Am 3. Oktober jährte sich zum 120. Mal der Geburtstag von Eugen Wüster (1898–1977). Er gilt als Begründer der modernen Terminologiewissenschaft. Als einer der bedeutendsten Interlinguisten prägte er die Begriffe Esperantologie und Plansprache. Die Manuskripte zum Enciklopedia Vortaro – dem bis heute umfangreichsten Esperanto-Wörterbuchprojekt – werden in seinem plansprachlichen Nachlass in der Sammlung für Plansprachen der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrt.
Autor: Bernhard Tuider
Eugen Wüster war auf verschiedensten Gebieten der Wissenschaft und Technik tätig. Seine Bibliographie umfasst mehr als 500 thematisch sehr unterschiedliche Publikationen aus den Bereichen Bibliotheks- und Dokumentationswesen, Dezimalklassifikation, Terminologieforschung, Orthographie, Lexikographie, Angewandte Sprachwissenschaft, Interlinguistik und Esperantologie.
Eugen Wüster wurde am 3. Oktober 1898 in Wieselburg geboren. Er besuchte das humanistische Gymnasium in Hirschberg (Schlesien), wo er 1918 die Reifeprüfung ablegte. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits zahlreiche Texte in Esperanto publiziert. Schon als 15-Jähriger hatte Wüster begonnen die 1887 von Ludwik Zamenhof veröffentlichte Sprache zu erlernen, 1914 nahm er am 9. Deutschen Esperanto-Kongress in Leipzig teil und übersetzte schon bald Literatur ins Esperanto, u. a. Fabeln von Gotthold Ephraim Lessing sowie Novellen von Adelbert von Chamisso und Wilhelm Hauff (Blanke 1998a: 144; Felber/Lang 1979: 15).
Eugen Wüster war von Logik, Systematik sowie Struktur der Sprache Esperanto fasziniert und begann noch während seiner Gymnasialzeit mit der Arbeit an einem enzyklopädischen Wörterbuch Esperanto-Deutsch. Mit diesem Projekt beabsichtigte er ein umfangreiches, provisorisches Wörterbuch zu erstellen, das als Modell für nachfolgende zweisprachige Wörterbücher dienen sollte, und für die Redakteure eines zukünftigen „vollständigen“ Esperanto-Wörterbuches gedacht war. Ein weiterer Impuls für sein Projekt kam von der Befürchtung, dass sich durch die zunehmende Verwendung des Esperanto als Fachsprache seine Lexik unsystematisch weiterentwickeln könnte und eine fehlende Systematik den Sprachgebrauch negativ beeinflussen würde. Wüster glaubte an eine systematische Evolution von Sprache, stellte aber in diesem Kontext auch die kritische Frage, ob man Sprachwandel aktiv beeinflussen solle bzw. ob man überhaupt die Entwicklung einer Sprache steuern könne (Maradan 2013: 49-53).
Sein Streben stand dabei nicht im Gegensatz zu der treffenden Feststellung von Ferdinand de Saussure, der in seinem „Cours de linguistique générale“ über Plansprachen notierte:
„Derjenige, welcher eine Sprache schafft, hat sie in der Hand, solange sie noch nicht im Umlauf ist; aber von dem Augenblick an, wo sie ihrer Aufgabe dient und in allgemeinen Gebrauch kommt, entzieht sie sich der Kontrolle. Das Esperanto ist ein Versuch dieser Art; wenn er gelänge, würde es dann jenem unvermeidlichen Gesetz entgehen? Nach Verlauf einer kurzen Zeit würde die Sprache höchstwahrscheinlich in ihr semeologisches (sic) Leben eintreten;“ (Saussure 2001: 90)
Von Sommer 1918 bis 1920 arbeitete Eugen Wüster zunächst alleine an dem Enciklopedia Vortaro, ab 1921 hatte er mehrere Mitarbeiter, unter ihnen Leo Blaas und Hans-Joachim Plehn. Bereits damals besaß Wüster eine der umfangreichsten und vollständigsten Bibliotheken zum Thema Esperanto und Plansprachen, die ihm als Quelle diente. Inhaltliche Unterstützung hatte er auch durch Kontakte zu zahlreichen namhaften Esperantisten wie Arnold Behrendt, Paul Bennemann, Paul Gottfried Christaller, Johannes Dietterle und Émile Grosjean-Maupin (Blanke 2015: 44-48; Maradan 2013: 53), die in der Sammlung für Plansprachen im Teilnachlass Eugen Wüster (ÖNB ESP V5) sowie in der Sammlung Thiele Wüster (ÖNB ESP V61) dokumentiert werden.
