Beim besonderen Objekt aus dem Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek handelt es sich um eine Bilder-Geschichte, die die Schriftstellerin Friederike Mayröcker ihrem Lebensgefährten Ernst Jandl widmete.
Autorinnen: Arnhilt Inguglia-Höfle, Susanne Rettenwander
Beim besonderen Objekt aus dem Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (LIT) handelt es sich um eine Bilder-Geschichte, die die Schriftstellerin Friederike Mayröcker ihrem Lebensgefährten Ernst Jandl widmete. Im folgenden Beitrag werden zunächst Leben, Werk und Nachlass Mayröckers beleuchtet, um darauf aufbauend genauer auf das „schreibende Paar“ und die Zeichnungen einzugehen.
Friederike Mayröcker wurde am 20. Dezember 1924 in Wien als Einzelkind der Modistin Friederike (geb. Pecavar) und des Lehrers Franz Xaver Mayröcker geboren (vgl. du 1995). Einigen Selbstdarstellungen zufolge, die in ihrem Werk verstreut zu finden sind, gehen ihre ersten lyrischen Schreibversuche auf das Jahr 1939 zurück. In ihrem Prosatext „ich saß dann da und starrte auf dieses Bild, die Erinnerung“ findet sich beispielsweise folgender Rückblick auf die Kriegsjahre:
Ich wanderte dann umher und im Hinterhof eines Abbruchhauses sah ich einen kahlen Strauch der plötzlich zu brennen begonnen hatte, es war ein Pfingsttag. Ich wanderte dann umher und kauerte nieder und schrieb im Anblick des brennenden Busches mein erstes Gedicht.
(Mayröcker 1983a: 61)
Die durch den Zweiten Weltkrieg isolierte 15-Jährige widmete sich der exzessiven Lektüre von Büchern, die bald zum Lebensinhalt wurden. So bekennt sie in ihrer Erzählung „Reise durch die Nacht“ (1984): „[…] existenzbedrohende Vorstellung […] nicht genügend Bücher zur Verfügung zu haben.“ Ihr eigenes Schreiben entwickelte sich aus der aktiven Lesepraxis und begann, als „alle diese Lieblingsbücher […] zu Ende gelesen und zu Ende exzerpiert“ waren (Mayröcker 1986: 67)
Während sie ab 1946 als Englischlehrerin an verschiedenen Wiener Mittelschulen arbeitete und 1950 ihre Matura nachholte, schrieb sie schon täglich Gedichte. Einige ihrer frühesten Texte, zum Beispiel „an meinem Morgenfenster“ (1946) oder „Vision eines Kindes“ (1947), veröffentlichte sie in der von Otto Basil herausgegebenen avantgardistischen Zeitschrift „PLAN“, die vor allem jungen LyrikerInnen eine Plattform bot. Als sie 1954 auf der „5. Österreichischen Jugendkulturwoche Innsbruck“ auf ihren späteren Lebensgefährten, den damals noch unbekannten Ernst Jandl traf, konnte sie bereits auf eine Vielzahl an Veröffentlichungen in unterschiedlichen Zeitschriften, Anthologien und Zeitungen zurückblicken (vgl. Beyer 1992: 167). Unter den jungen, ausschließlich männlichen Avantgardisten der Wiener Gruppe galt Friederike Mayröcker als Geheimtipp. „Gut wie Mayröcker“ wurde unter ihnen zum geflügelten Wort und attestierte höchste literarische Ausdruckskraft (zit. n. Siblewski 2000: 75).
Kurz nach ihrem Treffen in Innsbruck gingen Mayröcker und Ernst Jandl eine fast fünf Jahrzehnte anhaltende partnerschaftliche und insbesondere künstlerische Lebensgemeinschaft ein, die mit Jandls Tod im Jahr 2000 endete. Da diese ganz dem Schreiben untergeordnet war, folgte sie einer disziplinierten Routine. Beide gingen vormittags ihrem Brotberuf als LehrerInnen nach und widmeten die Nachmittage getrennt voneinander dem Schreiben. An den Abenden besuchten sie sich gegenseitig in den jeweiligen Wohnungen im fünften bzw. zweiten Wiener Gemeindebezirk. Aufgebrochen wurde die Routine in den Sommermonaten. Diese verbrachten sie gemeinsam u. a. in einem angemieteten alten Haus im steiermärkischen Rohrmoos-Untertal. Wie idyllisch Mayröcker diese Zeit mit dem Gefährten empfand, zeigt exemplarisch ein Vers ihres Gedichts „Alpensprache Rohrmoos“ (2003):
damals im Gebirge August waren die Abende kühl aber
unsere Seelen brannten zählten nachts die Sterne […]
(Mayröcker 2004: 777).
