Das Leuchten der Blumen. Zur floralen Poetik in Friederike Mayröckers „fleurs“

Forschung

23.08.2024
Ausstellungen, Literatur
Zwei weiße Blümchen, ein braunes Blatt und eine rosa-orange Blüte, getrocknet und gepresst.

Blumen bilden seit jeher ein beliebtes poetisches Motiv, von besonderer Bedeutung sind sie im Spätwerk der Schriftstellerin Friederike Mayröcker.

Autorin: Katharina Manojlovic

das nächste Buch solle ‚fleurs‘ heiszen, sage ich zu Ely, (wo deine Augen Rosen sind, Jean Genet), ich meine seine Augen dasz sie Blumen waren, immer sah ich seine Augen dasz sie Blumen waren, graublaue Seidenblumen hier und dort in den Wiesen und Hecken.

Friederike Mayröckers Werk ist durchwoben von Pflanzenteilen, Blüten und Blumen. Schon im Frühwerk spielen Blumen tragende Rollen, etwa in einem in den Jahren 1958/59 entstandenen Zyklus von Dialektgedichten, der zehn Jahre später unter dem Titel „So a Babia Rosn“ in den „protokollen“ veröffentlicht wurde (und in den 2004 von Marcel Beyer herausgegebenen „Gesammelten Gedichten“ auf Wunsch der Autorin unberücksichtigt blieb; vgl. Beyer 2019, 781). Dieser floralen Poetik Mayröckers wurde von literaturwissenschaftlicher Seite erst relativ spät Aufmerksamkeit zuteil. Inzwischen gibt es mehrere Arbeiten, die sich vor dem Hintergrund eines wachsenden Interesses an Pflanzenforschung, Ecocriticism und Nature Writing Mayröckers „Blumensprache“ und den Naturelementen in ihrem Werk widmen (vgl. Lartillot 2015, 2020; Le Née 2020; Martinelli 2020; Thums 2018).

Abb. 1: Friederike Mayröcker: [dhimlschlisln]. Typoskript, 1958/59. ÖNB, Literaturarchiv

Davor fand die Rolle der Natur, „diese unverbrüchliche Treue zwischen Natur und Sprache“ (Mayröcker 2001), eher Beachtung durch Dichterkollegen wie Thomas Kling (1957–2005), der in seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises an Mayröcker festhielt, dass die „Konglomerate von Naturmetaphern auffällig für eine Großstädterin“ seien und diese Auffälligkeit auf ihre „Kindheits-Sommer“ im niederösterreichischen Deinzendorf zurückführte, wo die Familie einen Lehmvierkanthof (vgl. B 48) besaß und Mayröcker „früh ihren Blick [habe] schulen“ können (Kling 2001).

Abb. 2: Friederike Mayröcker in Deinzendorf, 1924. ÖNB, Literaturarchiv

Auch wenn die Blumenbilder in ihren Texten autobiografisch entschlüsseln zu wollen, hieße, Wesentliches zu unterschlagen, kann Deinzendorf, jenes sowohl im Werk als auch in Gesprächen von der Dichterin vielfach heraufbeschworene Kindheitsidyll, als eine Art Keimzelle aller später erdichteten Blumen verstanden werden:

Deinzendorf war eine hl.Hostie welche ich tagtäglich auf meine kl.Zunge, die Büsche rauschten im Morgenwind die Zweige der Kirschbäume blühten ins Fenster die Maulbeerbäume bluteten zu meinen Füszchen welche nackt usw. der Mond glänzte ins Kämmerchen ……..

Kaleidoskopisch gefasst wird Deinzendorf in dem Mayröckers Mutter gewidmeten (noch lieferbaren) Band „BLUMENWERK. ländliches Journal / Deinzendorf“ (1992), der eine Reihe bereits veröffentlichter Texte, darunter auch „Kindersommer“, versammelt.

