Für den Erstdruck seiner drei „Symphonischen Skizzen“ La Mer verwendete Debussy ein berühmtes Motiv des japanischen Künstlers Hokusai.
Autorin: Andrea Harrandt
Zwei große Leidenschaften treffen im Erstdruck von „La Mer“ von Claude Debussy auf einander : zeitlebens war er der See zugetan und ebenso intensiv fühlte er sich von japanischer Kunst angezogen.
Die Sehnsucht nach dem Meer, das Naturphänomen des Meeres, Wind und Wellen, haben viele Komponist*innen angezogen und angeregt. Eines der bekanntesten Werke sind zweifelsohne die symphonischen Skizzen „La Mer“ von Claude Debussy. Der Komponist wurde 1862 in Saint-Germain-en-Laye geboren wurde und war von Jugend an dem Meer verbunden, das er bei Besuchen bei seiner Patentante in Cannes kennenlernte. Dort erhielt er auch seinen ersten Klavierunterricht. 1872 wurde er am Pariser Conservatoire aufgenommen.
1880 suchte Nadeschda von Meck, die Mäzenin und Brieffreundin Tschaikowskys, für die Ferien einen guten Pianisten und engagierte Debussy, der mit ihr Reisen durch Frankreich, in die Schweiz und nach Italien unternahm, 1881 und 1882 auch nach Russland, wo er russische Musik kennenlernte. Anschließend besuchte er wieder das Pariser Conservatoire und studierte Komposition bei Ernest Guiraud.
1883 gewann er mit seiner Kantate „Le gladiateur“ den zweiten Rom-Preis und 1884 schließlich mit „L’enfant prodigue“ den ersten Preis. Als Rom-Preisträger hielt er sich von 1885 bis 1887 in der ewigen Stadt auf, untergebracht in der Villa Medici.
Wie alle Komponist*innen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war auch für Debussy Richard Wagner eine prägende Figur. Debussy erlebte wahrscheinlich „Tristan und Isolde“ erstmals in Wien, 1887 und 1889 besuchte er die Bayreuther Festspiele. Er begeisterte sich für Wagners Harmonik und seine dramatischen Konzeptionen.
Es entstanden zahlreiche Lieder und Klavierwerke, 1894 schließlich „Prélude a l’apres-midi d’un faune“ nach einem Gedicht von Stéphane Mallarmé. Der Erfolg der Uraufführung von „Pelleas et Melisande“ beruhend auf einen Text von Maurice Maeterlinck an der Pariser Opéra-Comique machte Debussy zu einem arrivierten Komponisten.
„Meine alte Liebe, das Meer, ist immer unschätzbar und schön“, schrieb Debussy einmal. Es verwundert daher nicht, dass er dieser Liebe auch eine Komposition widmete, die er im Sommer 1903 in Burgund, also weitab vom Meer, begann. In einem Brief an André Messager schrieb er: „Sie wußten vielleicht nicht, daß ich für die schöne Laufbahn eines Seemanns ausersehen war, und daß nur die Zufälle des Daseins mich auf eine andere Bahn geführt haben.“ (Dömling S. 3)
Debussy verarbeitete in seinem neuen Werk Erinnerungen an die Kindheit am Mittelmeer, in Cannes und Fiumicino, und am Atlantik, in Arcachon. Die Darstellung von Eindrücken, die Stimmung und Atmosphäre eines Augenblicks ist ein Merkmal der Musik des Impressionismus.
Bereits im September 1903 teilte er seinem Verleger Jacques Durand Titel und Inhalt des neues Werkes mit:
„[…] Was würden Sie dazu sagen: La Mer, drei symphonische Skizzen für Orchester.
I. Schöne See an den ‚Iles Sanguinaires‘ –
II. Spiel der Wellen
III. Der Wind läßt das Meer tanzen.
Ich arbeite daran auf Grund zahlloser Erinnerungen, und ich versuche, hier damit fertig zu werden […]“ (Barraqué S. 122)
Jedes Jahr verbrachte Debussy seine Ferien am Meer, bei „dem unendlichen Lärm des Meeres, das uns gebieterisch ermahnt, unsere Zeit nicht zu verlieren.“ Im Sommer 1904 instrumentierte Debussy das Werk in Dieppe und auf Jersey. Aus Dieppe schrieb er seinem Verleger: „Ich hätte gerne La Mer hier beendet; aber ich muß die Instrumentierung noch vollenden, die stürmisch und wechselhaft ist wie ... das Meer!“ (Barraqué S. 122)
Debussy war in dieser Zeit auch mit anderen Werken beschäftigt – u.a. die Lieder „Fêtes Galantes“ und die Klavierstücke „Masques und Images II“ - und in seinem Privatleben gab es einige Veränderungen: er trennte sich von seiner Frau Lily Texier und ging eine Verbindung mit der Sängerin Emma Bardac ein.
„La Mer“ könnte auch als dreisätzige Symphonie bezeichnet werden, auch wenn es Debussy selbst nicht so genannt hat. Jeder Satz schildert einen anderen Aspekt des Meeres.