Während Ernst Jandl zum international gefeierten Dichter avancierte, dessen experimentelle Poesie mit ihrer multimedialen Performance vollendet wurde (vgl. Siblewski 2000: 127-159), fand die zurückgezogene Mayröcker ihren eigenen charakteristischen Schreibstil zwischen traditioneller und experimenteller Literatur. Nach der Veröffentlichung ihrer ersten Gedichte folgten in den kommenden Jahrzehnten eine Vielzahl an Gedichtbänden, von ihrem Debüt „Larifari. Ein konfuses Buch“ (1956) zu „Tod durch Musen“ (1966), „Notizen auf einem Kamel“ (1996) und „dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif“ (2009). Mit „Das Licht in der Landschaft“ legte sie 1975 ihren ersten Prosaband im Suhrkamp Verlag vor, der sie schließlich als Stammautorin aufnahm.
Nach ihrer dauerhaften Karenzierung 1969, legte sie ihren Lehrberuf endgültig nieder und bezog ab 1977 eine bescheidene Frühpension. Mit verschiedensten Auftragsarbeiten für den Rundfunk, u. a. Hörspielen, sicherte sie ihr Einkommen zusätzlich ab. In den 1980er Jahren erfolgte ihr literarischer Durchbruch mit ihren Prosawerken „Die Abschiede“ (1980), „Reise durch die Nacht“ (1984) und „Das Herzzerreißende der Dinge“ (1985) (vgl. Beyer 1992:43-46).
Wechselte sie zunächst noch strikt zwischen Lyrik und Prosa, drang sie in ihrem späteren Werk zunehmend an die Grenzen der literarischen Gattungen vor und löste diese zu Gunsten eines unverwechselbaren persönlichen Schreibstils auf. In ihrer späten Trilogie „études“ (2013), „cahier“ (2014) und „fleurs“ (2016) spricht Mayröcker nur noch von poetischen „Fetzchen“ und „Splitter“ (Mayröcker 2013), in ihrem Buch „da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“ (2020) von „Proemen“, einem Zwischending aus Lyrik und Prosa (Mayröcker 2020).
Bis zu ihrem Lebensende – Mayröcker verstarb am 4. Juni 2021 an Altersschwäche in Wien – schrieb sie über hundert Werke, die nicht nur unterschiedlichsten Genres (von Hörspielen und Libretti bis zu illustrierten Kinderbüchern) zugeordnet werden können, sondern in denen sie sich kontinuierlich stilistisch weiterentwickelte und ihr Leben und Schreiben reflektierte.
„friederike mayröcker, von so vornehmen geistern wie bach und hölderlin angeführt, hat in ihrer kunst eine glorreiche höhe erklommen“ (zit. n. Siblewski 2000: 87).
Diese Einschätzung Ernst Jandls bestätigt sich nicht zuletzt durch die Tatsache, dass Friederike Mayröcker alle wichtigen Literaturpreise und -auszeichnungen des deutschsprachigen Raums zuerkannt bekam, zum Beispiel den Österreichischen Kunstpreis für Literatur (1973), den Preis der Stadt Wien für Literatur (1975), den Großen Literaturpreis der Bayrischen Akademie der Bildenden Künste (1996), den Georg Büchner-Preis (2001), den Österreichischen Buchpreis (2016) etc.
