Landkarten in anthropomorpher oder zoomorpher Form transportierten neben heraldischen und mythologischen Anspielungen häufig auch politische Hinweise.
Autorin: Elisabeth Zeilinger
Kartographische Darstellungen, eingefügt in menschliche oder tierische Konturen, besitzen eine weit zurückreichende Tradition. In einer Handschrift aus der Mitte des 14. Jahrhunderts, die heute im Vatikan aufbewahrt wird, befinden sich kartenähnliche Zeichnungen des Mittelmeer-Raumes in menschlicher Gestalt. Mann und Frau – Nordafrika und Europa symbolisierend – sehen einander über Gibraltar hinweg an.1
Eine der bekanntesten anthropomorphen Karten stellt Europa in den Umrissen einer Königin dar. Dabei bildet die Pyrenäenhalbinsel den Kopf mit der Krone, Frankreich und Deutschland formen den Oberkörper, Italien den rechten Arm – mit Sizilien als Reichsapfel, und Dänemark den linken Arm, während die restlichen Länder Europas als langes Kleid wiedergegeben werden. Erstmals wurde diese meist als Europa Regina bezeichnete Karte von dem Tiroler Humanisten Johannes Putsch in den 1530er Jahren gestaltet.2
1581 erschien unter dem Titel „Itinerarium Sacrae Scripturae“ eine Sammlung des Wissens über die biblische Geographie. Veröffentlicht von dem lutherischen Theologen Heinrich Bünting sind in den zahlreichen Ausgaben unterschiedlich viele Karten und Ansichten zur Illustration des biblischen Geschehens enthalten. Berühmt und in unserem Zusammenhang interessant sind die drei emblematischen Karten mit ihren heraldischen und mythologischen Implikationen. Neben Europa Regina handelt es sich um Asien in der Form eines Pegasus und die Erde als Kleeblatt.
Betitelt mit „Die gantze Welt in ein Kleberblatt Welches ist der Stadt Hannover meines lieben Vaterlandes Wap[p]en“ ist diese Karte auch eine Hommage an Büntings Geburtsstadt Hannover, die im Wappen das Dreiblatt führt. Die Abbildung zeigt in der Tradition mittelalterlicher Weltkarten Jerusalem im Zentrum, davon ausgehend Europa, Asien und Afrika in der Kontur der Blätter, während die neue Welt im unteren linken Eck angedeutet wird.
Der nach Westen blickende Kopf des Pegasus wurde in die Umrisse von Kleinasien gezeichnet. Der Nahe Osten bildet Brust und Vorderbeine, Persien den mittleren Teil und das mit Indien beschriftete Süd- und Südostasien Kruppe und Hinterbeine. Auf den beiden Flügeln ist Scythia und Tartaria zu lesen.
Eine sehr bekannte Kombination von Karte, Tier und Wappen ist der sogenannte Tiroler Adler (Aquila Tirolensis). Hier wurde eine kartenähnliche Darstellung in die Form des Wappentieres regelrecht hineingezwängt. Die oberen Teile der Flügel zeigen das Inntal, Körper und Schwanzfedern bilden Etsch- und Eisacktal.
Karten, eingepasst in menschliche oder tierische Umrisse, werden im 16. und 17. Jahrhundert auch zur Visualisierung von politischen Aussagen entwickelt. Eines der dekorativsten Beispiele ist der Leo Belgicus – die Bezeichnung „Belgicus“ wurde hier von der römischen Provinz Gallia Belgica abgeleitet. Der Löwe ist nicht nur in den meisten Wappen der niederländischen Provinzen vertreten, sondern wird als Synonym für Stärke und Tapferkeit ebenso wie als Symbol für einen Herrschaftsanspruch verstanden. Wir müssen diese Art der Darstellung als politische Karte, als Mittel der Propaganda, und nicht als topographische Karte betrachten.
Die erste in Löwenform gestaltete Karte der 17 Provinzen veröffentlichte Michael von Eytzing 1583 in seinem Geschichtswerk „De Leone Belgico“. Diese 17 Provinzen umfassten die heutigen Niederlande, das heutige Belgien und Luxemburg sowie Teile von Nordfrankreich, und sie wurden als burgundisches Erbe von den spanischen Habsburgern regiert. Philipp II. versuchte ab 1555 durch verschiedene Maßnahmen mit harter Hand den vor allem in den nördlichen Provinzen sich ausbreitenden Protestantismus zu bekämpfen und die Einheit des Landes zu sichern.
Michael von Eytzing (Aitzing), auch Eytzinger, um 1530 geboren, studierte an den Universitäten in Wien und Löwen/Louvain Mathematik und Rechtswissenschaften. Er diente drei Habsburger-Herrschern, Ferdinand I., Maximilian II. und Rudolf II. Als die Anführer der Adelsopposition gegen die spanische Herrschaft, die Grafen Hoorn und Egmond 1568 hingerichtet wurden, hielt sich Eytzing vor Ort in Brüssel auf.3 Später ließ er sich in Köln nieder, wo er sein Werk über die politischen Ereignisse in den Niederlanden seit dem Jahr 1559 zusammenstellte. Basierend auf eigenen Aufzeichnungen und Erinnerungen sowie publizierten Schriften zeigt sich Eytzing hier als Parteigänger der spanischen Seite. Er widmete das Buch den beiden Habsburgern Kaiser Rudolf II. und König Philipp II.
