Ein Post-it aus Papyrus

Forschung

31.08.2017
Papyri und antike Schriftstücke
Neuinterpretation einer brieflichen Mitteilung auf einem Papyrus aus dem 7. Jh. n. Chr.

Autorin: Claudia Kreuzsaler

Rund 180.000 antike Schriftzeugnisse verwahrt die Papyrussammlung der Österreichischen Nationalbibliothek. Mehr als 170.000 davon warten noch in den Magazinen darauf, entziffert und veröffentlicht zu werden. Knapp 8.000 Papyri, Pergamente, Ostraka und Papiere sind es, die in den vergangenen 134 Jahren von Papyrologen studiert, entziffert und publiziert wurden.

Man möchte meinen, dass zumindest bei diesem kleinen Teil der bereits bearbeiteten Objekte kaum noch neue Erkenntnisse möglich sind, doch sehr oft bringt gerade ein zweiter Blick auf bereits bekannte Schriftstücke durchaus Überraschendes zutage. Wie jeder Betrachter eines Gemäldes ein etwas anderes Bild sieht, liest jeder Leser einen etwas anderen Text. Dies muss umso mehr für Schriftstücke aus einer fernen Zeit und Kultur gelten, die uns oft nur teilweise und fast immer aus dem Zusammenhang gerissen erhalten sind. Je weniger Text auf einem Papyrus, umso mehr Raum bleibt dem Leser heute für Interpretation und auch Spekulation.

Ein solcher, bereits vor Jahrzehnten bearbeiteter und publizierter Papyrus ist die Inventarnummer G 30904: ein Schreiben, das bislang als "Mitteilung über die Freilassung eines Sklaven oder Inhaftierten" bekannt war.

Der Text ist wenig spektakulär. In drei kurzen Zeilen steht folgende Nachricht auf dem Papyrusblatt (hier in deutscher Übersetzung):

„† Im Namen des Vaters und des Sohnes

und des Heiligen Geistes †.

Ich habe freigelassen am 20. Pachon zur 6. Stunde †.“

Darüber stehen noch zwei Kreuze und weitere christliche Symbole.

Vorderseite

Auf der Rückseite des Blattes finden wir die „Adresse“, denn Papyrusbriefe wurden nicht in einem Umschlag versandt. Vielmehr faltete man den Brief mehrmals und schrieb auf der verbleibenden Außenseite des verschnürten Papyruspäckchens die Namen von Absender und Adressat des Schreibens, hier:

„† Meinem überaus süßesten und geliebtesten Bruder Thomas, dem Chartularius

† der Bruder Menas †.“

Rückseite

Die Briefpartner sind also Brüder, wobei auffällt, dass Thomas auch mit seinem Amtstitel chartularius (in etwa „Buchhalter“) angesprochen wird. Dies könnte ein Hinweis auf einen vielleicht offiziellen Hintergrund des Schreibens sein – andererseits sind die verwendeten Epitheta „süßester und geliebtester“ in hohem Grad privat und vertraut.

Welchen Inhalt dürfen wir dem überaus knappen Brief des Menas an seinen Bruder Thomas nun entnehmen? Der Kern der Nachricht ist: „Ich habe freigelassen“ mit Angabe des Datums (der 20. Pachon entspricht dem 15. Mai) und der Stunde (die 6. Stunde entspricht der Mittagszeit). Ist dies die Mitteilung über die Freilassung einer im Text nicht näher genannten Person?

Sehen wir die Parallelen: Das für „freilassen“ verwendete Verbum hat ein weites Bedeutungsfeld von „lösen, sich trennen“ über „entlassen, freilassen“ bis zu „zahlen, ausfertigen, entsenden, abschicken“. Hier folgt auf das Verbum nur die Zeitangabe, keine weitere Konkretisierung, insbesondere kein Objekt. Dieselbe Formulierung finden wir in mehreren Papyrusbriefen aus der Zeit kurz nach der arabischen Eroberung Ägyptens (641 n. Chr.). Am Ende dieser meist dringlichen Schreiben steht jeweils: „Ich habe abgeschickt (gemeint ist: den Brief) am Tag X zur Stunde Y.“ Möglicherweise misstraute man den Briefboten und wollte so den Adressaten eine Kontrollmöglichkeit einräumen oder sie zumindest wissen lassen, dass man als Briefschreiber jedenfalls selbst nicht säumig gewesen sei.