Abb. 3: Friederike Mayröcker: „Kindersommer“. Typoskript, ohne Datum. ÖNB, Literaturarchiv

Im Eingangstext namens „PERMUTATION HAUS“ tastet sich das erinnernde Ich traumwandlerisch durch die Räume der Kindheit:

ich taste mich in der dämmerung durch den innenhof des hauses, und die beete sind tropfende malfarben grün, wie meine mutter mit alpenrosenwangen, alpenveilchen-augen, zählt mich zu den sanftesten schmetterlingen; knüpft mich in den blumenteppich.

fleurs

Nochmals verdichtet finden sich Blumen im Spätwerk, titelgebend sind sie schließlich in „fleurs“ (2016), dem letzten Teil von Mayröckers mit den Bänden „études“ (2013) und „cahier“ (2014) begonnener Trilogie. „fleurs“ kennzeichnet ein fortwährendes Blühen, kaum eine Buchseite, die nicht gespickt ist mit vegetabilen Motiven. Der Band versammelt 106 knappe Texte (wollte man sie denn zählen), die, wie schon in „études“, mit dem Datum ihrer Niederschrift versehen sind und zwischen Anführungszeichen stehen. Darin begegnen uns „Veilchengesicht“, „Schneeglöckchen-Gefild“ und „narkotische Kirschen“, „Erdbeerblatt“, „Augenröslein“ und „Seidenblumen“, „Kuckucksblume“, „daffodils“, „Monstranzen der Hollerblüten“, aber auch eine „Blume im KONSUM“. Kühn sind diese Blumen insofern, als sie sich nicht festmachen oder gar in symbolische Ordnungen zwingen lassen. Zugleich sind sie für allerhand Chiffre. Auch das Veilchen kann verschiedentlich gelesen werden, als Frühlingsbringer, Süßigkeit, Schmerz: „oh Veilchen der Seele (sag an!)“ (F 9).

Abb. 4: Trilogie „études“ (2013), „cahier“ (2014), „fleurs“ (aufgeschlagen, 2016). Frankfurt am Main: Suhrkamp. Leseexemplare Friederike Mayröckers aus dem Nachlass. ÖNB, Literaturarchiv. Foto: Katharina Manojlovic. Auf gelesene Bücher zeichnete Mayröcker mitunter Brillen.

Blumen sind seit jeher ein beliebtes poetisches Medium. Den Ausführungen Elaine Scarrys zufolge hat dies mit ihrer „special imaginability“ zu tun, der Art und Weise also, in der sie auf unsere Vorstellungskraft wirken, womit insbesondere die Leichtigkeit, mit der sie imaginiert werden können, gemeint ist: Unter anderem ihre Form und relative Größe im Verhältnis zu unserem Gesichtsfeld trügen dazu bei, dass wir sie uns nah, ihre Details und Farben „intensiv“ (und blitzschnell) vorzustellen vermögen. Ebenso verstärke die lichtdurchlässige Transparenz ihrer Blütenblätter diesen Effekt (vgl. Scarry 1997; 96, 102). – Wir können Blumen also als durchscheinende Medien denken, auf deren Grund sich dunklere Bilder zeigen, mithin das nicht Vorstellbare in Erscheinung treten kann: „auf einem Foto 1 Blumenstrausz der längst verwelkt und verweht. Auch der mit dem Blumenstrausz Beschenkte längst verwelkt verweht und verwandelt …“ (F 106).

Blumen sind in Bewegung, im Übergang, öffnen und schließen sich und galten, da sie verwelken, immer schon als Sinnbilder der Vergänglichkeit allen Lebens. Auch in „fleurs“ steht ihr Welken für die Endlichkeit des Daseins. Verwelken und Aufblühen korrelieren aber auch mit dichterischen Epiphanien – „weh mir ich sah zu wie die grüne Knospe der Amaryllis sich zu entfalten begann da hielt ich den Atem an“ (F 82) – und dem drohenden Ende des schreibenden Ichs: „Niedergang meiner Person : fliehende Blumen, und Basis-Schmerz“ (F 112).

Papierblumen

Eine poetologische Dimension besitzen die Blumen in „fleurs“ auch insofern, als durch sie auf andere literarische Werke von programmatischer Bedeutung verwiesen wird. Diese Verweise reichen von Bezugnahmen auf Charles Baudelaires 1857 veröffentlichtem Gedichtzyklus „Les Fleurs du Mal“ über Jean Genets Debutroman „Notre-Dame des Fleurs“ (1943) und Novalis’ Fragmentsammlung „Blüthenstaub“ (1798) bis hin zu Isabel Kranz’ 2014 erschienenem Band „Sprechende Blumen“, einem schillernden Abecedarium der Pflanzensprache, das auch „Dichterinnengewächse“ als Gattung kennt und seine Leser*innen mit der Blume „Audrey II“ aus dem Musical „Little Shop of Horrors“ (1986) oder den Eis- und Papierblumen aus Walter Benjamins „Moskauer Tagebuch“ (1926/27) bekanntmacht (vgl. Kranz 2014).