Die Karte in Löwenform wurde von Frans Hogenberg – bekannt durch sein Städtebuch „Civitates Orbis Terrarum“ – in Köln gestochen. Der Kupferstich ist von hervorragender Qualität; das Tier wirkt sehr mächtig und schließt ohne große Verzerrungen alle 17 Provinzen ein. Die Küstenlinie von Den Helder bis Nordfrankreich zeichnet die Kontur des Rückens nach. Die Watteninseln sind die Mähne und die nördlichen Provinzen bilden zusammen sein Maul.
Eytzing formuliert in seiner lateinischen Inschrift an die Lesenden den Zweck der Darstellung „Ich hoffe, dass Du Dank dieses Löwen verstehen wirst, was in den Niederlanden geschah, [...] vor allem während der vergangenen vierundzwanzig Jahre, das heißt von 1559 bis 1583.“ Und dann weiter: „Wir hoffen, dass Du uns darin zustimmst, dass wir uns nie zugunsten einer der beiden genannten Parteien haben beeinflussen lassen, sondern wünschen, dass jeder sich seine eigene Meinung bilde.“4 Diese Zeilen können jedoch nicht über die politischen Implikationen hinwegtäuschen, dass hier der Status quo von 1559 wiedergegeben wurde, ohne die Spaltung zwischen den nördlichen calvinistischen und den südlichen katholischen Provinzen darzustellen. 1581 erklärten sich die sieben nördlichen Provinzen – Holland, Seeland, Friesland, Groningen, Overijssel, Geldern und Utrecht – als Republik für unabhängig.
Diese von Eytzing veröffentlichte Löwenkarte wurde nun im Lauf der nächsten einhundert Jahre mehrmals neu gestochen und auch verändert. Die weitere Publikationsgeschichte ist sehr kompliziert, es gibt, vereinfacht gesprochen, drei Varianten: 1. der Löwe schaut nach rechts, so wie von Eytzing ursprünglich geschaffen, 2. der Löwe sitzt auf den Hinterbeinen, auch hier sieht er nach rechts und 3. der Löwe blickt nach links, in den Süden.5
Sehen wir uns kurz den um 1611 von Claes Jansz. Visscher gestalteten sitzenden Löwen an, der eine Fülle von Anspielungen und Symbolen bietet. Gedruckt wurde die Karte in Amsterdam, dem führenden Zentrum der Karten- und Atlasproduktion zu dieser Zeit. Diese zweite Version, in der Epoche des sogenannten Zwölfjährigen Waffenstillstandes von 1609 bis 1621 erschienen, zeigt den Löwen umgeben von Frieden und Wohlstand, illustriert durch Reisende, Aussaat und Ernte, Segelschiff und Stadtsilhouette sowie die Personifikation des Krieges – schlafend über das Rohr eines Geschützes gebeugt („Slapende Oorlogh“). Der Friede wird als Grundlage für das Wohlergehen visualisiert.
Zu Füßen zweier Frauen liegt in Form einer leblosen Figur der alte Zwist („d’Oude Twist“). Die beiden einander zugeneigten weiblichen Gestalten werden als die freien Niederlande („t’Vrije Neerlant“) und die Niederlande unter Erzherzog Albrecht VII., dem habsburgischen Regenten seit 1598 („t’Neerlandt onder d’Aertshartogh Albertus“) bezeichnet. Damit weist der Verleger aus den nördlichen Niederlanden auf die Realität der Teilung hin. Auch die Randveduten spiegeln diese Realität wider: rechts beginnend mit Antwerpen jene der Südlichen Niederlande und links die der Vereinigten Provinzen mit Amsterdam ganz oben. Dennoch symbolisiert der Löwe neben Kraft und Macht auch die (ehemalige) politische Einheit aller Provinzen.
Das war jedoch nicht die einzige Variante der Karte in Löwenform, die der Verleger Claes Jansz. Visscher veröffentlichte. Entworfen wurde die dritte Version des nun nach Süden blickenden Tieres durch den renommierten Amsterdamer Kupferstecher, Kartenmacher und Verleger Hessel Gerritsz. Die Kupferplatte wurde vor 1612 gestochen, da der See „Beemstermeer“ in Nordholland noch nicht trockengelegt aufscheint. Damit der Löwe nach Süden – in Richtung Spanien – schauen kann, musste die Orientierung geändert werden. Die Karte ist jetzt nach Westen ausgerichtet, das Artois umfasst einen Teil des Kopfes, der Schwanz wird von den Watteninseln gebildet.
