Autorin: Ivana Dobcheva
Trotz ihres bescheidenen Äußeren gehören die 485 Handschriften zur Geschichte der Jesuiten zu den historisch besonders wertvollen Beständen der Österreichischen Nationalbibliothek. Sie geben Einblick in die Entwicklung des Ordens und seines Umfelds in den einstigen Provinzen Austria, Bohemia und Polonia Minor.
Der Jesuitenorden, auch bekannt als die Gesellschaft Jesu, wurde von Ignatius von Loyola und seinen Gefährten im Jahr 1534 in Paris gegründet und 1540 offiziell vom Papst anerkannt. Mit ihrem Fokus auf Missionierung und Bildung spielten die Jesuiten eine entscheidende Rolle in der Gegenreformation und bei der Verbreitung sowie Wiederherstellung des katholischen Glaubens1. König Ferdinand I. rief den Orden 1551 nach Wien, um auch hier die Gegenreformation zu unterstützen. Die 1563 gegründete österreichische Provinz entwickelte sich rasch und umfasste im 18. Jahrhundert im gesamten Habsburgerreich 31 Kollegien, 20 Residenzen und 9 Missionen. Auch Niederlassungen in Böhmen, Schlesien und Mähren waren zunächst in die Provincia Austria integriert, bevor 1623 die Provincia Bohemia gegründet wurde. Im Norden erstreckte sich die Missionstätigkeit bis in das Gebiet des Königreichs Polen, wo schließlich im 18. Jahrhundert die Provinzen Polonia Major und Polonia Minor entstanden. Gemeinsam mit sieben weiteren Provinzen bilden die vier oben genannten die Assistentia Germaniae (Abb. 1).
1773 wurde der Jesuitenorden von Papst Clemens XIV. aufgehoben. Die Bibliotheken und Archive vieler Jesuitenprovinzen wurden dabei größtenteils verstreut oder zerstört. Die Erhaltung der österreichischen Provinzialarchive ist den damaligen Präfekten der Hofbibliotheken zu verdanken, die ihr Recht nutzten, aus den aufgelösten Ordenshäusern das relevante Schriftgut auszuwählen und in die Hofbibliothek zu integrieren.
Im Rahmen eines "Kulturerbe digital"-Projekts wurden nun über 480 Handschriften des damals übernommenen “Corpus Jesuiticum” digitalisiert und neu erschlossen2. Der Hauptteil der Bestände entfällt inhaltlich auf die österreichische und böhmische Provinz und ist thematisch sehr vielfältig (siehe Abb. 2). Ein Schwerpunkt liegt jedoch in chronikalen Aufzeichnungen wie den Jahresberichten (Litterae annuae) und, in geringerem Ausmaß, Geschichtswerken und Tagebüchern, die das Gemeinschaftsleben der einzelnen Niederlassungen festhalten (Diaria).
Die "Litterae annuae" stellten einen wichtigen Teil der administrativen und kommunikativen Struktur des Ordens dar3 und waren in ihrem Aufbau stark reglementiert. Festgelegte Themenfelder waren unter anderem die Verbreitung des Glaubens, die Organisation der Missionen, die Bekehrung von Einheimischen, politische Ereignisse sowie finanzielle und administrative Angelegenheiten. Die Richtlinien für ihre Abfassung waren in der sogenannten "Formula scribendi" festgehalten.
Die Berichte aus sämtlichen Niederlassungen wurden zunächst auf Provinzebene gesammelt. Anschließend wurden sie entweder als eigenständige Dokumente zusammengestellt (wie z.B. Cod. 12167), noch einmal einheitlich abgeschrieben (wie z.B. Cod. 12031) oder aber überarbeitet und zu einem thematisch organisierten Bericht für die gesamte Provinz umgeformt (wie z.B. Cod. 12061).4 Der Provinzial erstellte mehrere Kopien, die dann auf verschiedene Gebiete der Provinz verteilt und dort von Niederlassung zu Niederlassung weitergereicht wurden. Die genaue Reiseroute, die die Berichte dabei nahmen, ist oftmals auf dem Titelblatt der Handschrift vermerkt (Abb. 3 und 4).
Die Berichte wurden zu den Mahlzeiten vorgelesen, wobei die einzelnen Niederlassungen während dieser Tour nochmals die Möglichkeit hatten, Fehler oder Missverständnisse zu korrigieren. Am Ende mussten die Berichte an den Provinzial zurückgesandt werden. Eine korrigierte Kopie ging nach Rom, wo für die weitere Verbreitung gesorgt wurde. Gemäß den Vorschriften der "Formula scribendi" wurden die Berichte von Rom an alle Provinzen weitergeleitet, mit dem Ziel, den gesamten Orden über die Aktivitäten aller Mitglieder zu informieren.