„Ja es schaut aus wie ein Chaos, aber es ist kein Chaos. Zu einem Chaos wird das Ganze erst dann, wenn jemand anderer daran rührt“ (zit. n. Kastberger 2014: 518), sagt Friederike
Mayröcker im Dokumentarfilm „Das Schreiben und das Schweigen“ (2009) in Bezug auf ihre zwei Wohnungen in der Zentagasse, die Lebensmittelpunkt, Schreib-Werkstatt und Archiv zugleich waren. Wie wichtig ihr die Vorbeugung von äußeren Einflussnahmen war, zeigte sich nicht zuletzt an sichtbar angebrachten Anweisungen, anhand derer sie Außenstehende durch ihr Zetteluniversum navigierte. Zwischen Bergen an Papier, mit Wäscheklammern befestigten Gedicht-Girlanden, Büchern, Plakaten, Broschüren und Einladungen traten Hinweistafeln mit Aufschriften wie „hier alles tabu“ oder „bitte nicht betreten“ hervor.
Friederike Mayröcker unterstellte das Leben vollkommen dem Schreiben. Als Lebensmittelpunkt wurden die Wohnungen also zu Schreib-Wohn-Werkstätten, in der ihre Texte – zunächst auf kleinen Zetteln notiert, später mit der geliebten Schreibmaschine „Hermes Baby“ in Reinschrift geschrieben – entstanden und gewissermaßen auch wieder vergingen. Die an einem Tag aktuellen Zettel setzten sich am nächsten Tag schon wieder ab, wurden verdeckt durch Alltagsspuren wie Theaterkarten, Einladungen, Zeitungen, Teebeutel und Bonbon-Papierchen. Sie verschwanden allmählich als Schichten einer vergangenen Zeit.
Die staubigen Papierberge waren Bestandteile eines über Jahrzehnte angewachsenen Privatarchivs, in dem sich Leben und Schreiben vermengte. Mit der zunehmenden Bekanntheit der Schriftstellerin gerieten auch die Wohnungen ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Unterschiedlichste Zeitschriften (vgl. Kastberger 2014: 518) porträtierten die Schriftstellerin inmitten ihres Refugiums. Friederike Mayröcker konnte als Person und Autorin kaum mehr von ihren Wohnungen getrennt werden, letztendlich wurden diese selbst zum charakteristischen Kunstwerk.
Mit dem Ankauf des gewaltigen Vorlasses, der zwei Jahre später zum Nachlass wurde, durch die Österreichische Nationalbibliothek im Jahr 2019 lag es nun am Team des Literaturarchivs, in das Zetteluniversum einzudringen und „Chaos“ zu verursachen. Innerhalb von zwei Jahren, von 2019 bis 2021, wurde Zettel für Zettel abgetragen, behutsam gereinigt, in Seidenpapier eingewickelt und in Umzugskisten verpackt. Archäologisch ging man vor, insofern Schicht für Schicht die vergangenen Lebens- und Schreibspuren ans Licht brachte. Hunderte Umzugskisten wurden in Tranchen in das Literaturarchiv gebracht, wo sie nun ausgepackt und die Materialien systematisch geordnet, sukzessive bereitgestellt und erforscht werden.
Mayröckers Nachlass gilt in seiner materialen und inhaltlichen Beschaffenheit als ein einzigartiges Phänomen im deutschsprachigen Literaturraum und kann für die Erforschung der zeitgenössischen Literatur, der literarischen Institutionen und der AutorInnen-Netzwerke kaum überschätzt werden. Der Bestand Mayröcker ergänzt zudem den umfangreichen Nachlass Ernst Jandls im Literaturarchiv und reichert diesen mit der zweiten, anderen Perspektive des berühmten schreibenden Paares an.
Die biographischen und literarischen Verstrebungen zwischen den AutorInnen Friederike Mayröcker und Ernst Jandl sind intensiv und mannigfaltig. Im Gegensatz zu den idyllischen Sommermonaten in Rohrmoos teilten die beiden ihre Wohnungen im Wiener Alltag nicht. Nach einem kurzen Experiment Ende 1956 lebten sie über Jahrzehnte getrennt, wozu sich Mayröcker 1978 folgendermaßen äußerte:
Es war gut so, dass wir nicht in eine gemeinsame Wohnung gezogen sind. Wir leben in einer Beziehung wie im Walde. Ich stelle mir das mit Bäumen vor. Man braucht Luft um sich herum wie die Bäume. […] Wir sind ja beieinander, aber wir haben das Geheimnis bewahrt: Keiner hat die Einsamkeit des andern angetastet.
