"Ich wünschte mir seit je einen Beruf, in dem man mit zunehmendem Alter durch sein Wissen und seine Erfahrung immer wertvoller und leistungsfähiger wird. Ich habe meine Entscheidung nie bereut, und wenn ich heute wieder jung wäre und von vorne anfangen müßte, wäre wohl meine Wahl dieselbe."1
Autorin: Gabriele Mauthe
Dieses Zitat stammt von Josef Stummvoll, einem der bedeutendsten Generaldirektoren der Österreichischen Nationalbibliothek, dessen Nachlass als Geschenk seiner Familie an die Sammlung von Handschriften und alten Drucken kam.
Der umfangreiche Bestand, der eine gewichtige Ergänzung für die Geschichte des Hauses darstellt, verzeichnet Lebensdokumente, Korrespondenzen, Werke, Arbeitsunterlagen, Notizen, Publikationen und Photographien. Die Fülle des Materials bietet eine tiefe Einsicht in die vielfältige, insbesondere internationale Tätigkeit Stummvolls auf dem Sektor der Bibliothekswissenschaft und der praktischen Aufgaben von Großbibliotheken.
Die Sammlungen im Nachlass beinhalten weiters Reden, Sonderdrucke und Zeitungsausschnitte zu Stummvolls Interessens- und Arbeitsgebieten. Die umfangreiche Korrespondenz – Schreiben an Verlage, Bibliotheksdirektoren und Bibliothekar*innen aus der gesamten Welt – spiegeln Stummvolls persönliche Kontakte wieder und geben Einblick in sein weltumspannendes Netzwerk an Kontakten und Freundschaften. Neben beruflichen Schriftstücken lesen wir in persönlichen Briefen seine Stimmungen und Ideen.
Der Nachlass enthält auch Teile aus dem Nachlass Heinrich Uhlendahls2, dem Generaldirektor der Deutschen Bücherei in Leipzig, der Stummvoll von Beginn an förderte und seinen Weg durch Jahrzehnte immer wieder kreuzen sollte.
Josef Leopold Stummvoll wurde am 19. August 1902 in Baden bei Wien geboren. Seine Eltern Josef und Maria hatten vier Kinder, zwei Töchter und zwei Söhne.3
Nach dem Besuch des Gymnasiums inskribierte Stummvoll 1920 an der Wiener Technischen Hochschule und studierte an der Universität Wien Chemie, Physik, Philosophie und Psychologie. Als ausgebildeter Diplomingenieur strebte er eine Assistentenstelle an der Technischen Hochschule an und plante eine Dissertation. Als er aber im März 1925 die Stellenanzeige für einen Techniker im Bibliotheksdienst an der Deutschen Bücherei Leipzig sah, bewarb er sich und wurde Ende April 1925 von Direktor Dr. Heinrich Uhlendahl sofort als Referendar angestellt. Diese erst 1913 gegründete Bibliothek bot ihm in der Folge eine zweijährige umfassende, bibliothekarische Ausbildungszeit.
Ab 1926 war Stummvoll für acht Monate wissenschaftlicher Assistent an der Bibliothek des Institutes für Weltwirtschaft und Seeverkehr an der Universität Kiel. Im Oktober 1927 legte er an der Universität Leipzig die Fachprüfung für den Höheren Dienst an wissenschaftlichen Bibliotheken ab. Nach erster Tätigkeit in der Titelaufnahme übernahm er schon nach wenigen Monaten die Benützungsabteilung und arbeitete in der Redaktion der „Deutschen Nationalbibliographie” mit.
Neben seiner beruflichen Tätigkeit setzte Stummvoll sein Studium fort und promovierte am 7. Juli 1932 zum Doktor der technischen Wissenschaften. Schon zu dieser Zeit unternahm er ausgedehnte Studienreisen in Deutschland und besuchte zahlreiche Fachkongresse.
Ankara
1933 bot sich Dr. Stummvoll eine ungewöhnliche Gelegenheit: Die türkische Regierung gab die Gründung einer Landwirtschaftlich-veterinärmedizinischen Hochschule in Ankara4 in Auftrag. Uhlendahl übergab Stummvoll die Planung, ab Herbst 1933 die Bibliothek mit Buchbinderei und Hochschuldruckerei in Ankara aufzubauen. Das Projekt wurde ein voller Erfolg. Ausgedehnte Reisen in den folgenden vier Jahren führten Stummvoll nach Syrien, Palästina und Ägypten.