Im ersten Teil - Von der Morgendämmerung bis zum Mittag auf dem Meer – entfaltet sich in 30 Takten der Klang. Danach suggeriert eine in den Streichern liegende Begleitfigur eine Art Bewegung, das Murmeln und sanfte Kräuseln des Wassers, darüber erhebt sich eine wellenförmige Arabeske, die schließlich durch den Einsatz von Blechblasinstrumenten in eine überraschende Apotheose mündet.
Ein reiches Instrumentarium, neben Streichern sowie Holz- und Blechbläsern auch zwei Harfen, Schlagwerk, Becken und Tam-tam, einen großen Gong, charakterisiert das Werk.
Der zweite Satz – Jeux des vagues – Spiel der Wellen – lässt die schaumende Gischt und das Schaukeln der Wellen erahnen.
Der dritte Satz - Darstellung des Dialogs zwischen Wind und Meer – mit der Tempobezeichnung „Animé et tumultueux“, also „lebhaft und stürmisch“ verbindet ein von Trompeten vorgetragenes Zitat aus dem ersten Satz mit einem lyrischen Thema in den Holzbläsern (Oboe, Englischhorn und Fagott). Diese Überlagerung entwickelt eine ungestüme und leidenschaftliche Atmosphäre, die das glitzernde Spiel der Wellen und das Heulen des Windes veranschaulichen soll.
Debussy verwendete keine ausgeprägten Themen, es sollte die Natur selbst klingen. Die genaue Beobachtung von Licht und Schatten in der Natur stellte als erster Claude Monet auf der Leinwand dar. Debussy übertrug es in die Musik, und wurde damit zu einem bedeutenden Vertreter des musikalischen Impressionismus. Allerdings ging es ihm nicht um eine Schilderung der Natur, sondern um einen Seelenzustand, ein Bild von Erinnerungen und Emotionen. Debussy selbst äußerte sich kaum zu seiner Musik.
Die technische Neuartigkeit des Werks von Debussy, die Abkehr von der strengen Form, die Überlagerung verschiedener Tonarten und Rhythmen, zahlreiche metrische sowie abrupte dynamische Wechsel machten den zeitgenössischen Hörern Schwierigkeiten.
Die erste Aufführung fand am 15. Oktober 1905 in einem Concert Lamoureux in Paris unter der Leitung von Camille Chevillard statt, war aber kein Erfolg. Chevillard war der Schwiegersohn von Charles Lamoureux und hatte 1899 die Leitung der Konzerte übernommen.
Pierre Lalo, der Sohn des Komponisten Edouard Lalo, bezog sich in seiner Kritik auf die Grottenszene in Debussys „Pelleas“ – „ein paar Akkorde, eine Bewegung im Orchester: darin ist die ganze Macht und das ganze Meer“ – etwas, das er nun in „La Mer“ vermisste:
„Mir scheint, daß in La Mer diese Sensibilität nicht so stark und auch nicht so spontan ist; mir scheint, daß Debussy vielmehr empfinden wollte, als daß er wahrhaft tief und natürlich empfunden hat. Zum ersten Mal hatte ich beim Hören eines malerischen Werkes von Debussy den Eindruck, als hätte ich nicht die Natur, sondern eine Reproduktion der Natur vor mir; eine wunderbar verfeinerte, einfallsreiche und kunstfertige Reproduktion gewiß, aber eben doch eine Reproduktion […[ Ich höre, ich sehe, ich fühle das Meer nicht.“ (Dömling, S. 30)
Tief gekränkt antwortete Debussy: „Sie sagen – indem Sie das schwerste Geschütz bis zum Ende aufbewahren – daß Sie das Meer in diesen ‚drei Skizzen‘ weder sehen noch fühlen. Das ist eine starke Behauptung, und wer wird deren Wert bestätigen? […] Ich liebe das Meer, ich habe es mit dem leidenschaftlichen Respekt, den man ihm schuldet, angehört […]“ (Dömling S. 30)
Mehr Verständnis brachte hingegen Louis Laloy auf, der sich in diesem Werk den Elementen sehr nahe fühlte: „Ohne Zweifel wollte Debussy – ähnlich dem Maler, der eine Landschaft zu einer bestimmten Tagesstunde, in einer bestimmten Beleuchtung festhält – in jedem seiner Bilder lediglich eine einzige Bewegung, eine einzige Impression zum Ausdruck bringen; um alle Erscheinungsformen des Meers festzuhalten, müßte das Werk die Ewigkeit ausfüllen.“
Debussy hat „alles zu erfassen verstanden, vom glänzenden Schimmer bis zum beweglichen Spiel der Schatten, von ergreifender Süße bis zu zornigem Gelächter, vom verführerischen Zauber bis zu unvermitteltem Ernst [...]“ (Dömling S. 32)
Und er charakterisierte das Werk durchaus im Sinne Debussys: „Es ist kein Pointillismus mehr, gleichwohl noch Impressionismus – durch die unveränderte Frische der Empfindungen, übersetzt in Melodien und Harmonien, die in der Welt einzig dastehen […]“
Laloy verfasste übrigens die erste französische Biographie über Debussy. Dieser fühlte sich von seinem Kritiker verstanden: „Höchstens fände ich es annehmbar, Ihnen meine Bewegung darüber zu gestehen, wie genau ich Sie meinen Ideen folgen sehe, wobei das, was Sie aussprechen, ich nie werde genau benennen können.“ (Dömling S. 33)
Nach Meinung der Freunde Debussys fand die eigentliche Uraufführung erst am 19. Jänner 1908 unter der Leitung des Komponisten selbst statt. Obwohl ihm als Dirigent die Erfahrung und nötige Gelassenheit fehlte, wurde seine Interpretation als authentisch bezeichnet.
