Die aktuelle Ausstellung im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek rückt anhand von Originalmanuskripten, Fotos, Bildern und audiovisuellen Medien drei zentrale Figuren der brodelnden Kulturszene des Wiener Fin de Siècle und ihre enge Vernetzung in den Brennpunkt. Die Schau wird bis zum 17. Februar 2019 gezeigt.
AutorInnen: Bernhard Fetz, Thomas Leibnitz, Alfred Schmidt
Die schillernde Kulturszene Wiens um 1900 war der Nährboden für ein breites Spektrum an künstlerischen und wissenschaftlichen Spitzenleistungen. Innovationen, die die Kulturgeschichte Europas über Jahrzehnte nachhaltig bestimmt haben. Ihre Exponenten entstammten zum überwiegenden Teil dem assimilierten jüdischen Großbürgertum, verbunden in einem weitläufigen Netzwerk von engen persönlichen Beziehungen und wechselseitigen Einflüssen, das aber keineswegs frei von inneren Brüchen und Konflikten war. In ihrem Mittelpunkt standen heftig umstrittene, polarisierende Persönlichkeiten wie Karl Kraus, der als selbst ernannte moralische Instanz hunderte Prozesse führte, oder Adolf Loos und Arnold Schönberg, die mit ihren revolutionären Ideen zunächst auf massive Ablehnung stießen. Nicht anders erging es Sigmund Freud, während gleichzeitig Otto Weiningers abstruse Ideen eine begeisterte Aufnahme fanden. Gerade diese Spannungen und Polarisierungen waren es, die das ganz besondere kulturelle „Treibhausklima“ (Allan Janik), schufen, das diese Epoche berühmt machte.
Die Ausstellung im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek greift beispielhaft drei zentrale Figuren dieser Wiener Moderne heraus und versucht, das weitverzweigte kulturelle Netzwerk darzustellen, in dem sie verbunden waren.
Aus der Sicht der Österreichischen Nationalbibliothek zeichnet diese drei Personen auch ein weiterer wichtiger Umstand aus, nämlich, dass sich zu allen dreien bedeutende Sammlungen an Originaldokumenten in ihren Beständen befinden. Alban Bergs kompletter Nachlass kam durch großzügige Schenkungen der Witwe Helene Berg 1975 und 1977 an die Österreichische Nationalbibliothek und wurde inzwischen in der Musiksammlung im Detail erschlossen. Der erste große Ankauf von bedeutenden Manuskripten von Ludwig Wittgenstein erfolgte 1979, weitere wichtige Ergänzungen folgten, so dass die Österreichische Nationalbibliothek heute die zweitgrößte Wittgenstein-Sammlung – nach derjenigen des Trinity Colleges in Cambridge – ihr eigen nennen kann. Der gesamte philosophische Nachlass von Ludwig Wittgenstein wurde kürzlich in die Liste des UNESCO-Weltdokumentenerbes aufgenommen. Die Erwerbung zu Berta Zuckerkandl ist die jüngste in dieser Reihe: 2012 konnte die Österreichische Nationalbibliothek von Emilè Zuckerkandl eine große Autografensammlung seiner geliebten Großmutter erwerben. Weitere wichtige Teilbestände, insbesondere auch zu ihrer abenteuerlichen Flucht vor den Nazis, kamen 2014 und 2016 hinzu.
Von Jugend an fühlte sich Alban Berg (1885-1935) zur Literatur ebenso hingezogen wie zur Musik. Es war für ihn lange Zeit nicht sicher, welcher künstlerischen Gattung er sich vorrangig widmen sollte. Wenn das Pendel auch schließlich zugunsten der Musik und eines intensiven Unterrichts bei Arnold Schönberg ausschlug, so blieben eine hingebungsvolle Befassung mit Literatur, ebenso wie vielfache Beziehungen zu den zeitgenössischen Literaten Wiens und eigene literarische Betätigung, zeitlebens für ihn maßgeblich. Eine besondere Rolle in seinem Reifungsprozess spielte Karl Kraus, dessen „Fackel“ er in vollständigen Jahrgängen in seiner Bibliothek bewahrte und dem er zu dessen 50. Geburtstag einen Brief schrieb, der das ganze Ausmaß seiner Verehrung und Bewunderung widerspiegelt. Zweifellos war Kraus‘ geschliffener, pointierter und polemischer Schreibstil für Berg das Muster, an dem er sich in eigenen Schriften orientierte. Bekannt ist seine schriftstellerische Auseinandersetzung mit Hans Pfitzner, die sich 1920 am Zugang zu Robert Schumann entzündete.