Leipzig
Im Winter 1937 kehrte Stummvoll an die Deutsche Bücherei zurück. Eine bereits ausgesprochene Berufung als Bibliotheksleiter an das Deutsche Museum in München wurde zurückgezogen, da sich der Ortsgruppenleiter der NSDAP dagegen aussprach: Stummvoll verkehre mit Juden und Emigranten und habe sich gegen das “Dritte Reich“ geäußert.
Berlin - Weltkrieg
Im Mai 1939 heiratete Josef Stummvoll die Schwedin Luise Thorngren5, mit der er drei Kinder haben sollte. Im Oktober 1939 wurde er zum Stellvertreter des Direktors der Bibliothek des Reichspatentamtes in Berlin bestellt. Der Weltkrieg überschattete alle weiteren Vorhaben, dennoch konnte Stummvoll 1941 die Ausstellung “Das Fachbuch als Grundlage des technischen Fortschritts” im Deutschen Museum in München übernehmen, einen Entwurf zur Organisation für eine Technische Zentralbibliothek in Berlin vorlegen und mit Uhlendahl Pläne für einen Erweiterungsbau der Bibliothek der Internationalen Forstzentrale in Berlin erstellen.
Im Dezember 1942 wurde Stummvoll beim Reichsministerium für Bewaffnung und Munition dienstverpflichtet, wo er auf Grund seiner Kenntnisse als Zentralreferent für “Information” eingesetzt wurde. Nach Meinungsverschiedenheiten mit seinem Referatsleiter wurde er freigestellt und im Juni 1943 zur Luftwaffe nach Eger eingezogen, wo er einen Lehrgang für Flugzeugelektriker absolvierte. Nach einem Lazarettaufenthalt Ende April 1945 kam er als sowjetischer Kriegsgefangener zu landwirtschaftlicher Arbeit nach Niederschlesien. Im Oktober 1945 wurde er entlassen und war kurz vor Weihnachten wieder zuhause in Baden bei Wien. Seine Familie, die nach Schweden geflohen war, konnte im September 1946 zurückkehren.
Österreichische Nationalbibliothek – Teheran – New York
Stummvoll entschloss sich in Österreich zu bleiben, seine Bewerbung bei Generaldirektor Dr. Josef Bick um Aufnahme in die Österreichische Nationalbibliothek war erfolgreich. Am 2. Mai 1946 trat er am Josefsplatz seinen Dienst an und arbeitete in verschiedenen Abteilungen, um das Haus kennen zu lernen.
Bick, bereits 66 Jahre alt und durch seine Inhaftierung während des Krieges schwer krank, beabsichtigte in den Ruhestand zu treten. Er erkannte rasch das herausragende Talent Stummvolls, der daher noch 1947 offiziell zum Generaldirektor-Stellvertreter ernannt wurde. Die Aufgaben wurden geteilt: Bick vertrat die Österreichische Nationalbibliothek gegenüber dem Ministerium und widmete sich dem Wiederaufbau des österreichischen Bibliothekswesens nach dem Krieg, Stummvoll wurde die innere Organisation der Österreichische Nationalbibliothek übertragen.
Stummvoll begann rasch mit Reformen: Die Wartezeiten bei Bestellungen wurden verkürzt, eine tägliche Arbeitsstatistik für die Monats- und Jahresberichte wurde etabliert. Die Sammlungen begannen ihre Bücherbestände gemäß der Druckschriftensammlung zu katalogisieren.
Am 31. März 1949 trat Bick in den Ruhestand und Josef Stummvoll übernahm am 12. Oktober 1949 sein Amt als Generaldirektor der Österreichische Nationalbibliothek.