Wiederholt rekurriert wird in „fleurs“, wie schon zuvor in „ich sitze nur GRAUSAM da“ (2012), auf Jacques Derridas Buch „Glas“ (1974, dt. „Totenglocke“):

GLAS ist mein Morgengebet : ein Wort eine Wortfolge macht, dasz ich anfange in mein Zeichenheft zu schreiben : ich lasse mich anstecken von dieser Sprache ich erbreche mich ich erbreche Gemüt und Gedanken in höchster Erregung etc.

Von Mayröckers intensiver Lektüre dieses Buchs zeugt ihr Leseexemplar aus dem Nachlass.

„Glas“, Derridas dialogisch strukturierter Auseinandersetzung mit der Philosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels einerseits und den autobiografischen Schriften Jean Genets andererseits, berührt „fleurs“ in seinem Kern: In seinen Überlegungen zur Blumensprache Genets dekonstruiert Derrida klassische Lesarten, die versuchen, Blumen symbolisch zu interpretieren und ihre Bedeutung in literarischen Texten an eindeutige, reale Bezüge binden zu wollen.

Abb. 5: Jacques Derrida: „Glas. Totenglocke“. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2006. Leseexemplar Friederike Mayröckers aus dem Nachlass. ÖNB, Literaturarchiv. Foto: Katharina Manojlovic.

Dem Verhältnis zwischen den von einer floralen Poetik bestimmten Texten Mayröckers und der Blumensprache Genets und Derridas widmete sich ausführlich Barbara Thums in ihrem Beitrag zur „Blumensprache“ Friederike Mayröckers, in diesem Zusammenhang auch der Semantik des Schneidens, welche Derridas Dekonstruktion floraler Symboliken bestimmt und bei Mayröcker poetologisch fortwirkt in den Bildern von Schnittblumen und Blumensträußen:

Der Schnitt als Prinzip, das in der Lyrik den Vers konstituiert, wird auf das Feld der Prosa übertragen – und dies nicht nur im Hinblick auf die vielschichtig entfaltete Metaphorik des Abschneidens, sondern ebenso durch die Transformation von Prosapassagen in ein verkürztes und verdichtetes lyrisches Sprechen.

„bist Halb-Pflanze“

Bilder des Schneidens verbinden sich in „fleurs“ mit Vorstellungen der Selbstbeschneidung oder -verzehrung, womit Blume und Körper in ein Verhältnis gesetzt werden: „da reisz ich mir die Brust auf dasz ich blute wie MOHNBLUME, weiszt du, wie Andachtsbild“ (F 26). Wiederholt drohen vegetabile Sensationen das Ich zu überwältigen, insofern als mit ihnen Erinnerungen transportiert werden. Auch finden sich wiederholt Bilder der Verwandlung in eine Pflanze: „mir träumte ich würde im Augenblick des Todes in eine Königskerze verwandelt werden : langsam und schrecklich erstarrten meine Gliedmaszen“ (F 33).

Mayröckers florale Poetik ist von Bildern durchdrungen, die Montagetechniken der bildenden Kunst aufgreifen und in ihrer literarischen Verwirklichung synästhetisch zu wirken beginnen. Viele Bildreize in den Texten entzünden sich an Begegnungen mit Kunstwerken, oft solchen, die Blumen zum Sujet haben, etwa Max Ernsts Objektmontage „La fête du mimosa“ (1968), die Mayröcker höchstwahrscheinlich in einer Ausstellung der Wiener Albertina gesehen hat.

Abb. 6: Max Ernst: „La fête du mimosa“, Objektmontage über Öl auf Holz, 1963–1968.

Die Blumen im Werk Friederike Mayröckers fungieren als „Schaltstellen zwischen sinnlicher Erfahrung und Denkbewegung“ (Beyer 2016). Sie sind radikal insofern, als durch sie dichotomische Vorstellungen von Natur und Kultur unterlaufen werden, und Natur, mit Hartmut Böhme gesprochen, ästhetisch in Erscheinung tritt, ohne gegenwärtig zu sein (vgl. Böhme 2017, 20f.): „Die textlich induzierten Wahrnehmungen sind […] der ‚verwirklichte‘ Vollzug (= evidentia), der Actus des Sprechens oder Schreibens.“ (Ebd.) Was sich uns durch die Blumen offenbart, ist ihr sprachliches Erscheinen selbst.