Das „Musikalische Wochenblatt“ berichtete am 6. Februar 1908: „Zu einem Debussy-Skandal kam es im Pariser Colonne-Konzert vom 19. Januar. Zum allerersten Male erschien der Komponist der Oper ‚Pelléas et Mélisande‘ in persona auf einem Pariser Dirigentenpodium. Dieser Anlass wurde zu einer Demonstration pro und contra benützt. Debussy dirigierte seine symphonischen Skizzen ‚La Mer‘, eine ungemein interessant gearbeitete, tonmalerische Schilderung des Meeres in drei Sätzen. In den lauten Beifall der Majorität mengten sich ebenso laute Pfiffe einer überzeugt feindseligen Minorität. Debussy dankte ironisch lächelnd für diese ‚zu liebenswürdige‘“ Aufnahme seines Werkes.“
1905 erschien das Werk bei Jacques Durand, dem das Werk auch gewidmet ist, in Paris in Druck. Debussy wählte als Titelbild einen Ausschnitt aus dem Holzschnitt „Die große Welle vor Kanagawa“ von Katsushika Hokusai (1760-1849).
Debussy hatte sich schon während seines Aufenthaltes in Rom für japanische Holzschnitte begeistert und sich speziell mit dem Maler Hokusai auseinandergesetzt. Auch in seiner Pariser Wohnung in der Avenue Bois de Boulogne hingen einige Werke von ihm. Das 1910 aufgenommene Foto mit Igor Strawinsky zeigt im Hintergrund den erwähnten Holzschnitt von Hokusai. Strawinsky hielt sich anlässlich der Uraufführung seines Balletts Der „Feuervogel“ in Paris auf.
Mit dem Ende der japanischen Isolation Mitte des 19. Jahrhunderts gelangte vermehrt japanische Kunst nach Europa und inspirierte zahlreiche Künstler*innen. Besonders geschätzt wurden u.a. die Werke von Hokusai, einem der bekanntesten japanischen Meistern des Farbholzschnittes.
„Die große Welle vor Kanagawa“ ist Teil seines Zyklus von 36 Ansichten des heiligen Berges Fuji aus dem Jahr 1831. Die insgesamt 46 Drucke zeigen Orte, von denen aus der Berg Fuji betrachtet werden kann, aber auch verschiedene Szenen mit Handwerkern und Bauern. Immer ist, wenn auch oft sehr klein, der Fuji zu sehen.
Das berühmteste ist zweifelsfrei „Die große Welle vor Kanagawa“. Es zeigt drei aus Edo – der alte Name für Tokyo - kommende Boote in einer Welle. Die große Welle zeigt sich bedrohlich über den Booten, die das Wellental durchqueren. In der westlichen Kunst war eine solche Darstellung neu. Der Berg Fuji, immerhin Japans höchster Berg, ist nur als kleiner dreieckiger Hügel im Hintergrund sichtbar.
Das Titelblatt von Debussys „La Mer“ unterscheidet sich jedoch deutlich vom Original. Das Wasser ist nicht dunkelblau bzw. Preussischblau, sondern grün. Die Boote sind ebenso wenig zu sehen wie der Berg Fuji. Hokusai drückte in seinem Werk die Bedrohlichkeit des Meeres, das sein Land umgibt, aus, während für Debussy die Exotik und auch Vertrautheit mit diesem Motiv im Vordergrund stand.
Die Welle inspirierte auch zahlreiche bildende Künstler*innen in Europa, etwa Camille Claudel zu ihrer Skulptur „La Vague“. Bis heute rezipieren Künstler*innen auf der ganzen Welt dieses Motiv, ob in Gemälden oder Skulpturen, in Karikatur oder Werbung, auf Porzellan, Briefmarken, Kleidung, Hauswänden oder als Dekor von japanischen Restaurants.
Somit verbindet sich in diesem Erstdruck die Vorliebe Debussys für das Meer mit seiner Begeisterung für japanische Holzschnitte.
Über die Autorin: Frau Dr. Andrea Harrandt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek.
Jean Barraqué, Claude Debussy in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1964
Wolfgang Dömling, Claude Debussy. La Mer (Meisterwerke der Musik). München 1976
Dietrich Fischer-Dieskau, Fern die Klage des Fauns. Claude Debussy und seine Welt. Stuttgart 1993
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