Schon zuvor hatte er seine Reisetätigkeit wiederaufgenommen und besuchte internationale Tagungen, die Library of Congress, die American Library Association und studierte bis März 1949 das amerikanische Bibliothekswesen vor Ort. Er hatte Gelegenheit Kontakte zu knüpfen, die der Österreichische Nationalbibliothekin in den folgenden Jahrzehnten von großem Nutzen werden sollten. Auf der Rückreise besuchte er die bedeutendsten Bibliotheken Englands, Skandinaviens und der Schweiz.6 In Österreich wirkte Stummvoll maßgeblich an den Satzungen der 1946 neu gegründeten “Vereinigung Österreichischer Bibliothekare” mit.7
Auf Anweisung Stummvolls verfasste Josef Mayerhöfer eine Denkschrift „Die Not der ÖNB”.8 Diese Unterlagen zeigten sehr eindringlich die Notwendigkeit eines Neubaus oder Erweiterungsbaus. Im September 1948 erfolgte aus diesem Grund auch die erste Zählung des gesamten Bibliotheksbestandes.
Teheran
Im April 1952 wurde Stummvoll von der UNESCO eingeladen, im Rahmen des “Technical Assistance Program” als Berater der iranischen Regierung für das Bibliothekswesen in Teheran tätig zu werden.9 Er blieb ein Jahr im Iran und kehrte Ende April 1953 nach Wien zurück. Von seinen Erfahrungen berichtete er auf internationalen Tagungen und betonte, dass die führende nationale und internationale Rolle unter den Bibliotheken eines Landes immer die jeweilige Nationalbibliothek einnehmen sollte. Ab 1953 unternahm Stummvoll Studienreisen nach Deutschland, in die Schweiz, Frankreich und Belgien. Im September 1958 fand in Wien ein UNESCO-Symposium10 statt, bei dem drei Wochen (!) lang die Direktoren der Nationalbibliotheken aus 19 europäischen Ländern, den USA, dem Iran und aus Israel die Grundlagen für eine enge Zusammenarbeit legten.
New York
1958 wurde Generaldirektor Stummvoll vom Generalsekretär der Vereinten Nationen, Dag Hammerskjöld, eingeladen, für zwei Jahre die Leitung und Neuorganisation der Bibliothek der Institution zu übernehmen. Das Ministerium bewilligte eine zweijährige Karenzierung und Stummvoll reiste im Jänner 1959 nach New York. Er hatte Gelegenheit, am Neubau des Bibliotheksgebäudes mitzuwirken und besuchte erneut zahlreiche amerikanische Bibliotheken. Vom 1. Dezember 1959 bis 4. März 1960 unterbrach er seine Tätigkeiten und reiste nach Europa zu jenen Bibliotheken, die die Dokumente der Vereinten Nationen vollständig sammeln, wie München, Budapest, Rom, Lissabon und andere.
Ab 1. März 1961 war Stummvoll wieder an der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien. Jedoch unternahm er schon bald eine Weltreise, für die ihm das Ministerium einen halbjährigen Urlaub bewilligte. Anfang Oktober 1961 flog er erneut nach New York, um die begonnenen Arbeiten zu beenden. Die UN-Bibliothek konnte am 17. November 1961 feierlich eröffnet werden, sie wurde zu Ehren des in der Zwischenzeit zu Tode gekommenen Förderers “The Dag Hammarskjöld Library”11 benannt.
Nur kurz war Generaldirektor Stummvoll in Wien und wurde noch einmal gebeten, nach New York zur Übergabe der Amtsgeschäfte zu kommen: Sein Aufenthalt vom 1. November 1962 bis 31. Jänner 1963 beendete seine dreijährige Tätigkeit an der UN-Library. Die Berufung war nicht nur eine persönliche Ehrung Stummvolls gewesen, sondern auch eine Anerkennung der kulturellen Bedeutung Österreichs in der Welt.
Für diesen doch langen Zeitraum der Abwesenheit an der Österreichischen Nationalbibliothek, mit kurzen Unterbrechungen, hatte Generaldirektor Stummvoll einen sehr verlässlichen Stellvertreter in Dr. Alois Kisser, der ihn kontinuierlich in der Ferne auf dem Laufenden hielt und ihn und die Institution Österreichische Nationalbibliothek vor Ort kompetent vertrat
Die intensive Korrespondenz mit mehreren MitarbeiterInnen ermöglichte kontinuierliche Weiterarbeit an der Österreichische Nationalbibliothek und zeigt zudem anschaulich Stummvolls Führungsqualitäten, seine Wertschätzung und den intensiven Kontakt zu seinen Mitarbeiter*innen.