(zit. n. Schafroth 1995: 56)
Auch unmittelbare Gemeinschaftsarbeiten beschränkten sich auf eine überschaubare Phase (vgl. Schmidt 1990). Zwischen 1967 und 1971 entstanden vier Hörspiele: „Fünf Mann Menschen“ (SWF 1968), „Der Gigant“ (WDR 1969), „Spaltungen“ (WDR 1970) und „Gemeinsame Kindheit“ (WDR 1971). Mit Heinz von Cramer drehten sie den Fernsehfilm „TRAUBE“ (WDR 1972). Für „Fünf Mann Menschen“ wurden Mayröcker und Jandl mit dem hoch angesehenen Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet. Dennoch war ihnen von Anfang an klar, dass die Zusammenarbeit nur von kurzer Dauer bzw. sporadisch sein würde: „nur inselartig, in größeren Abständen, als erfrischendes Zwischenspiel“, so Mayröcker in der Ansprache anlässlich der Verleihung des Hörspielpreises (Mayröcker/Jandl 1969: 281-282)
Am Literaturarchiv befinden sich Materialien, die Einblicke in die Entstehungsbedingungen der gemeinsamen Hörspiele erlauben, wie auch weitere, teilweise unveröffentlichte Gemeinschaftsarbeiten, darunter zum Beispiel die Montage „guten abend“ von 1957 (Sign.: 139/W382). In der Dauerausstellung des Literaturmuseums der Österreichischen Nationalbibliothek ist eine Auswahl dieser Materialien zu sehen.
Spätestens mit dem großen Erfolg der Hörspiele wurden Mayröcker und Jandl in der Literaturszene als „schreibendes Paar“ wahrgenommen. In der „zuweilen gewünschten Koppelung dieser beiden höchst unterschiedlich arbeitenden Autoren, die auch kaum ein gemeinsames Publikum haben“, sahen sie selbst jedoch, so Jandl 1992, „seit vielen Jahren nur einen Nachteil“ (zit. n. Bachmann 1995: 17). Eine klare Differenzierung ihrer literarischen Positionen war ihnen überaus wichtig. Mayröcker dazu:
[…] unsere Übereinstimmungen im Fühlen und Denken scheint vollkommen, aber auch unser Auseinanderdenken in manchen Bereichen, er FÜR, ich GEGEN die Trivialkünste, ich GEGEN, er FÜR die puristischen Formen der Konkreten Poesie, er FÜR, ich GEGEN den Free Jazz etc., also alles Verstehen zugleich ein Nichtverstehen […]
(Mayröcker 1985: 139)
Nach Reisen in die USA (1972), Frankreich (1981) und Italien (1982) vermieden sie später gemeinsame Vortrags- und Lesereisen. Sie lehnten Einladungen, Darstellungen und Porträts im Doppelpack zumeist ab. Die Faszination, die von ihnen als schreibendes Paar ausgeht, hat indes nicht nachgelassen. Dabei scheint insbesondere die biographisch-persönliche Komponente zu interessieren (vgl. z. B. du 1995, Marko 1995). Die verschiedenartigen poetologischen Konzepte – Jandls teils mechanistische Sprachexperimente, Mayröckers unkonventionelle, assoziative Lyrik und Prosa – sind mittlerweile gut erschlossen. Die neuere Forschung hat den Blick auf das SchriftstellerInnenpaar überdies vom rein Biographischen und Anekdotischen auf literaturwissenschaftliche Analysen erweitert (vgl. z. B. Kastberger 2005, Burdorf 2005, Schilling 2015).