Entstanden gleichfalls in der Periode des Zwölfjährigen Waffenstillstandes, visualisiert die Karte neben der Stärke des Landes in der Einheit der 17 Provinzen vor allem die Sehnsucht nach einem wirklichen Frieden. Das lateinische Epigramm am unteren Kartenrand lautet übersetzt: „Der Löwe spricht: genauso wie mein riesiger Körper muskulöse Gliedmaßen hat, kann man in meinem Körper kraftvolle Länder sehen. Wie gut wäre es, wenn in ewigem Frieden vereint, jede Provinz der anderen helfen würde.“6
Claes Jansz. Visscher erwarb die von Hessel Gerritsz. geschaffene Kupferplatte und druckte die Karte erstmals 1630. Er ersetzte den Autorennamen in der Titelkartusche durch seinen eigenen und fügte sein Monogramm darunter ein. Spuren der getilgten Schrift sind noch erkennbar. Zum Zeitpunkt der Publikation war der Waffenstillstand längst ausgelaufen und es wurde ab 1621 wieder gekämpft. Das Epigramm mit der Hoffnung auf einen ewigen Frieden blieb erhalten. Das Bild des Löwen als Personifikation der Niederlande soll die Kraft dieser prosperierenden Region und führenden Handels- und Seemacht auch in unruhigen Zeiten demonstrieren.
Sowohl der Gestalter, Hessel Gerritsz., als auch alle weiteren Verleger, die den nach Süden blickenden Löwen veröffentlichten, waren in Amsterdam tätig. Daher impliziert diese Version zweierlei: die in dem Epigramm thematisierte Sehnsucht nach Frieden und gegenseitiger Unterstützung und gleichzeitig auch die Gefahr, die aus dem Süden den sieben nördlichen, abgespaltenen Provinzen drohte. Nicht umsonst weist das zum Brüllen geöffnete Maul mit den scharfen Zähnen in Richtung Spanien.
Erst der Friede von Münster 1648 beendete den Achtzigjährigen Krieg, in welchem sich die nördlichen Provinzen die Unabhängigkeit von der spanischen Herrschaft erkämpft hatten. Die Republik der Vereinigten Niederlande wurde nun auch de jure als souveräner Staat anerkannt.
Nicolaes Visscher, der Sohn von Claes Jansz. Visscher, verwendete die Kupferplatte weiter, mit nur einer einzigen Korrektur: das Erscheinungsjahr wurde auf 1656 ausgebessert. Der Leo Belgicus war somit nicht nur in kartographischer Hinsicht völlig unaktuell, sondern auch in seiner politischen Aussage, der Visualisierung einer Gesamtheit der 17 Provinzen, längst überholt. Bis zum Ende des Jahrhunderts wurde die Karte jedoch weiter gedruckt, damit konnte der Leo Belgicus nur mehr in seiner dekorativen Form als Symbol für die verlorene Einheit gelten.
Über die Autorin: Mag. Elisabeth Zeilinger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Kartensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek.
Laurent Baridon: Un atlas imaginaire. Cartes allégoriques et satiriques. Paris 2011.
Henk A. M. van der Heijden: Leo Belgicus. An illustrated and annotated carto-bibliography, revised second edition. Alphen aan den Rijn 2006.
Tanja Michalsky: Projektion und Imagination. Die niederländische Landschaft der Frühen Neuzeit im Diskurs von Geographie und Malerei. Paderborn 2011.
Peter Meurer: Europa Regina. 16th century maps of Europa in the form of a queen. In: Belgeo, 3-4, 2008, S. 355-370. https://journals.openedition.org/belgeo/7711?lang=de [3.5.2024].
Günter Schilder: Monumenta Cartographica Neerlandica, vol. VII. Alphen aan den Rijn 2003. S. 410-415 und S. 451-455.
Elisabeth Zeilinger: Cartographica curiosa aus den Beständen der Österreichischen Nationalbibliothek. In: Kartographische Zimelien. Wien 1995. S. 28-37.
1 Es handelt sich um Illustrationen in den autobiographischen Schriften des Klerikers Opicinus de Canistris (*1296). Biblioteca Apostolica Vaticana, Vat.lat 6435.
2 Peter Meurer: Europa Regina. 16th century maps of Europa in the form of a queen. In: Belgeo, 3-4, 2008, S. 355-370. https://journals.openedition.org/belgeo/7711?lang=de [3.5.2024].
3 Karl H. Salzmann: Aitzing, Michael Freiherr von. In: Neue Deutsche Biographie 1 (1953), S. 119-120 [Online-Version] https://www.deutsche-biographie.de/pnd118644173.html#ndbcontent [3.5.2024].
4 Zitiert nach: Tanja Michalsky: Projektion und Imagination. Die niederländische Landschaft in der Frühen Neuzeit im Diskurs von Geographie und Malerei. Paderborn 2011. S. 110.
5 Van der Heijden listet insgesamt 33 mehr oder weniger unterschiedliche Versionen zwischen 1583 und 1815 auf. Henk A.M. van der Heijden: Leo Belgicus. An illustrated and annotated carto-bibliography, revised second edition. Alphen aan den Rijn 2006.
6 Vgl. die englische Übersetzung des lateinischen Textes in: Henk A.M. van der Heijden: Leo Belgicus. S. 78. Claes Jansz. Visscher veröffentlichte ab 1622 auch den sogenannten Leo Hollandicus. Hier umschließt die Löwenform nur mehr die sieben nördlichen Provinzen.
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