“Eine glückliche Ära” – Österreichische Nationalbibliothek 1946-1967
Stummvolls Energie und Tatendrang kamen in den folgenden Jahren der Österreichischen Nationalbibliothek in reichem Maße zugute. Projekte konnten endlich umgesetzt werden, Organisation und fachliche Ausrichtung wurden für die folgenden Jahrzehnte richtungsweisend. Das Bundesministerium stellte umfassende Geldmittel zur Verfügung – auch durch außerordentliche Zuschüsse für Ankäufe von Büchern und Handschriften, für den Ausbau der Neuen Burg und das Abschreiben des alten Katalogs. Die Hausgeschichte der Österreichische Nationalbibliothek bezeichnet die Ära Stummvoll zu Recht als „glücklich“.12
Das bedeutendste Projekt war die Anfertigung eines Nominalkatalogs für das Publikum. Im Sommer 1967 war die Abschrift von 1,3 Millionen Zetteln des alten Nominalkatalogs fertig gestellt. Auch in anderen Bereichen gelangen wichtige Modernisierungsschritte. Das Institut für Restaurierung wurde ausgebaut, moderne Geräte wie Schnellkopierer angeschafft und das seit 1905 bestehende Photoatelier erhielt modernstes Equipment. Gleich zu Beginn von Stummvolls Direktionszeit erfolgte auch die Gründung einer Mikrofilmstelle, deren Grundausstattung 1949 ein Geschenk der UNESCO war. 1966 wurde das “Österreichische Institut für Bibliotheksforschung, Dokumentations- und Informationswesen” zur Untersuchung bibliothekstheoretischer Fragen gegründet. 1967 zeigte eine Ausstellung im Prunksaal eine Auswahl der wichtigsten Neuerwerbungen der letzten 20 Jahre. Während Stummvolls Amtszeit wuchs der Buchbestand von 1,4 Millionen auf 2 Millionen Bände an, die Gesamtheit der Objekte erhöhte sich von 3,3 auf 4,8 Millionen.
1954 war eine Senkung der Galerie im Prunksaal festgestellt worden, und so entschloss man sich, den gesamten Prunksaal zum ersten Mal seit Bestehen einer umfassenden fachmännischen Restaurierung und Sanierung zu unterziehen.13 Auch die Fronten am Josefplatz und Burggarten wurden mitrenoviert. Am 30. Mai 1955 konnte der Abschluss dieser Arbeiten mit der Ausstellungseröffnung ”Mozart, Werk und Zeit” im strahlenden Prunksaal gefeiert werden.
Stummvoll gelang es, ein Bibliotheksbudget für sein Haus zu erlangen, mit dem einigermaßen die Bedürfnisse der Österreichischen Nationalbibliothek gedeckt werden konnten. Dadurch konnten die Zugänge deutlich vermehrt und neue Aufgaben übernommen werden, was wiederum mehr Personal erforderte. 1945 betrug der Personalstand an die 90 Beamte und Angestellte, zu Stummvolls Dienstende 1967 war die Zahl bereits auf über 200 Mitarbeiter*innen angewachsen.
Räume
Eine räumliche Erweiterung der Österreichischen Nationalbibliothek wurde immer konkreter: 1956 entschied das Bundesministerium für Unterricht, dass ein unterirdischer Gang das alte Haus am Josefsplatz mit der Neuen Burg verbinden soll. Schon Bick hatte Anspruch auf Räume in der Neuen Burg gestellt, die im Krieg als Reservelazarett gedient hatten, dabei aber einen zentralen Neubau für die großen Wiener Bibliotheken favorisiert. Stummvoll hingegen hielt nichts von einem Zentralbau. Er legte Anbaupläne der Architekten Theiss-Jaksch und Friedrich Lehmann vor und nützte in der Folge die unter dem Prunksaal gelegenen Kellerräume.14 Nach vielen Plänen wurde 1955 als kostengünstige und realistische Variante die Verlegung der Druckschriftensammlung in die Neue Burg konzipiert. Die Entscheidung fiel endlich Ende des Jahres 1957.15
Erschwert wurden die Vorhaben, da bis in die 1960er Jahre die Atomenergiebehörde trotz Protest der Österreichischen Nationalbibliothek Räume in diesem Bereich zugesprochen bekam. Das hatte zur Folge, dass zunächst nicht die gesamte Druckschriftensammlung übersiedeln konnte. Es dauerte noch einige Jahre bis 1962 das Architekturbüro Theiss/Jaksch endlich mit umfassenden Planungsarbeiten beginnen konnte.