Der Prozess der gegenseitigen Beeinflussung und Abgrenzung hat im Schreiben von Mayröcker und Jandl vielfältige Spuren hinterlassen. So unterschiedlich ihre Stile auch sind, so allgegenwärtig sind sie einander in Form von Bezügen und Widmungen. In zahlreichen Gedichten thematisieren sie sich gegenseitig, ihre Beziehung und Schreibarbeit. Jandls Sprechoper „Aus der Fremde“ (1979), die von einem AutorInnenpaar handelt, ist zweifelsohne autobiographisch inspiriert (vgl. Kastberger 2005, Schmitz-Emans 2005). Mayröcker nahm Jahre später in ihrer Prosa „Reise durch die Nacht“ bzw. dem daraus entstandenen Konversationsstück „Nada. Nichts“ (1991) Bezug darauf. In ihren Werken tritt Jandl überhaupt in vielen verschiedenen Ausformungen als Figur und Angesprochener auf, bis über seinen Tod hinaus (z. B. „Requiem für Ernst Jandl“, „Die kommunizierenden Gefäße“, „Mein Arbeitstirol“).
Jandl, der seine Gedichte im Vergleich seltener mit Widmungen versah, widmete Mayröcker die meisten. Umgekehrt liegt eine extrem hohe Zahl an Texten vor, die Mayröcker an ihren „Hand- und Herzgefährten“ Jandl richtete. Die Zeichnung „FÜR ERNST“ ist ein besonders schönes Beispiel dafür.
Beim „besonderen Objekt“ aus dem Literaturarchiv handelt es sich um ein Blatt aus dem Nachlass Ernst Jandls (Sign.: 139/S569/5). Mit dem Titel „FÜR ERNST am 21.4.70“ schuf Mayröcker eine liebevolle Alltagspoesie. Sie wählte dafür gemäß den vorangestellten Zeilen – „Hände weg vom BUCH… (etc) (oder zurück zum Bilder-Buch)“ – das graphische Erzählen. Sie bediente sich an Stilmitteln, die für Comics typisch sind, wie Sprechblasen oder die sogenannten Panels, also Einzelbilder, die die Seitenarchitektur strukturieren.
In „FÜR ERNST“ beschreibt sie den Ablauf eines Tages ohne den Lebensgefährten. Ernst Jandl befand sich gerade in München. Die Erzählung besteht aus vier Reihen und einer Sequenz von insgesamt zehn nummerierten Panels, die „Dem Zug der Zeit" folgen, wie sie oben auf der Seite ankündigt.
Chronologisch erfahren wir, wie sie am Dienstag, den 21. April 1970, morgens um halb acht aufsteht. Als sie das Telefon klingeln hört, fragt sie sich, ob es Ernst Jandl („E?“) sein könnte. Hier wird bereits deutlich, dass die Verwendung des roten Stifts, der die strikte monochromatische Farbgebung durchbricht, insbesondere Ton und Geräuschen vorbehalten ist. Es folgt ein Gang im Regen in die Schule, wo ein „Gesuch“ abgegeben wird. Sie fährt anschließend um halb elf mit dem Taxi in die Untere Augartenstraße 1-3, Jandls Anschrift. Im Selbstporträt in Panel 5 stellt die Protagonistin achselzuckend fest, „no (essential) mail“, keine wichtige Post.
Um halb zwölf fährt sie mit dem Taxi in die Mariahilferstraße weiter, um sich mit einem „Levi“-Oberteil auszustatten, das zur Schnürlsamt „Levi“-Hose passt. Das Kleidungsstück ist, wie der beigefügte Text in Klammern erläutert, für die „Film-Aufnahmen“ an der Ostsee im September des Jahres vorgesehen.
Um 13 Uhr isst sie zu Mittag, zwischen 14 und 17 Uhr führt sie „Dauer-Telefonate“. Eine nicht vollständige Liste der GesprächspartnerInnen mit Stichworten bringt ihr Ohr zum Glühen; der Ton ist wiederum rot eingezeichnet. Auffällig ist, dass das Telefon- wie auch das Einkaufspanel jeweils viel Zeit, viel Text und dementsprechend mehr Platz in der Reihe beanspruchen, sodass sie das regelmäßige Erzähltempo der oberen Hälfte (je drei Panels pro Zeile) durchbrechen. Es ist nur mehr Platz für zwei Panels nebeneinander. Die graphische Kurzgeschichte endet mit dem selbstreferentiellen Liebesbriefchen und „tausend Bussi“.