Der Brief des Menas datiert ebenfalls ins 7. Jh. n. Chr. und könnte gut aus der Zeit um die arabische Eroberung Ägyptens stammen. Vor dem Hintergrund der zeitnahen Parallelen werden wir in der Nachricht nicht mehr die Mitteilung über die Freilassung einer Person erkennen können, sondern ein dringliches Schreiben mit Absendevermerk:

„Ich habe es abgeschickt am 20. Pachon zur 6. Stunde.“

Doch führt die Klärung der einen Frage zu einer neuen: Was ist es nun, das Menas so eilig abgeschickt hatte? Der Papyrus selbst lässt uns darüber völlig im Unklaren. Überhaupt hat durch die Neuinterpretation der letzten Zeile das Schreiben gleichsam jeden eigenständigen Inhalt verloren. Nur christliche Symbole und die Invokationsformel stehen dem Absendevermerk voran. Die Anrufung der Heiligen Dreifaltigkeit ist auch keine übliche Einleitung für Briefe. Die invocatio in verschiedenem Wortlaut war seit Kaiser Mauricius (582–602 n. Chr.) zwar fester, da vorgeschriebener Bestandteil des Präskripts sämtlicher schriftlicher Rechtsakte und ist in den ägyptischen Papyri entsprechend hundertfach bezeugt. Hier nimmt die Formel aber eine völlig andere Rolle ein.

Das Fehlen einer eigentlichen Mitteilung in dem Schreiben des Menas lässt nur den einen Schluss zu, dass es sich bei dem Blatt Papyrus um einen Beibrief zu einem anderen Brief oder eher noch zu einem Paket handelt. Ähnlich wie wir heute oft beiläufig auf eine Sendung noch ein persönlich an den Adressaten gerichtetes Post-it kleben, auf das wir nicht mehr als ein paar Worte wie „Liebe Grüße ...“ oder einen Smiley kritzeln.

Allerdings: Menas nahm für sein „Post-it“ keinen kleinen Papyrusschnipsel zur Hand, sondern ein beachtliches Blatt von ca. 33 ´ 31 cm. Dieses Papyrusblatt beschrieb er nicht etwa mit eilig hingeworfenen Grüßen, vielmehr setzte er die wenigen Worte raumfüllend in einer ganz speziellen Zierschrift mit Buchstaben von fast 3 cm Höhe. Diese stilisierte Schrift, der er sich bedient, hat ihre Wurzeln in der römischen Kanzleischrift und ist in nur ganz wenigen Papyrusdokumenten zu finden. Aus der Verwendung der Zierschrift lässt sich nicht unbedingt darauf schließen, dass es sich hier um hochrangige staatliche Korrespondenz handelt. Jedenfalls aber gab Menas seinem Beibrief ganz bewusst eine imposante äußere Form, aus der sich der hohe Stellenwert erahnen lässt, den Menas dem eigentlichen Sendungsinhalt beimaß.

Detail

Das war es aber auch schon mit den Informationen, die sich dem Text unmittelbar entlocken lassen. Die viele weiteren Fragen, die der Brief in dieser Neuinterpretation aufwirft, erlauben nicht mehr als Spekulation: Was für eine Sendung wurde von diesem „Post-it“ des Menas wohl begleitet? War es eine wertvolle Fracht? Ein offizieller staatlicher Transport? Oder ein privates Frachtgut von hohen emotionalem Wert? Waren die christlichen Formeln für Menas einfach selbstverständlich oder setzte er sie gezielt ein? Verwendete er die „Kanzleischrift“ bloß zur Zierde oder um die Bedeutung des eigentlichen Schreibens oder des Pakets wirkungsvoll zu unterstreichen?

In der Papyrologie gibt es nicht selten Zufallsfunde von zusammengehörigen Schriftstücken, die bisweilen solche spekulativen Fragen beantworten können. Vielleicht findet sich unter den noch unbearbeiteten Papyri irgendwann tatsächlich das „Innenschreiben“ zu dem Beibrief des Menas, das alle Rätsel aufzulösen vermag. Vermutlich aber war die durch den Papyrus begleitete Sendung ein Paket, das mit Sicherheit die Zeiten nicht überdauerte, weshalb über den Inhalt dieser vor 1400 Jahren wichtigen, wie dringlichen Fracht weiterhin freimütig spekuliert werden darf.

Das erneute Studium eines bereits bearbeiteten Textes veränderte hier nicht nur seine inhaltliche Deutung grundlegend, sie machte aus dem früher unscheinbaren Stück auch ein absolut singuläres Zeugnis: Unter den tausenden bisher bekannten Papyrusbriefen gibt es keine einzige Parallele für eine solche inhaltsleere Beilage und nur wenige optisch so eindrucksvolle Zeugnisse wie das Schreiben des Menas.

Literaturverweis:

Neuedition des Papyrus in:

Kreuzsaler, Claudia und Papathomas, Amphilochios (2015): SB XXIV 16148: Ein spätantiker Frachtbrief, in: Tyche. Beiträge zur Alten Geschichte Papyrologie und Epigraphik, 30, S. 77–80.
https://doi.org/10.15661/tyche.2015.030.09

Copyright der Abbildungen: Österreichische Nationalbibliothek, Papyrussammlung

Zur Autorin: Dr. Claudia Kreuzsaler ist Papyrologin und Rechtshistorikerin und seit 2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Papyrussammlung der Österreichischen Nationalbibliothek

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