Am 28. September 1966 wurde schließlich der neue Hauptlesesaal mit 200 Sitzplätzen und der Zeitschriftenlesesaal mit 60 Plätzen feierlich in der Neuen Burg eröffnet. Die Benützungsgebühren für Leser*innen wurden abgeschafft. Der 9. Österreichische Bibliothekartag 1966 fand bereits in diesen neuen Räumen statt.
Es blieben allerdings zahlreiche weitere Raumfragen zu lösen. Besonders dringend war die Frage der Erweiterung der Magazine. Stummvoll legte 1965 und 1967 Vorschläge und Memoranden dafür vor: Unter anderem schlug er eine Unterkellerung der Burggartenterrasse vor, was auch vom Ministerium befürwortet wurde, da der Baugrund Bundeseigentum ist und die Magazine direkt an die Bibliothek anschließen. Diese Bauvorhaben sollten allerdings erst spätere Generationen umsetzen können.16
Finanzen und Erwerbung
Die Währungsreform führte zur Verteuerung der Bücher und die Flut an Neuerscheinungen erforderte größere Geldmittel. 1955 konnte das Bundesministerium für Unterricht der Österreichischen Nationalbibliothek 2 Millionen Schilling (circa 145.346 Euro) zuweisen. Dazu kamen Sonderdotationen für die Prunksaalrestaurierung, den Erwerb von Sammlungsobjekten und die Magazinseinrichtungen. Die folgenden Jahre waren für Erwerbungen günstig, so betrug die Dotation 1967 bereits über 4 Millionen Schilling.
Die Österreichische Nationalbibliothek schloss mit der Library of Congress ein Abkommen, das zwei Jahrzehnte bestehen sollte: Die amerikanische Bibliothek bezog rückwirkend bis 1946 die gesamte Buchproduktion Österreichs im Austausch gegen aktuelle amerikanische Literatur.17
Besonders wichtig wurden die Tauschbeziehungen mit bedeutenden europäischen Bibliotheken. Stummvolls internationale Kontakte waren dabei eine große Hilfe.
Bedeutende Zuwächse erhielt die Österreichische Nationalbibliothek durch Legate und Schenkungen. Ende 1967 betrug der Buchbestand bereits 2 Millionen Bände. Das entsprach einem Zuwachs von 31.000 Bänden pro Jahr, eine fast Verdreifachung zum vergangenen Vierteljahrhundert. Auch die Einbandstelle profitierte von den erhöhten Mitteln, und so ließ Stummvoll Zeitungen und Zeitschriften aus dem Ersten Weltkrieg, die ungebunden in den Regalen lagen und konservatorisch schon angegriffen waren, von Dezember 1963 bis Jänner 1966 binden.
Als zeitintensiv erwies sich die Rückgabe der von den Nationalsozialisten konfiszierten und an die Nationalbibliothek übergebenen Bibliotheken. Die Restitutionsfälle beschäftigen das Haus bis in die Gegenwart.
Bibliothekarische Aufgaben
Eine der wichtigsten ersten Maßnahmen Stummvolls war der Auftrag an seine MitarbeiterInnen, den gesamten Buchbestand und alle Sammlungsobjekte des Hauses tatsächlich zählen zu lassen, um genaue und nicht geschätzte Zahlen zu erhalten.
Ab 1951 wurde die Abteilung Titelaufnahme komplett neu organisiert: mehr Personal und eine eigene Abteilung für die Vervielfältigung der Katalogzettel. Umfangreich waren dazu die Katalogarbeiten für Altbestände und Rückstände bei den ”Slavica”.