Das „besondere Objekt“ ist nur eines von vielen Werken Mayröckers, bei denen sie bewusst mit der speziellen Vielschichtigkeit des graphischen Erzählens und dem Spannungsverhältnis von Bild und Text arbeitet. Am bekanntesten sind sicherlich die kleinen Zeichnungen, die in einigen ihrer Bücher in den Text eingeflochten sind (vgl. z. B. „Die kommunizierenden Gefäße“, „cahier“, „fleurs“, „études“).
In den Beständen des Literaturarchivs befinden sich zudem unbekanntere und auch unveröffentlichte Zeichnungen und ganze Zyklen, wie der „ABC-thriller“ und die „KINDER Ka-LAENDER“ (Sign.: 139/S553). Viele Werke sind wiederum Ernst Jandl gewidmet. So zum Beispiel die „16 Schutzgeister für E“ (Sign.: 139/S569/5) von 1967, eine Serie an A4-Blättern mit je zwei engelartigen Gestalten, die ihn vor der „Unsicherheit des Daseins“, der „Angst vor Dunkelheit“, vor „Hunger, Durst, Mangel an Zigaretten“, „Gliederschmerz, Ohrensausen und Alleinsein“ oder vor der „Tücke des Objekts“ schützen sollen.
In ihrem kurzen und vielzitierten programmatischen Statement „zu meinen Zeichnungen“ von 1983 bezeichnete Mayröcker ihre Zeichnungen als „Kritzeleien ohne jeglichen Formenreichtum“, die wohl etwas von ihrem „(altgewordenen) Kindsein“ offenbaren. Es handle sich um Spontangedichte mit Bleistift oder Filzstift, deren Thematik eingeschränkt sei auf „Alltagskummer, Einsamkeitsgefühle, Identifikation mit Tieren, besonders Katzen und Hunden“ (Mayröcker 1983b: 216).
Tatsächlich zeigen sich Ästhetik, Entstehungsweise und Thematik der Zeichnungen über die Jahrzehnte erstaunlich konstant. Typisch ist die Verknappung der Bildsprache: in Strichmännchen-Optik werden Körperformen nur schematisch wiedergegeben oder auf Silhouetten reduziert, Gesichtszüge werden meist nur mit wenigen Linien und Punkten angedeutet.
Mayröcker selbst sah sich nie als bildende Künstlerin. Das Verhältnis ihrer Zeichnungen zu ihren Texten charakterisierte sie folgendermaßen:
meine Zeichnungen und Bildgedichte entstehen am Rande meiner Schreibarbeit, sie sind für mich unerhebliche Randbemerkungen, die meist nach oder während längerer oder schwieriger Hauptarbeiten zur eigenen Überraschung und Freude erscheinen, sie sind vielleicht etwas wie Ausruhen, Atemholen. […] Insgesamt sind meine Zeichnungen Spiele, die ich mit mir selber spiele, und genau das Gegenteil von meinen Texten.
(Mayröcker 1983b: 216)
Es ist unter anderem genau dieser Selbsteinschätzung geschuldet, dass Mayröckers eigene Zeichnungen bisher wenig literaturwissenschaftliche Aufmerksamkeit erhalten haben und wenn, dann nur am Rande behandelt worden sind. Im Gegensatz dazu ist ihre zeitlebens sehr intensiv ausgeübte poetische Beschäftigung mit der Bildenden Kunst ausführlicher erfasst (vgl. den Überblick in Raß 2014: 433-453). 2010 wurde Mayröcker zum Ehrenmitglied der Akademie der bildenden Künste Wien ernannt. In der Laudatio wurde ihr „kunstförmiges Schreiben über Kunst“ besonders hervorgehoben (zit. n. Akademie 2021). Zu den zahlreichen Gemeinschaftsarbeiten mit KünstlerInnen zählen u. a. erfolgreiche Kinderbücher mit der Illustratorin Angelika Kaufmann.