Neben seinem Studium der Elektrotechnik an der Technischen Hochschule in Berlin Charlottenburg, das er 1927 mit sehr gutem Erfolg abschloss, veröffentlichte Wüster 1923 bei Ferdinand Hirt & Sohn ein Maschinentechnisches Esperanto-Wörterbuch der Grundbegriffe und den ersten Band des enzyklopädischen Wörterbuches (a bis ĉerizo). Ursprünglich plante der renommierte Verlag aus Leipzig das Wörterbuch in sieben Bänden herauszugeben, bis 1929 sind aber nur drei weitere Bände erschienen. Die Arbeit am fünften Band wurde 1932 eingestellt, obwohl Eugen Wüster und seine Mitarbeiter noch bis 1937 an den Wörterbuchmanuskripten arbeiteten. Die vier publizierten Bände umfassen 576 Seiten und beinhalten zirka 35.000 Einträge (a bis korno). Das Manuskript des gesamten Wörterbuches wird in der Sammlung für Plansprachen aufbewahrt, es zählt 2.161 Seiten mit zirka 80.000 Einträgen und ist 1994 als Mikrofiche veröffentlicht worden (Blanke 1998b: 269).
Vor allem auf Grund seiner Arbeiten am Enciklopedia Vortaro ernannte der 1908 gegründete Esperanto-Weltbund Eugen Wüster 1933 zum Ehrenmitglied. Während der internationalen Konferenz „Esperanto in Schule und Praxis“, die von 19. bis 24. Mai 1934 im Reichsratssaal des Parlaments in Wien tagte, hielt Eugen Wüster einen Vortrag über „Die internationale Normung und die Rolle des Esperanto“.
Es gibt mehrere Gründe dafür, warum das Enciklopedia Vortaro in den 1930er-Jahren nicht vollständig erschienen und das Projekt schließlich eingestellt worden ist.
Eugen Wüster beendete 1931 sein Dissertationsstudium an der Technischen Hochschule in Stuttgart mit einer Arbeit über die Internationale Sprachnormung in der Technik, besonders in der Elektrotechnik und übernahm im selben Jahr die Leitung der Firma Wüster & Cie. in Wieselburg.
Ab den 1930er-Jahren begann sich Wüster zunehmend für naturalistische Plansprachen zu interessieren, zunächst für die 1922 publizierte Sprache „Occidental“, danach für „Interlingua“. Dieses Interesse an naturalistischen Projekten stand im Kontext seiner Zusammenarbeit mit der IALA (International Auxiliary Language Association), die 1924 in New York u. a. von Alice Vanderbilt Morris mit dem Ziel gegründet wurde, die wissenschaftliche Basis für die Auswahl einer bestehenden Plansprache zu schaffen, und die ab den 1930er-Jahren begann eine neue Sprache zu entwickeln – das 1951 von Alexander Gode, einem Mitglied der IALA, veröffentlichte „Interlingua“.
Auch die politische Entwicklung in Europa, besonders im Deutschen Reich, beeinflusste die Arbeiten am Enciklopedia Vortaro. Ab den 1930er-Jahren stieg der politische Druck gegen Esperanto, das von Nationalsozialisten oft als „jüdische Sprache“ diffamiert wurde. Durch einen Erlass Heinrich Himmlers vom 20. Juni 1936 mussten sich Esperanto-Vereinigungen im Deutschen Reich auflösen, der Verlag Ferdinand Hirt & Sohn liquidierte sein Esperanto-Fach, und ab 1938 erfolgte die Auflösung der Esperanto-Vereinigungen in Österreich (Blanke 2015: 55 f.; Lins 2016: 120-123).
