Autorin: Kerstin Putz
In ihren seit den 1980er Jahren erschienenen umfangreichen Prosabüchern wiederholt und variiert Friederike Mayröcker (1924–2021) ein für ihr Werk charakteristisches Setting. Ein schreibendes Ich findet sich in einem Zimmer an Tisch und Schreibmaschine wieder, umgeben von unzähligen Gegenständen, Zetteln und Zeugs, den Blick auf die Dinge, aus dem Fenster oder nach innen gerichtet, im Dialog mit sich oder einem entfernt anwesenden Gegenüber:
Die Dinge, Kleider und Papiere sammeln sich an, verlieren, angehäuft und abgelagert zu Bergen, ihre Konturen, werden undefinierbar im Chaos. Körbe, Schachteln und Mappen stapeln sich, zu befürchten steht, „daß die mich umgebenden Gegenstände sich als meine schlimmsten Widersacher entpuppen“ (HD 135). Mitunter tragen die Dinge bedrohliche Züge, ihnen beigemischt sind die eigenen Notizen:
Es ist die Identifikation des schreibenden Ichs mit den Dingen, die ihre Transformation zu Abfall verhindert. Würde man sie wegwerfen, entsorgte man gleichsam einen Teil des eigenen Selbst. Gegen das Entsorgen wird ethisch-moralisch argumentiert: Es sind die Eigenschaften der Nachsicht, Geduld und Treue, die Haltung des Absehens von sich selbst, die das Ich als Gründe für das Aufbewahren anführt. Die Vermenschlichung, Belebung und Beseelung der Dinge, die darin im Spiel ist, gipfelt im Wort von der Pietät: so als verletzte man die Gefühle der Gegenstände, störe ihre Integrität oder gar Totenruhe, holte man sie aus ihrer Dinggemeinschaft und würfe sie weg.
Die in Mayröckers Texten immer wieder formulierte innige Beziehung zu den Dingen wird als Faszination beschrieben, die Verzückung und Hingerissensein zeitigen kann, als jene Art der Liebe schließlich, die in ihrer Dauerhaftigkeit und Unkompliziertheit jener zu den Menschen überlegen zu sein scheint (Stichwort: keine Schuldgefühle!; vgl. A 245 f.). Wie der Titel des 1985 erschienenen Prosabandes „Das Herzzerreißende der Dinge“ nahelegt, mobilisieren die Dinge bei Mayröcker starke Affekte, sie können sich zu belebten „Gegenstandwesen“ wandeln (HD 134), atmen, sprechen und gegebenenfalls – einer surrealistischen Wahrnehmungs- und Traumlogik folgend – über sich hinauswachsen. Eine Riesenbirne trägt Zipfelmütze und Menschenantlitz, Obst kann sitzen und schauen (vgl. ST 42). Alltagsgegenstände gewinnen sinnlich-übersinnliche Qualität, etwa wenn Löschpapier brütet oder eine Türklinke zur Schlange, der Fliesenboden zum Schachbrett wird (vgl. ST 190, 132). Eine auf dem Linoleumboden sich zeigende Wolke wird kurzerhand zum Kunstwerk, ja Heiligtum erklärt, beschworen wird der „Fetisch der Badekappe“ oder die „Empathie zu einem abgelutschten Kirschkern“ (vgl. ST 64; L 219; E 134). Die zärtliche Hingabe an einen Baum wiederum kleidet sich in religiöses Vokabular: „Gottlober Tannenbaum mein Vielliebchen gottlober Fetisch“ (F 23). Wundersam und magisch-religiös aufgeladen sind jene Gegenstände, die Schutz, Glück und Gesundheit versprechen, die „Trostfetische“ sind aus der Welt des Glaubens und Aberglaubens (Handke 1972, 53): „Pilgerspiegel, das Amulett gegen den bösen Blick, der Talisman im Knopfloch seines Jacketts, die winzigen Widderköpfe, perlenbesetzten Muscheln“ zählen dazu, außerdem Heiligenbilder, Zeichen aus dem Jenseits, Mitbringsel von Wallfahrten, „ein Rose-von-Jericho-Wunder, Mariazeller Kerzen“ (A 226 f., 223).
