„Mörderisch, aber vertraut“

Forschung

07.12.2017
Literatur
Foto von prächtiger Säule am Graben bei Nacht, schwarz-weiß
„Mörderisch, aber vertraut“. Wien als Inspiration der späten Texte Ilse Aichingers

Autorin: Christine Ivanovic

Ilse Aichinger (1921–2016) gilt als eine der prägenden Figuren der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Eine Phase außerordentlicher Produktivität erreichte die von der nationalsozialistischen Herrschaft bedrohte österreichische Schriftstellerin, die erst in den späten 80er-Jahren in ihre Geburtsstadt Wien zurückgekehrt war, im fortgeschrittenen Alter und nach dem Erscheinen ihrer Werke in acht Bänden (1991). Im folgenden Beitrag skizziert die Literaturwissenschaftlerin Christine Ivanovic die späten Jahre der Autorin und beleuchtet zugleich ihre Schreibweise anhand der Glosse „Die Pest in Wien“.
Einen Ausschnitt einer Lesung Ilse Aichingers aus ihrem Roman Die größere Hoffnung (1948) aus dem Jahr 1965 sowie aus einem Gespräch der Autorin mit Lore Müller-Gabriel in der Sendereihe „Dichter erzählen aus ihrem Leben“ (1977) können Sie in der Dauerausstellung des
» Literaturmuseums hören.

Zu ihrer letzten Schreibphase setzt Ilse Aichinger erst Jahre nach dem Erscheinen ihrer achtbändigen Werkausgabe an, die anlässlich ihres 70. Geburtstags 1991 im S. Fischer Verlag herauskam. Innerhalb kürzester Frist schafft sie danach ein bemerkenswertes Spätwerk. Unterstützt durch ihr nahe stehende Freunde und Verleger publiziert die über achtzigjährige Autorin ab der Jahrtausendwende vier neue Bücher: Kurzschlüsse, Wien (2000), Film und Verhängnis (2001), Unglaubwürdige Reisen (2005) und Subtexte (2006). In dieser Zeit ist Aichinger in für ihre Verhältnisse einmaliger Weise in der Öffentlichkeit präsent. Man begegnet ihr als unermüdlicher Kinogängerin bei der Viennale und in den Kinos der Stadt. Man sieht sie in den Cafés, in denen viele der Texte entstehen, die dann – in den Jahren 2000 bis 2004 – Woche für Woche in einer eigenen Kolumne in Der Standard und zuletzt in Die Presse erscheinen. Diese Schreibsituation gilt seit jeher als prototypisch für Wiener AutorInnen. Aichinger ist darin auch auf zahlreichen Fotos festgehalten worden. (Vgl. Moses 2006) Für die unter den Nationalsozialisten verfolgte Wiener Autorin, die die Stadt zu Beginn der fünfziger Jahre verlassen hatte und erst 1988 hierher zurückgekehrt war, schien ein Zustand der Normalität erreicht. Allein ihre Texte sprechen eine andere Sprache.
 

 
Abb. 1: Buchcover von Ilse Aichinger. Ein Bilderbuch von Stefan Moses, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag (2006)
 

„Die Pest in Wien“, eine Miniatur aus Aichingers letztem Buch Subtexte, stellt ein für ihr spätes Schreiben typisches Konglomerat aus verschiedenen Textquellen und Erinnerungsschichten dar. Punktuell wie Blitzlichter leuchten hier noch einmal Momente einer Erkenntnis auf, deren Spuren man in früheren Texten wiederfinden kann. Die im Buchformat selten mehr als zwei Druckseiten ausmachenden Glossen verfahren assoziativ. Sie führen scheinbar weit auseinander Liegendes zusammen und werden meist gegen Ende scharf zugespitzt. Mehrheitlich gehen sie aus von einem auf den Wegen durch die Stadt erfassten Wort oder Wortwechsel, von einer Geste, oder einer in den Medien aufgefassten Meldung, die Aichinger wie Nachrichten erreichen und die sie zum Ausgangspunkt ihrer in rasch hingeworfenen Zeilen formulierten, pointierten Reflexion macht. Was macht das Besondere solcher Nachrichten aus? Ein Beispiel:
 