Zur Druckschriftensammlung gehörte die ”Benützungsabteilung”, deren Lesesaal ab 1951 wieder bis 20 Uhr geöffnet werden konnte, an Samstagen bis 12 Uhr. Die Publikation ”Zuwachsverzeichnis der Handbibliothek des Druckschriftenlesesaales der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien” diente der Information der Leser*innen. Später ging man dazu über, interessante Bücher in Vitrinen im Foyer auszustellen.
Der von Stummvoll eingeführte ”Büchersturz" – die jährliche Revision aller Entlehnungen – war zwar für die Leihstelle aufwändig, erwies sich aber als so sinnvoll, dass diese Revision bis zum heutigen Tag beibehalten wird.
Die Fernleihe mit dem Ausland nahm stetig zu. Der Aufbau der in der NS-Zeit zum völligen Stillstand gekommenen ”Büchernachweisstelle der österreichischen Bibliotheken” musste von Neuem begonnen werden. Der lange vernachlässigte Zeitschriftenlesesaal wurde nach seiner Übersiedlung in die Neue Burg wichtiger Bestand der Bibliothek.
Eine Mammutaufgabe war der alphabetische Katalog. Die Hoffnung, einen Publikumskatalog durch Mitarbeit am Deutschen Gesamtkatalog (Umarbeitung aller Bestände nach preußischer Vorschrift) zu erstellen, erwies sich als undurchführbar. Die begonnenen Arbeiten wurden auf Anweisung Stummvolls 1951 eingestellt. Er empfand das Fehlen eines Publikumskatalogs als unerträglich und ließ daher die technischen Möglichkeiten untersuchen, diesem Mißstand abzuhelfen. Nach einigen Versuchen entschied er sich für das System des Mehrfachschreibens mit Schreibmaschinen der Firmen IBM und Remington Rand: An eine Schreibmaschine waren vier weitere Maschinen gekoppelt, sodass von jedem Katalogzettel gleichzeitig fünf identische Exemplare hergestellt werden konnten.
Die Arbeiten wurden 1958 begonnen und nach acht Jahren, Mitte 1967, abgeschlossen.18 Über 1 Million Katalogzettel waren auf 6,5 Millionen Zetteln abgeschrieben worden.
Der Tatkraft Stummvolls und seiner technischen Kenntnisse war es zu verdanken, dass die Österreichische Nationalbibliothek ihren LeserInnen endlich einen vollständigen Nominalkatalog anbieten konnte.
Publikationstätigkeit und Ausstellungen
Bereits 1947 konnten die Ausstellungen im Prunksaal mit einer Präsentation zu William Shakespeare wieder aufgenommen werden. Auch ein Ausstellungskatalog dazu erschien.19 Ein Jahr später wurden ”25 Jahre Neuerwerbungen der ÖNB” gezeigt.20 Die folgenden Jahre brachten interessante Ausstellungen unter anderem zur Abendländischen Buchmalerei, 1956 eine große Schau zu ”Mozart, Werk und Zeit”, 1957 zu Johann Bernhard Fischer von Erlach und 1964 zu Richard Strauss.
1967 wurde die letzte Ausstellung in Stummvolls Ära im Prunksaal eröffnet: "Schätze und Kostbarkeiten der ÖNB", die die bedeutendsten Erwerbungen der letzten 20 Jahre zeigte.21
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde eifrig publiziert, sowohl hauseigene Publikationen als auch durch Veröffentlichungen in Privatverlagen unter Mitwirkung von Mitarbeiter*innen der Österreichischen Nationalbibliothek. Die Reihe "Museion" wurde wieder aufgelegt, die in erster Linie hausinternen Themen gewidmet war. Die Herausgabe einer Nationalbibliographie wurde nach dem Krieg mit der Publikation "Österreichische Bibliographie. Verzeichnis der österreichischen Neuerscheinungen" in Zusammenarbeit mit der Korporation der Wiener Buch-, Kunst- und Musikalienhändler verwirklicht, ergänzt durch die Österreichische Musikbibliographie.