Ein intensiviertes Wahrnehmungsvermögen, eine gesteigerte Aufmerksamkeit richtet sich bei Mayröcker auf die Dinge, die animiert und ästhetisiert werden: „Gegenstände von Liebe, Mövengefieder, einer gesamten Körperwelt, Fetisch-Objekte, Landschaften […].“ (A 226) Aus der Fülle der Gegenstandswelt werden Einzelheiten, aus dem überreichen Durcheinander die Details herausgelesen. Als solche werden sie zum Material des Schreibens, das einem Imperativ des Sehens folgt: „sehen! sehen! genau hinsehen!“ (ST 39) Die Wahrnehmung ist dabei momenthaft, kann im nächsten Augenblick von einem zum anderen Ding übergehen. Die „magische Alltäglichkeit“, die in Mayröckers Texten zelebriert wird, speist sich aus Alltagsbeobachtungen, die eine „andere, geheimnisvolle, fremde Welt“ freilegen sollen (vgl. Kasper 1999; ST 133).
Der Alltag des schreibenden Ichs ist verzaubert, bestimmt von Visionen, Wundern und Anmut. Voraussetzung dafür ist die Fähigkeit, sich von den Dingen affizieren lassen zu können, von ihrer Materialität, Stofflichkeit, Fühlbarkeit. So wird bei Mayröcker das Gewebte und Textile in seiner Sinnlichkeit beschworen, ruft Assoziationen zu Naturdingen wie Moos, Vogelfedern und Tierfellen hervor, wird in seiner Weichheit und Flauschigkeit kontrastiert mit kantigen Gegenständen, Dingen in anderen Aggregatzuständen: „Flechtmuster, rauschendes Gas in der Badekammer, Fetische Feinstiche, sage ich, Steingutscherbe verschluckt […].“ (L 214) Pelze und Fell haben modische, romantische und erotische Qualität, sind Schmuck- und Kleidungsstücke mit symbolischer Bedeutung: In der Wortreihe „Fellfetische / Affenpelz – Mondperle Lindenblut“ wird Taktiles, Natürliches und Künstliches aufgerufen (A 75); der „pelzig[e] Waldboden“ ist Schauplatz einer erotischen Begegnung, „Moosdecke oder Textur des Fells“ zwischen den Körpern inklusive (MH 18).
Zur Sprache der Liebe und Erotik gehört das Fetischisieren einzelner Körperteile des geliebten Menschen, etwa wenn Augenbrauen mehr sind als simple Gesichtsbehaarung und liebevoll als „Haarpelzchen“ oder „das Pelzchen über deinem Aug“ bezeichnet werden (A 116, F 137). Gesten, Worte, Gewohnheiten des Gegenübers sind schillernde Details, die aus dem Gesamteindruck hervorstechen: „Ich wollte am liebsten nur seine Hand sehen, die eine Zigarette hielt, manchmal gelang es mir dann auch, seine blasse Hand aus seinem übrigen Erscheinungsbild herauszuvergrößern, es war eine Art Fetisch für mich geworden, nur diese seine ältliche blasse Hand […].“ (HD 27) Als einzelner Teil wird die Hand vom Rest des Körpers isoliert, fetischisiert, mit Bedeutung aufgeladen und verrätselt: „sie schien ein Geheimnis zu enthalten“ (ebd.).