Abb. 7: Von Mayröckers Mutter Friederike Mayröcker gepresste Blumen. ÖNB, Literaturarchiv

Über die Autorin: Katharina Manojlovic ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek und Co-Kuratorin der aktuellen Sonderausstellung „‚ich denke in langsamen Blitzen‘. Friederike Mayröcker. Jahrhundertdichterin“.

Der Text ist eine adaptierte Version des gleichnamigen Beitrags im Begleitbuch zur Sonderausstellung „‚ich denke in langsamen Blitzen‘. Friederike Mayröcker. Jahrhundertdichterin“ im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek, die noch bis 16. Februar 2025 zu sehen ist.

Wir danken der WIENER STÄDTISCHE Versicherung AG Vienna Insurance Group für die großzügige Unterstützung der Sonderausstellung.

Verwendete Literatur

B = Friederike Mayröcker: BLUMENWERK. ländliches Journal / Deinzendorf. Weitra: Bibliothek der Provinz 1992.

C = Friederike Mayröcker: cahier. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2014.

F = Friederike Mayröcker: fleurs. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2016.

G = Friederike Mayröcker: ich sitze nur GRAUSAM da. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2012.

Beyer 2016 = Marcel Beyer: Eine Gleichung von mathematischer Eleganz. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Online-Ausgabe vom 1.7.2016. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/marcel-beyer-besucht-friederike-mayroecker-14313553.html (Zugriff 21.08.2024).

Beyer 2019 = Marcel Beyer (Hg.): Friederike Mayröcker. Gesammelte Gedichte 1939–2003. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2019.

Böhme 2017 = Hartmut Böhme: Aussichten der Natur. Naturästhetik in Wechselwirkung von Natur und Kultur. Berlin: Matthes & Seitz 2017 (= De Natura I, hg. von Frank Fehrenbach).

Kling 2001 = Thomas Kling: Friederike Mayröcker: Das Abscannen der Gesichtsdaten. Laudatio zum Georg-Büchner-Preis 2001. In: Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Darmstadt: Wallstein 2001, S. 173–179. https://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/georg-buechner-preis/friederike-mayroecker/dankrede (Zugriff 21.08.2024).

Kranz 2014 = Isabel Kranz: Sprechende Blumen. Ein ABC der Pflanzensprache. Berlin: Matthes & Seitz 2014 (= Naturkunden No. 11, hg. von Judith Schalansky).

Lartillot 2015 = Françoise Lartillot: Les fleurs vives de Mayröcker. In: Claude Simon. Paris: Europe 2015 (= Europe. Revue littéraire mensuelle 1033), S. 254–258.

Le Née 2020 = Aurélie Le Née: Die Natur in Friederike Mayröckers Frühlyrik am Beispiel von vier Gedichten. In: Inge Arteel, Eleonore De Felip (Hg.): Fragen zum Lyrischen in Friederike Mayröckers Poesie. Berlin: J. B. Metzler 2020, S. 77–91.

Martinelli 2020 = Sonja Martinelli: Friederike Mayröckers Text mit Linné’s berühmter Blumen-Uhr: Vom Öffnen und Schließen der Blüten und Wörter. In: Inge Arteel, Eleonore De Felip (Hg.): Fragen zum Lyrischen in Friederike Mayröckers Poesie. Berlin: J. B. Metzler 2020, S. 93–113.

Mayröcker 2001 = Friederike Mayröcker: „Phantasie über LENZ von Georg Büchner, oder Gedächtnisrevolution im Steintale bei Pfarrer Oberlin in der vogesischen Wüste“. Dankrede zum Georg-Büchner-Preis 2001. In: Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Darmstadt: Wallstein 2001, S. 180–186. https://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/georg-buechner-preis/friederike-mayroecker/dankrede (Zugriff 21.08.2024).

Scarry 1997 = Elaine Scarry: Imagining Flowers: Perceptual Mimesis (Particularly Delphinium). In: Representation 57/1997. University of California Press, S. 90–115.

Thums 2018 = Barbara Thums: fleurs: Friederike Mayröckers Blumensprache. In: Literatur für Leser. 40. Jahrgang, 2/2017. Berlin: Peter Lang 2017, S. 185–199.

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