Berg fühlte sich durch Pfitzners Streitschrift „Die neue Ästhetik der musikalischen Impotenz“ provoziert, hier vor allem durch einen Absatz, der sich auf Robert Schumanns „Träumerei“ bezog. Für Pfitzner war das kurze Charakterstück Kronzeuge für eine idealistische Rezeptionshaltung der Musik gegenüber, die sich – so Pfitzner – jenseits von rationaler Analyse in begriffslosem Wohlgefallen ausdrücke, gestützt nur auf das Einverständnis ähnlich Empfindender.Berg antwortete sarkastisch zugespitzt, aber auch argumentativ; ihm ging es um den Nachweis, dass ästhetischer Wert sehr wohl auf nachweisbaren Strukturen beruhe, was er in Form einer thematisch-formalen Analyse von Schumanns „Träumerei“ auch exemplifizierte. Allein die Tatsache, dass diese Auseinandersetzung sich dem kollektiven Gedächtnis erstaunlich gut einprägte, zeigt, dass man darin etwas Wesentliches erkannte, nämlich die Frage, ob das Musikhören jenseits eines intellektuell-rationalen Zugangs funktioniert, oder dieser doch eine wichtige Rolle spielt?
Einen anderen Zugang sprachlicher Art fand Berg, als er sich in den Dienst Arnold Schönbergs stellte und dessen Frühwerke in umfangreichen Analysen erläuterte. Hier wurden Akribie und Liebe zum Detail offenbar, die so weit gingen, dass diese Texte in ihrem technischen Exaktheitsanspruch höchste Anforderungen an das Aufnahmevermögen ihrer Leser stellten. Ganz auf die Atmosphäre und das Kolorit von Texten jedoch konzentrierte er sich, als er literarische Vorlagen für seine dramatischen Werke suchte: Georg Büchners „Woyzeck“ als Vorlage für den „Wozzeck“, Frank Wedekinds „Büchse der Pandora“ und „Erdgeist“ als Basis der „Lulu“. In beiden Fällen zeigte Berg feines literarisches Empfinden, das sich in kongenialer musikalischer Umsetzung manifestierte.
Als einer der einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts stellte Wittgenstein seine Texte ausdrücklich in die Nähe der Literatur. „Philosophie dürfte man eigentlich nur dichten“, heißt es in einem Manuskript aus 1933, und schon über sein berühmtes Frühwerk, den Tractatus logico-philosophicus, dessen endgültiges Typoskript vor 100 Jahren im August 1918 entstand, hatte er an Ludwig von Ficker geschrieben: „Die Arbeit ist streng philosophisch und zugleich literarisch. Und doch wird darin nicht geschwefelt.“ Unter dem spürbaren Einfluss von Karl Kraus erlangen für Wittgenstein Fragen des Stils, der Ausdrucksform, der sprachlichen Darstellbarkeit eine ethische Dimension, die in den berühmten Schlusssatz des Tractatus mündeten: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“
Neben Dokumenten zur Publikationsgeschichte, dieses genialen Frühwerks Ludwig Wittgensteins, zeigt die Ausstellung vor allem auch das familiäre Netzwerk, etwa seinen Vater Karl, der als dominierender Stahlbaron der Monarchie zu einem der großzügigsten Kunstmäzene seiner Zeit wurde und die Sezessionsbewegung und die Wiener Werkstätte maßgeblich unterstützte. Gustav Klimt malte ein lebensgroßes Porträt seiner Tochter Margarethe, für die Ludwig in den 1920er-Jahren zusammen mit dem Loos-Schüler Paul Engelmann ein Stadtpalais im dritten Bezirk baute – heute Kulturinstitut der Bulgarischen Botschaft.
Eine kaum zu überschätzende Rolle spielte die Musik im Hause Wittgenstein. In den legendären Salons in der Alleegasse verkehrten rund um Ludwigs Mutter Leopoldine Persönlichkeiten wie Johannes Brahms und Joseph Labor. Die private Sammlung wertvollster Musikautographen des Jerome Stonborough, Gatte von Margarethe, enthielt Originale von Beethoven bis Bruckner und Brahms und ist belegt durch ein Aktenstück aus der Hausgeschichte der Österreichischen Nationalbibliothek, welches das energische Interesse Paul Heigls, des Generaldirektors der Bibliothek in der NS-Zeit, an dieser Sammlung beweist. Trotzt heftigster Intervention gelingt es ihm allerdings nicht, die damals „sichergestellte“ Musikaliensammlung der Familie in seinen Besitz zu bringen.