Obwohl Eugen Wüster gewisse Zweifel hatte, dass eine Plansprache jemals eine breite öffentliche Akzeptanz finden würde, verlor er nie das Interesse an diesem Thema und befasste sich auch nach 1945 mit Esperanto. Er arbeitete weiterhin für die Internacia Scienca Asocio Esperantista (ISAE) und publizierte in der Zeitschrift Scienca Revuo. Er war Mitglied des Redaktionskomitees der Zeitschrift La Monda Lingva Problemo und Rektor der 23-a Internacia Somera Universitato, die im Rahmen des 55. Esperanto-Weltkongresses 1970 in Wien stattfand. (Blanke 1998a: 157)
Das esperantologische Werk Eugen Wüsters ist derart umfangreich, dass er gemeinsam mit René de Saussure, einem Bruder von Ferdinand de Saussure, als einer der Begründer der Esperantologie angesehen wird. Dies beruht vor allem auf seinen Arbeiten am Enciklopedia Vortaro, das Kálmán Kalocsay – einer der bedeutendsten Esperanto-Schriftsteller – u. a. mit folgenden Worten rezensierte: „La Wüster-vortaro estas nia fiero: grandioza dokumento pri riĉeco, depost la Fundamento la plej grava evento en Esperantujo.“[i] (Kalocsay 1931: 16)
Über den Autor: Mag. Bernhard Tuider ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Sammlung für Plansprachen der Österreichischen Nationalbibliothek.
Blanke, Detlev (1998a): Terminology Science and Planned Languages, in: Oeser, Erhard/Galinski, Christian (Hrsg.): Eugen Wüster (1898-1977). Leben und Werk. Ein österreichischer Pionier der Informationsgesellschaft. His Life and Work. An Austrian Pioneer of the Information Society. Vienna: TermNet, S. 133-168.
Blanke, Detlev (1998b): Zur Rolle von Plansprachen im terminologie-wissenschaftlichen Werk von Eugen Wüster, in: Language Problems and Language Planning, Volume 22, Number 3, S. 267-279.
Blanke, Detlev (2015): Eugen Wüster – la planlingvoj kaj la Enciklopedia Vortaro. Berlin: Blanke.
Felber, Helmut/Lang, Friedrich (1979): Würdigung der Person und des Wissenschaftlers, in: Felber, Helmut/Lang, Friedrich/Wersig, Gernot (Hrsg.): Terminologie als angewandte Sprachwissenschaft. Gedenkschrift für Univ.-Prof. Dr. Eugen Wüster. München u. a.: Saur, S. 15-28.
Hauff, Wilhelm (1921): La Kantistino. Novelo. El la germana lingvo tradukis Eugen Wüster. Berlin: Esperanto-Verlag Friedrich Ellersiek.
Kalocsay, Kálmán (1931): Eugen Wüster: Enciklopedia Vortaro Esperanta-Germana. IV. parto (ĝis korno). Recenzo, in: Literatura Mondo, 1931/1, S. 15-16.
Lins, Ulrich (2016): Dangerous Language – Esperanto under Hitler and Stalin. Basingstoke: Palgrave Macmillan UK.
Maradan, Mélanie (2013): La esperantologiaj principoj de Eugen Wüster, in: Kiselman, Christer/Maradan, Mélanie (Red.): Leksikologio, frazeologio, historio, semantiko kaj terminologio: du kontinentoj renkontiĝas en Hanojo. Aktoj de la 35-a Esperantologia Konferenco en la 97-a Universala Kongreso de Esperanto, Hanojo 2012. Rotterdam: Universala Esperanto-Asocio, S. 49-64.
Saussure, Ferdinand de (2001): Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft (De Gruyter Studienbuch). 3. Auflage. Berlin u. a.: de Gruyter.
Wüster, Eugen (1923): Maschinentechnisches Esperanto-Wörterbuch der Grundbegriffe. Deutsche Ausgabe. Leipzig: Ferdinand Hirt & Sohn.
Wüster, Eugen (1923): Enciklopedia Vortaro Esperanta-Germana. Unua Parto. Leipzig: Ferdinand Hirt & Sohn.
Wüster, Eugen (1925): Enciklopedia Vortaro Esperanta-Germana. Dua Parto. Leipzig: Ferdinand Hirt & Sohn.
Wüster, Eugen (1927): Enciklopedia Vortaro Esperanta-Germana. Tria Parto. Leipzig: Ferdinand Hirt & Sohn.
Wüster, Eugen (1929): Enciklopedia Vortaro Esperanta-Germana. Kvara Parto. Leipzig: Ferdinand Hirt & Sohn.
Wüster, Eugen (1931): Internationale Sprachnormung in der Technik, besonders in der Elektrotechnik. Die nationale Sprachnormung und ihre Verallgemeinerung. Berlin: VDI-Verlag.
[i] Übersetzung: Das Wüster-Wörterbuch ist unser Stolz: ein großartiges Dokument über unseren Reichtum, nach dem Fundamento [Anm.: Ludwik Zamenhof: Fundamento de Esperanto, Paris 1905] das wichtigste Werk auf dem Gebiet des Esperanto.
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