"Unlängst begegnete ich neben der Pestsäule am Graben dem Herrn Glück, lange Zeit hindurch Wirt des „Grünen Anker“ in der Grünangergasse. Er erklärte seinen Enkelkindern die Bedeutung der Säule. Aber vermutlich wäre er nicht auf die Idee gekommen, dass diese Säule, inzwischen Mittelpunkt der ‚Grabenhölle‘ (Thomas Bernhard), nicht zum Andenken an die Opfer der Pest, sondern zum Dank für die eigene Rettung errichtet wurde. ‚Vater, Mutter, Schwestern, Brüder‘ waren dahin, aber die anderen hatten glorreich überlebt und ließen sich von der noch reduzierten Grabensonne gerne wärmen. Diejenigen, die keinen Platz darunter gefunden hatten, blieben ohnehin im Schatten, in den sie gehörten." (Aichinger 2006: 26)

 
Abb. 2: Die Pestsäule am Graben in der Wiener Innenstadt, 1925 (ÖNB Bildarchiv)
 

In der auf den 19.2.2005 datierten Glosse „Die Pest in Wien“ geht Aichinger von einer zufälligen Begebenheit am Graben aus und verbindet den historischen Rekurs auf die Pest, dessen stumme Zeugin sie wird, mit der Erinnerung an die andere Pest, die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in Wien. Für diese Zeit steht nicht das von der Autorin als eigennützig entlarvte Denkmal ein, sondern – im weiteren Verlauf der Glosse – die persönliche Erinnerung an die Ärztin Almut in der Grünentorgasse 10, die jeden behandelt, bei der aber „im Ernstfall die Schwächsten, von Krämpfen Geschüttelten und Gefährdetsten den Vorrang“ haben. (Aichinger 2006: 27) Aichingers Erinnerung ist kein nostalgischer Rückfall. Vielmehr dient sie als Kontrastfolie zum Ausmessen der Gegenwart. Der Szene am Graben und der ihr entgegengesetzten Erinnerung an den selbstlosen Einsatz der Ärztin Almut werden weitere Bruchstücke der erfahrenen Gegenwart zur Seite gestellt. Es sind Mitteilungen, die Aichinger in der Tagespresse gefunden hat, Zitate ihrer Lektüren und Szenen ihrer täglichen Wege durch die Stadt, die einen dichten Text ergeben. Er überprüft das fromme Gedenken an der Gegenwart, entlarvt die politische Parole im Spiegel des Alltäglichen und stellt ihr die absurde Philosophie des rumänischen Philosophen Emil M. Cioran gegenüber: „‚Unsere Kinder brauchen die gesunde Nahrung, den Geschmack der Heimat‘“, zitiert sie aus dem Sonntagsblatt. (Aichinger 2006: 27) Dieser Parole setzt sie die Figur Almuts entgegen: „solange sie da ist, können sich die Kinder auch in der Fastenzeit ruhig „Kasperls Faschingsjause“ im Theater Le Petit zu Gemüte führen“, und sie schließt mit einem Statement Ciorans: „‚Ich werde erst an dem Tag wieder mit mir versöhnt sein, an dem ich den Tod so akzeptiere, wie man ein Essen außer Haus akzeptiert: mit amüsiertem Ekel.‘“ (Aichinger 2006: 28)
 


Abb. 3: Buchcover von Ilse Aichinger (2006): Subtexte, Wien: Edition Korrespondenzen

Über die Autorin: Christine Ivanovic ist Berta-Karlik-Professorin an der Abteilung für Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Wien.

Literaturverzeichnis:

Aichinger, Ilse (1991): Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden. Hg. v. Richard Reichensperger. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag

Aichinger, Ilse (2006): Subtexte. Wien: Edition Korrespondenzen

Moses, Stefan (2006): Ilse Aichinger. Ein Bilderbuch von Stefan Moses. Mit ausgewählten Texten von Ilse Aichinger und einem Vorwort von Michael Krüger. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag

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