Von der Zeitschrift "Phaidros. Zeitschrift für die Freunde des Buches und der schönen Künste"22 erschienen hingegen lediglich zwei Jahrgänge, da sich diese auf Grund der hohen Druckkosten für die sehr aufwändige Gestaltung als unrentabel erwies. Stummvoll wollte aber die Idee nicht aufgeben und gründete die Zeitschrift "Biblos. Österreichische Zeitschrift für Buch- und Bibliothekswesen. (Wien 1952ff.)".23 Diesrr wurde in der Folge die Reihe "Biblos Schriften" angeschlossen, die sich speziellen Einzelthemen widmete.24
Josef Stummvoll ist es auch zu verdanken, dass am 14. Februar 1951 die „Gesellschaft der Freunde der Österreichischen Nationalbibliothek“, gegründet 192125, wieder ins Leben gerufen wurde.
Würdigung
Nach 21,5 Dienstjahren ging Josef Stummvoll Ende 1967 in Pension – reich belohnt durch unzählige Ehrungen. Bedeutend waren unter anderem seine Wahl zum Vizepräsidenten der IFLA 1958-1964, 1967 zum Mitglied des Verwaltungsausschusses des Deutschen Museums und 1961 zum Mitglied des Ehrenausschusses der Gutenberg-Gesellschaft.
Ein junger Techniker war in Leipzig zum Bibliothekswesen gestoßen und hatte seine analytisch-technische Begabung mit organisatorischen Fähigkeiten verbunden. Zu Ende seiner Direktionszeit wurden erste Fragen eines kommenden Computerzeitalters diskutiert, ohne ermessen zu können, wie rasant diese Entwicklung voranschreiten sollte.
Josef Stummvoll war 18 Jahre Generaldirektor der Österreichischen Nationalbibliothek gewesen. Die Österreichische Nationalbibliothek wurde durch seine Initiativen zu einer der renommiertesten Nationalbibliotheken Europas. Seine Direktionszeit war – was Innovationen und internationale Vernetzung der Institution betrifft – die bis dato erfolgreichste Ära in der Geschichte der Palatina.
Am 22.März 2022 jährt sich Josef Stummvolls Todestag zum 40. Mal.
Autorin: Dr. Mag. Gabriele Mauthe, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Sammlung von Handschriften und alten Drucken.
Quellen:
1 »Josef Stummvoll Lebenslauf Cod. Ser. n. 61463, S. 3
2 Heinrich Uhlendahl (*4.3.1886 Borbeck; † 28.12.1954 Leipzig) Bibliothekar, 1924 bis 1954 Direktor und Generaldirektor Leiter der Deutschen Bücherei in Leipzig.
3 Meisels, Henry R.: Biographie Stummvoll. In: Festschrift Josef Stummvoll. Wien 1970, Teil 1, 18-49
4 Ziel der Türken war es, die rückständige Landwirtschaft zu reformieren, und daher holte man deutsche Fachleute zur Unterstützung, die an der Hochschule unterrichteten.
5 Tochter des schwedischen Naturkundlers und Schriftstellers Harald Thorngren
8ÖNB-Archiv, Karton Vorgeschichte der Neuen Burg 1948-1966
9Cod. Ser. n. 61480, Cod. Ser. n. 61578, Cod. Ser. n. 61577
10Cod. Ser. n. 61453, Cod. Ser. n. 61571, Cod. Ser. n. 61572
11Cod. Ser. n. 61618, Cod. Ser. n. 61619, Cod. Ser. n. 61620, Cod. Ser. n. 61621, Cod. Ser. n. 61460
13ÖNB-Archiv, ÖNB 70/1954, ÖNB 535/1954, ÖNB 29/1956
15ÖNB-Archiv, ÖNB 104/1955, ÖNB 22/1957
18 ÖNB-Archiv, ÖNB 52/1958, ÖNB 187/1958
19Katalog der Shakespeare-Ausstellung 1947
22http://data.onb.ac.at/rec/LZ00653063
23http://data.onb.ac.at/rec/AC00368102
Bitte beachten Sie die Öffnungszeiten zu den Feiertagen.
Die Sammlung sowie der Lesersaal von „Bildarchiv und Grafiksammlung“ bleibt am 22. Jänner 2025 geschlossen.