Für die österreichische Provinz liegt die lückenlose Reihe der “Litterae annuae provinciae Austriae” über eineinhalb Jahrhunderte (1616–1770) vor. Zusätzlich befinden sich in Wien die “Litterae annuae” der böhmischen Provinz von 1636 bis 1766 als Konvolute der unkorrigierten Einzelberichte der verschiedenen Niederlassungen, wodurch sie von noch höherer historischer Bedeutung sind. Einige Bände dokumentieren auch die Frühgeschichte der polnischen Provinz.
Lange Zeit wurde der historische Quellenwert der “Litterae annuae” kritisch beurteilt. Sie galten gar als Propaganda. Die jüngere Forschung hat die Berichte jedoch neu bewertet und festgestellt, dass sie trotz ihrer durchwegs parteiischen Darstellungsweise in der Regel sachlich korrekt sind. Denn der Orden sorgte in einem komplizierten Zensur- und Bearbeitungsverfahren dafür, dass die Texte von jedem Verdacht der Fiktion und Übertreibung befreit wurden.5
Andere Dokumente geben einen noch detaillierteren Einblick in den Alltag der Niederlassungen. An erster Stelle steht hier der “Catalogus personarum”, eine Art Personalverzeichnis aller Ordensniederlassungen. Der Katalog des Wiener Jesuitenkollegs von 1739 (Cod. 12244) besteht aus einer Liste der Priester, einer Liste der Scholastiker und einer Liste von etwa 400 Hilfskräften (coadiutores temporales, Abb. 5). Letztere waren Laien, die fast alle Funktionen ausüben konnten, die nicht zum Priesteramt gehörten. Die meisten verrichteten häusliche oder handwerkliche Dienste oder waren künstlerisch tätig – genannt werden z.B. ein Papiermacher (chartarius), ein Wagner (rotarius) und ein Färber (tinctor), aber auch ein Maler (pictor) und ein Bildhauer (statuarius) sowie mehrere Apotheker (apothecarius). Die beeindruckende Anzahl an Hilfskräften, aber auch die Vielfalt der Berufe (über 25 verschiedene) zeigt die Größe des Kollegs und seine Selbstständigkeit.
Über die Leitungsstrukturen des Ordens in den Provinzen geben die “Informationes ad gubernandum” Auskunft. In diesen wurden Mitglieder beurteilt, die eine leitende Funktion ausübten oder für eine solche qualifiziert wären. Unter anderem wurde geprüft, ob Alkoholprobleme bekannt waren. Ein Informant berichtete etwa, dass ein gewisser Stanislaus Trzebicki, Rektor des Kollegs in Sandomierz, nicht immer umsichtig genug beim Trinken wäre (Cod. 12360, Abb. 6).
Einen noch unmittelbareren Einblick in das damalige Alltagsleben geben die detaillierten Rechnungsbücher der Jesuitenbrüder, die nur für die interne Verwaltung bestimmt waren und somit dem Verdacht der parteiischen Beschönigung entzogen werden können. Ein herausragendes Beispiel ist das Ausgabebuch des Jesuitenkollegs in Uherské Hradiště aus dem dritten Viertel des 18. Jahrhunderts (Cod. 11947, Abb. 7), das z.B. den Gemüseeinkauf des Kollegs verzeichnet. Während der kalten Jahreszeit war die Auswahl begrenzt und man griff hauptsächlich auf Nahrungsmittel wie Kresse, Karfiol, Petersilie, Äpfel, Kastanien, Kümmel und Pilze zurück. Erst mit dem Einsetzen des Frühlings und des wärmeren Wetters änderte sich das Angebot. Ab April gab es Kopfsalat, Rüben, ab Mai Spargel und Gurken, sowie Kirschen, Erdbeeren und Artischocken im Juni. Diese Aufzeichnungen werfen ein Licht auf die, verglichen mit heute, limitierte Verfügbarkeit von Lebensmitteln in einer vergangenen Ära und die damit erzwungenermaßen saisonalen Ernährungsgewohnheiten.
Neben Ordensinterna nahmen die Dokumente aber auch bedeutende zeitgenössische Ereignisse auf, an denen die Jesuiten beteiligt waren – natürlich immer aus der Sicht des Ordens. Ein herausragendes Beispiel ist der Bericht von 1683, der auch die Ereignisse während der Belagerung Wiens durch die Osmanen schildert (Cod. 12080, S. 131–196). Der Text erzählt von der seelsorglichen Betreuung der Kranken und Verwundeten durch die Jesuiten und von den hunderten Menschen, die in den Gebäuden des Ordens Zuflucht fanden.
