Ihr Vater war 1942 nach Bari emigriert, nachdem die nach mosaischem Ritus geschlossene Ehe mit seiner nicht-jüdischen Ehefrau annulliert worden war. Ab 1945 litt die Familie, der Vater war aus der Emigration zurückgekehrt, unter dem allgemein antireligiösen Regime Titos, das jedoch 1948 Juden die Auswanderung nach Israel gestattete. Der Aufenthalt ermöglichte ihr Studienjahre bei dem renommierten Pianisten Leo Kestenberg in Tel Aviv, der schon 1938 aus Prag emigriert war. Im Jahr 1951 verließ Alcalay Israel in Richtung Wien, wo ihre Tante lebte, und studierte bei Bruno Seidlhofer Klavier sowie bei Alfred Uhl Musiktheorie und Komposition an der Wiener Musikakademie. Dort schloss sie 1958 mit Auszeichnung ab und sollte später selbst an diesem Haus eine Professur für Klavier für Komponisten antreten.
Nach dem Ende des Naziregimes war es ein kulturelles Anliegen in Deutschland, die Musikkultur von den Zwängen der NS-Doktrin zu befreien. Die Darmstädter Ferienkurse wurden 1946 zu diesem Zweck gegründet. Sie entfalteten sich zum Mittelpunkt der Avantgarde in Deutschland und zu einer internationalen Diskussionsplattform. Ab 1960 nahm Alcalay mehrfach an den Ferienkursen teil und entwickelte ihren Stil in Richtung Serialismus. Dieser strenge Kompositionsstil basiert ähnlich wie die Zwölftonmusik auf im Vorfeld fixierten Parametern, die sich aber nicht nur auf die zwölf unterschiedlichen Tonhöhen beziehen, sondern auf beliebig viele Elemente der Musik wie Tondauern, Lautstärke etc.
In Darmstadt erregte Alcalay allgemeine Aufmerksamkeit, vor allem mit ihrer Komposition „aspekte“ für 2 Klaviere und Schlagzeug aus dem Jahr 1962. Bruno Maderna beauftragte sie daraufhin mit einem Orchesterwerk zur Uraufführung unter seiner Leitung in Rom. Das aufwändig hergestellte Werk gelangte aber nicht zur Aufführung, weil sich die Musiker weigerten, das Werk einer Frau zu spielen. Aus Frustration vernichtete sie das Material zu der Komposition. Wettbewerbseinreichungen brachte sie in den folgenden Jahren anonym ein und hatte damit zahlreiche Erfolge, unter anderem beim niederländischen Gaudeamus-Wettbewerb 1963 und 1967 und bei der Società Italiana Musica Contemporanea 1965 und 1972.
Der Kontakt zu Maderna blieb bestehen. Er führte 1968 mit dem RSO Wien das düstere Chor-Orchester-Werk „una strofa di dante“ auf, das auf der Textzeile „Lasciate ogne speranza, voi ch'intrate“ aus der Göttlichen Komödie Dante Alighieris basiert.
Die Kompositionsweise des Serialismus handhabte Alcalay von Anfang an frei und entwickelte sie bald individuell und bewusst unangepasst weiter. Daraus entstand nach ihren Worten ein eigenes Kompositionssystem mit einer Vorliebe für eine zeichenhafte, kommunikative Musiksprache. Es war nie ihre unmittelbare Absicht, zu berühren oder gefällige Musik zu schreiben. Musik war für sie auch Form, „eine Konstruktion mit der Notwendigkeit, auch den Gefühlen ihre Norm zu geben“.
Auch ihr großer Erfolg „ich bin in sehnsucht eingehüllt – szenische Reflexionen nach Texten von Selma Meerbaum“ ist daher zunächst strukturell gedacht. Es gibt eine Grundplanung, die im Voraus die Anzahl von Takten, den Einsatz unterschiedlicher Lautstärken, dominierende Intervalle wie etwa den Tritonus und melodische Entwicklungen festlegt. Die Ausführung folgt diesen Grundideen und füllt sie, angepasst an den Inhalt des Textes, auf unterschiedliche Weise mit Leben.
Die herbe Poesie der Musik wurde im Zusammenspiel mit dem Text von Publikum und Presse als sehr berührend empfunden. Die schlanken szenischen Elemente des multimedialen Werks stellten Selma Meerbaum selbst auf die Bühne und ließen sie durch ihre Gedichte singen, begleitet von nur wenigen Instrumenten. Der einstündige Abend hinterließ 1984 ein betroffenes, aber auch begeistertes Publikum.
Das Werk Alcalays umfasst neben multimedialen Werken wie „ich bin in sehnsucht eingehüllt“ auch große Chorwerke wie „una strofa di dante“ und die von ihr vernichtete „Menschenrechts-Kantate“, ebenso wie Orchesterwerke, teils mit Sprechstimme wie „Fluchtpunktzeile“. Daneben reihen sich zahlreiche kleiner besetzte Werke. „umwertungen“ wurde 1972 im internationalen Wettbewerb der Schweizer Stiftung Alte Kirche Boswil zur Produktion ausgewählt. Ab Mitte der 70er entfernte sie sich vom stärkeren Einfluss des Serialismus und weitete ihre Ausdrucksmittel in Richtung Multimedialität. „new point of view“ (1975) und die Kantate „homo sapiens“ (1977, für Hörfunkwiedergabe) entstehen. Im gleichen Jahr wie „ich bin in sehnsucht eingehüllt“ entstand die Oper „Jan Palach“ auf eine Textvorlage von Erwin Sylcanus, die auf Botschaften des Studenten basiert, der sich 1968 in Prag selbst entzündet hatte. Luna Alcalay blieb bis an ihr Lebensende 2012 produktiv. Ihre Kompositionen formen ein Gesamt-Opus von weit über 100 Werken.
Nachlass F196.Alcalay, http://data.onb.ac.at/rec/AC14398943
Lieselotte Theiner (Hg.): Musikalische Dokumentation Luna Alcalay: Konzert, Gespräch, Ausstellung, 2000. http://data.onb.ac.at/rec/AC03052869
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