Wie sehr Ludwig von diesem familiären Hintergrund zeit seines Lebens geprägt war, zeigen Aussagen wie diese: „Ich finde es unmöglich, in meinem Buch auch nur ein einziges Wort zu sagen über alles das, was die Musik für mich in meinem Leben bedeutet hat. Wie kann ich dann darauf hoffen, daß man mich versteht?“ (Ludwig Wittgenstein in einem Gespräch mit M. O’Connor Drury. In: Rush Rhees (Hg.): Ludwig Wittgenstein. Porträts und Gespräche. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987)
Berta Zuckerkandl war nicht nur eine legendäre Salonière, sie war auch eine emanzipierte Frau und selbstbewusste Publizistin. Zwischen 1893 und 1918 sind über 400 Artikel alleine zur Kunst nachgewiesen. Nach dem Ersten Weltkrieg war Berta Zuckerkandl auf Einkünfte angewiesen. Sie intensivierte ihre Kontakte zu französischen Theaterautoren und arbeitete ab Mitte der 1920er-Jahre als Literaturagentin für den neu gegründeten Verlag von Paul Zsolnay; sie avancierte außerdem zur außenpolitischen Berichterstatterin, als sie von der Wiener Allgemeinen Zeitung zum Neuen Wiener Journal wechselte.
Die Rollen der Kulturjournalistin, der politischen Chronistin, der Diplomatin in patriotischer Mission, der Theateragentin – sie sind nicht voneinander zu trennen; es verbindet sie die Kommunikationsfunktion des liberalen, bürgerlich-jüdischen Salons und die aufklärerische und volksbildnerische Absicht liberaler Publizistik, vorgebildet durch ihren Vater Moriz Szeps.
Die Grenzen zwischen der Privatheit und Intimität des Salons und dem öffentlichen Diskurs über Fragen der Kunst und Politik sind fließend. Berta Zuckerkandls retrospektive Memoirenbücher sind vom Impuls getragen, die Grenzen in formaler und inhaltlicher Hinsicht zu verwischen; alles ist privat und öffentlich zugleich. Das Telefonprotokoll, der private Briefwechsel, die subjektive Erinnerung – sie sind die Transmissionsriemen, über die Themen von allgemeinem Interesse, mittels derer Kunst, Politik und Wissenschaft vermittelbar werden.
Die kulturelle Atmosphäre Ende der 1880er-Jahre beschreibt Berta Zuckerkandl in ihren Memoiren mit Blick auf die bestimmende Rolle ihres Freundes Hermann Bahr. Sein und sicher auch ihr eigenes „Losungswort“ lautete: „Österreichische Kultur als des Deutschtums schönste Blüte auferstehen zu lassen.“ Neben dieser österreichischen Mission war es das Ziel ihrer publizistischen Arbeit, einen Beitrag zu einer „Evolution der ästhetischen Bildung“ zu leisten. Dieses Ziel war um 1900 eng mit der sogenannten Frauenfrage verbunden. In ihrem 1899 erschienenen Aufsatz in der Zeitschrift Dokumente für Frauen mit dem Titel „Cultureller Dilettantismus“ formuliert sie die Forderung, dass, ähnlich der voranschreitenden künstlerischen Evolution, die „geistigen Evolutionen“ Fortschritte machen sollten, mit selbstbewussten – bürgerlichen – Frauen als deren Proponentinnen.
Es gibt nur einen Moment im bewegten Schreibleben Berta Zuckerkandls, der eine Ausnahme bildet – der 2013 aus dem Nachlass edierte Bericht über die Flucht einer verarmten, 76 Jahre alten Frau aus dem besetzten Frankreich nach Nordafrika. Er ist in gewissem Sinne der Flucht- und der Endpunkt jener jüdisch geprägten Wiener Moderne, für die auch der Name Berta Zuckerkandl steht. (Berta Zuckerkandl: Flucht! Von Bourges nach Algier im Sommer 1940. Hg. v. Theresia Klugsberger und Ruth Pleyer. Wien: Czernin Verlag 2013.)
Zur Ausstellung erschien als Band 25 der Reihe „Profile“: Berg, Wittgenstein, Zuckerkandl. Zentralfiguren der Wiener Moderne. Hrsg. von Bernhard Fetz. Wien: Zsolnay 2018. 335 S. zahlr. Ill.
Über die AutorInnen: Dr. Bernhard Fetz ist Direktor des Literaturarchivs und des Literaturmuseums, Dr. Thomas Leibnitz Direktor der Musiksammlung, Dr. Alfred Schmidt wissenschaftlicher Assistent der Generaldirektorin der Österreichischen Nationalbibliothek.
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Die Sammlung sowie der Lesersaal von „Bildarchiv und Grafiksammlung“ bleibt am 22. Jänner 2025 geschlossen.