Gleichzeitig waren die Jesuiten jedoch Teilen der Bevölkerung verhasst und wurden beschuldigt, durch ihre gegenreformatorischen Maßnahmen für das Unheil – die Belagerung – mitverantwortlich zu sein. Die aufgeheizte Stimmung zeigte sich besonders deutlich, als die etwa 60 Novizen und ihre Lehrer aus der belagerten Stadt fliehen mussten. Die “Litterae annuae” schildern, wie diese zu einer riskanten und heimlichen Flucht aufbrachen. Ihr Weg führte sie durch den Wienerwald bei Klosterneuburg und weiter nach Tullnerfeld. In jedem Dorf wurden sie mit Vorwürfen, Verleumdungen und Spot konfrontiert. Bedauerlicherweise wurde der Zorn der ländlichen Bevölkerung nicht nur verbal zum Ausdruck gebracht. Am Baumgarten griffen sie die Novizen mit Steinen an und verletzten dabei einen Jungen schwer am Kopf. Um neuerliche Konfrontationen zu vermeiden und die Landbevölkerung nicht zusätzlich zu provozieren, wählten sie für die weitere Strecke nach Tulln einen Umweg über die Felder.
Dies ist nur ein, wenn auch drastisches, Beispiel, das den Wert der Sammlung für die historische Forschung vor Augen führt. Ab Ende August 2024 werden die 485 Bände mit mehr als 127.000 Blättern vollständig und mit normierten Orts- und Organisationsbezeichnungen digital zur Verfügung stehen.
Über die Autorin: Ivana Dobcheva MA ist wissenschaftliche Projektmitarbeiterin in der Sammlung von Handschriften und alten Drucken.
1 Eine wertvolle Quelle für die Jesuiten ist das "Jesuit Glossary" von Wiktor Gramatowski SJ, das in einer englischen Version von Camilla Russell abrufbar ist arsi.jesuits.global/wp-content/uploads/2022/07/glossary.pdf (abgerufen am 06.05.2024). Dieses Glossar bietet einen verständlichen und zugänglichen Überblick über die wichtigsten Begriffe und Konzepte, die mit den Jesuiten und ihrer Gesellschaft verbunden sind.
2 Teil von „Geschichte in Bild und Text. Digitalisierung, Erschließung und Vermittlung von zwei herausragenden Sammlungen der Österreichische Nationalbibliothek (2023-2024)“; Förderung durch „Kulturerbe digital“ des Bundesministeriums für Kunst, Kultur, öffentlicher Dienst und Sport, Sektion für Kunst und Kultur.
3 Jörg Zech: „Die Litterae Annuae der Jesuiten. Berichterstattung und Geschichtsschreibung in der alten Gesellschaft Jesu“. In: Archivum Historicum Societatis. Iesu 153 (2008), S. 41–61; Gernot Heiß: „Die ‚Litterae Annuae‘ und die ‚Historiae‘ der Jesuiten“. In: Josef Pauser, Martin Scheutz, Thomas Winkelbauer (Hg.): Quellenkunde der Habsburgermonarchie (16.–18. Jahrhundert). Ein exemplarisches Handbuch. Wien: Böhlau 2004, S. 663–674; Annick Delfosse: „La correspondance jésuite: communication, union et mémoire. Les enjeux de la Formula scribendi“. In: Revue d’histoire ecclésiastique (2009), S. 71–114; Annick Delfosse: „Les Litterae annuae de la Compagnie de Jésus entre compte rendu factuel et construction identitaire : l’exemple de Bruxelles“. In: Xavier Rousseaux (Hg.): Quatre siècles de présence jésuite à Bruxelles. Bruxelles: Le Cri/Kadoc 2012; Markus Friedrich: „Circulating and Compiling the Litterae Annuae. Towards a History of the Jesuit System of Communication“. In: Archivum Historicum Societatis Iesu 77 (2008), H. 153.
4 Für eine detaillierte Analyse dieser drei Methoden, die auch in den gedruckten Litterae annuae zu erkennen sind, siehe Friedrich: „Circulating and Compiling the Litterae Annuae. Towards a History of the Jesuit System of Communication“, S. 24–29.
5 Markus Friedrich: „Jesuiten und Lutheraner im frühneuzeitlichen Hamburg. Katholische Seelsorge im Norden des Reichs zwischen Konversionen, Konfessionskonflikten und interkonfessionellen Kontakten“. In: Zeitschrift für Hamburgische Geschichte 104 (2018), S. 1–78, hier S. 3, Anm. 4.
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