In der Kunstwelt wurden Mayröckers Zeichnungen hingegen durchaus wahrgenommen und ausgestellt. Zuletzt war mit dem Titel „Schutzgeister“ eine im Herbst 2020 vom bekannten Kurator Hans Ulrich Obrist gestaltete Schau in der Galerie nächst St. Stephan in Wien ihren Zeichnungen gewidmet. Wie Obrist in Interviews berichtete, war es Mayröcker aber nach wie vor wichtig, dass ihre Arbeiten nicht eigenständig als Kunst, sondern als „Zeichnungen einer Schriftstellerin“ als Teil ihres Gesamtwerkes präsentiert würden (vgl. Aigner 2020, Scheyerer 2020). Obrist fügte daher einen Büchertisch, ihre Hörspiele und einen Dokumentarfilm zentral in die Struktur der Ausstellung ein. Eine 2021 in Manchester ausgerichtete Ausstellung internationaler KünstlerInnen, in der auch Zeichnungen Mayröckers gezeigt wurden, spielte auf diese Doppelrolle von Dichter*in und Künstler*in bereits im Titel an: „Poet Slash Artist“.
Auffällig ist die Differenz von Selbstaussage und tatsächlicher Gestaltung der Zeichnungen, auf die beispielsweise Michaela Nicole Raß aufmerksam macht (Raß 2014: 61-72). Mayröckers Zeichnungen sollten, so Raß, nicht ausschließlich als Prä- oder Subtexte des Mayröcker’schen Werks begriffen werden. Als polyvalente Konstrukte kombinieren sie zwei unterschiedliche Zeichensysteme und Verweisstrukturen, die in direktem Bezug zu den zentralen Motiven, Metaphern und Thematiken ihrer Texte stehen. Auch wenn die Autorin selbst die spielerische und spontane Entstehung der Zeichnungen im Affekt – im Gegensatz zu den immer und immer wieder überarbeiteten Texten – suggeriert, sind sie mit ihrer strengen Formelhaftigkeit, kompromisslosen Subjektivität und Komplexität ebenso Teil ihres poetologischen Konzepts.
Dass Werke, wie „FÜR ERNST“, mehr als nur unerhebliche Nebenprodukte des Schreibens sind, brachte die Philosophin Elisabeth von Samsonow in ihrem Nachruf auf Friederike Mayröcker auf den Punkt:
Diese kürzelartigen, mit der Spracharbeit innigst verschränkten Zeichnungen heben die Text-Bild-Dichotomie aus den Angeln, indem inmitten, oder dazwischen, zwischen Bild und Text, ein Quell des poetischen Sinns entspringt.
(zit. n. Akademie 2021)
Über die Autorinnen: Dr. Arnhilt Inguglia-Höfle ist Stellvertretende Leiterin des Literaturarchivs und des Literaturmuseums der Österreichischen Nationalbibliothek. Susanne Rettenwander BA BA MA ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek.
Aigner 2020 = Silvie Aigner (2020): Interview mit Hans Ulrich Obrist. Friederike Mayröcker. Schutzgeister, [online] https://www.parnass.at/news/interview-mit-hans-ulrich-obrist-friederike-mayroecker-schutzgeister [29.3.2022].
Akademie 2021 = Akademie der Bildenden Künste Wien (2021): Die Akademie trauert um ihr Ehrenmitglied Friederike Mayröcker (1924-2021), [online] https://www.akbild.ac.at/Portal/universitaet/news/2021/ehrenmitglied-der-akademie-friederike-mayroecker-96-jaehrig-verstorben [29.3.2022].
Bachmann 1995 = Dieter Bachmann (1995): Was ist, in: du, Nr. 5/1995 (Friederike Mayröcker Ernst Jandl. An den Rändern der Sprache), S. 15-17.
Beyer 1992 = Marcel Beyer (1992): Friederike Mayröcker. Eine Bibliographie 1946-1990, Frankfurt am Main u. a.: Lang.
Burdorf 2005 = Dieter Burdorf (Hrsg.) (2005): „An seiner Seite hätte ich sogar die Hölle ertragen“. Friederike Mayröcker und Ernst Jandl, Iserlohn: Institut für Kirche und Gesellschaft.
du 1995 = du. Die Zeitschrift der Kultur, Nr. 5/1995 (Friederike Mayröcker Ernst Jandl. An den Rändern der Sprache).
Kastberger 2005 = Klaus Kastberger (2005): Vom vom zum zum. Mayröcker bei Jandl und umgekehrt, in: Bernhard Fetz (Hrsg.), Ernst Jandl. Musik Rhythmus Radikale Dichtung (= Profile 12), Wien: Zsolnay, S. 158-179.