Unter den fetischisierten Objekten in Mayröckers Texten sind jene zentral, die unmittelbar mit dem Schreiben zu tun haben. Notizzettel, Papier, Schreibmaschine, Briefe, Bücher und Kunstwerke sind mehr als bloße Geräte oder Anreger des Schreibens, sie werden überhöht und wortreich in Szene gesetzt. Ehrfürchtig und untertänig wie beim Kirchgang wird die Haltung des schreibenden Ichs beschrieben: „ja ich knie vor meiner Maschine, vor meinem Werk, vielleicht das einzige das ich anbete“ (MH 76). Die Sprache, die Literatur, das Werk sind verehrungswürdige Heiligtümer, das Schreiben eine Ritualhandlung, bei der es gilt, die Worte vor dem Zwang der Bedeutung zu bewahren: „denn die Worte dürfen nicht als Gerätschaften (Gebrauchsgegenstände) missbraucht werden, sie bluten ja ständig, sei gegrüßt und gerettet, sondern als bevorzugte Fetische, nicht wahr […]“, heißt es an einer Stelle, in der religiöse Gebetsformeln, Topoi von Rettung und Erlösung anklingen (HD 129). Die Worte will Mayröcker nicht als profane Bedeutungsträger, die Sprache nicht als bloßes Mittel der Kommunikation, die Literatur nicht im Sinne eines konventionellen Erzählens verstanden wissen, sondern vielmehr im Schreiben die Poetisierung, Verwandlung und Verzauberung der Wirklichkeit erreichen.
Diese Verzauberung ist obsessiv insofern, als Mayröcker sie in einer Vielzahl von Texten immer wieder (rituell) vollzog und – im selbstreflexiven Modus des Schreibens über das Schreiben – vorführte. Das darin artikulierte Verhältnis zu den Dingen ist zunehmend von Sterblichkeit, Tod und Verdinglichung geprägt. Im hohen Alter registriert ein immer unbeweglicher werdendes menschliches Selbst nicht nur ein Interagieren, sondern ein Verschmelzen, ein physisches wie spirituelles Verbundensein mit den Dingen, das sich in Konstellationen zwischen Subjekt und Artefakten manifestiert, etwa im „Gefüg[e] ICH UND DAS BETT“ (MH 56). Geschuldet ist die Verwobenheit des schreibenden Ichs mit den Gegenständen dem „Museumscharakter“ seiner Behausung, die randvoll mit Dingen ist, einerseits, einer immer stärker empfundenen Todesnähe andererseits (HD 135). Älterwerden wird bei Mayröcker als Einüben eines dinghaften Zustands beschrieben, eines Verharrens in Ruhe, stilllebengleich (vgl. ST 99, 215; vgl. Arteel 2012, 87 f.). Selbst dinghaft zu werden wird als Positivum erfahren, dass die Dinge unsterblich sind, aber nicht man selbst, wird nicht neidisch beäugt, nicht als Skandal erlebt. Lebendig- und Nicht-Lebendigsein sind Zustände, die im Übergang begriffen sind. In seiner konzisen Abhandlung „Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne“ notierte Hartmut Böhme: „Im Tod wird der Mensch differenzlos zu den Dingen, während die scheinbar toten Dinge ein Stück Leben wahren.“ (Böhme 2006, 123)
Über die Autorin: Kerstin Putz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek.
Der Text ist eine gekürzte Fassung des gleichnamigen Beitrags im Begleitbuch zur Sonderausstellung „‚ich denke in langsamen Blitzen‘. Friederike Mayröcker. Jahrhundertdichterin“ im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek, die noch bis 16. Februar 2025 zu sehen ist.
A = Friederike Mayröcker: Die Abschiede. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980.
B = Friederike Mayröcker: brütt oder Die seufzenden Gärten. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998.
E = Friederike Mayröcker: études. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2013.
F = Friederike Mayröcker: fleurs. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2016.
HD = Friederike Mayröcker: Das Herzzerreißende der Dinge. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985.
MH = Friederike Mayröcker: mein Herz mein Zimmer mein Name. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988.
L = Friederike Mayröcker: Lection. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994.
ST = Friederike Mayröcker: Stilleben. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991.
Arteel 2012 = Inge Arteel: Friederike Mayröcker. Hannover: Wehrhahn 2012.
Böhme 2006 = Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. Reinbek: Rowohlt 2006.
Handke 1972 = Peter Handke: Wunschloses Unglück. Erzählung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 41975 [1972].
Kasper 1999 = Helga Kasper: Apologie einer magischen Alltäglichkeit. Eine erzähltheoretische Untersuchung der Prosa von Friederike Mayröcker anhand von „mein Herz mein Zimmer mein Name“. Innsbruck: Institut für Germanistik 1999.
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