Kastberger 2014 = Klaus Kastberger (2014): Geheimnisse des Archivs. Friederike Mayröcker und ihre Wohnung, in: Études Germaniques 69 (2014), S. 517-526.
Marko 1995 = Gerda Marko (1995): Schreibende Paare. Liebe, Freundschaft, Konkurrenz, Zürich, Düsseldorf: Artemis und Winkler.
Mayröcker 1983a = Friederike Mayröcker (1983): Ich saß dann da und starrte auf dieses Bild, die Erinnerung, in: Dies. (2001), Magische Blätter I-V, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 58-61.
Mayröcker 1983b = Friederike Mayröcker (1983): zu meinen Zeichnungen, in: Dies. (2001): Magische Blätter I-V, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 216.
Mayröcker 1985 = Friederike Mayröcker (1985): Ernst Jandl und seine Götterpflicht, in: Dies. (2001), Magische Blätter I-V, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 136-139.
Mayröcker 1986 = Friederike Mayröcker (1986): Reise durch die Nacht, Berlin: Volk und Welt.
Mayröcker 2004 = Friederike Mayröcker (2004): Gesammelte Gedichte, herausgegeben von Marcel Beyer, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Mayröcker 2013 = Friederike Mayröcker (2013): études, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Mayröcker 2020 = Friederike Mayröcker (2020): da ich morgens und moosgrün ans fenster trete, Berlin: Suhrkamp.
Mayröcker/Jandl 1969 = Friederike Mayröcker und Ernst Jandl (1969): Ansprache anlässlich der Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden 1968, gehalten am 22. April 1969 in Bonn, in: protokolle, Nr. 2/1977, S. 278-282.
Profil 2003 = Friederike Mayröcker: Der Tod ist mein Feind, er ist ekelhaft, in: Profil, 25.10.2003, [online] https://www.profil.at/home/friederike-mayroecker-der-tod-feind-67669. [29.3.2022].
Raß 2014 = Michaela Raß (2014): Bilderlust – Sprachbild: Das Rendezvous der Künste. Friederike Mayröckers Kunst der Ekphrasis, Göttingen: V&R unipress.
Schafroth 1995 = Heinz F. Schafroth (1995): Paarweisheit, in: du, Nr. 5/1995 (Friederike Mayröcker Ernst Jandl. An den Rändern der Sprache), S. 52-57.
Scheyerer 2020 = Nicole Scheyerer (2020): „Wir müssen raus aus den Kunstsilos!“ Der Starkurator präsentiert beim Galerienfestival Curated by Zeichnungen der Dichterin Friederike Mayröcker. Ein Gespräch über Schutzgeister, Nachtzüge und einen neuen New Deal, in: Falter 37/20, [online] https://www.falter.at/zeitung/20200908/wir-muessen-raus-aus-den-kunstsilos [29.3.2022].
Schilling 2015 = Erik Schilling (2015): „ein gedicht von zweifellos einem von uns“. Friederike Mayröcker und Ernst Jandl, in: Ders.,. Dialog der Dichter. Poetische Beziehungen in der Lyrik des 20. Jahrhunderts, Bielefeld: transcript Verlag, S. 117-128.
Schmidt 1990 = Siegfried J. Schmidt (1990): Gemeinschaft(s)Arbeit: Ernst Jandl und Friederike Mayröcker, in: Klaus Siblewski (Hrsg.), Ernst Jandl. Texte, Daten, Bilder, Frankfurt am Main: Luchterhand, S. 143-152.
Schmitz-Emans 2005 = Monika Schmitz-Emans (2005): Aus der Fremde der Sprache. „er“ und „sie“ und die Poesie, in: Dieter Burdorf (Hrsg.), „An seiner Seite hätte ich sogar die Hölle ertragen“. Friederike Mayröcker und Ernst Jandl, Iserlohn: Institut für Kirche und Gesellschaft, S. 31–72.
Siblewski 2000 = Klaus Siblewski (2000): a komma punkt. Ernst Jandl. Ein Leben in Texten und Bildern. München: Luchterhand.
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