Alraunen Marion und Thrudacias

Forschung

02.03.2018
Geschichte der ÖNB
Objekt des Monats März, Alraunen Marion und Thrudacias

Zu den kuriosesten, von der Forschung bislang aber kaum beachteten Objekten im Bestand der Österreichischen Nationalbibliothek zählen die beiden Alraunenwurzeln „Thrudacias“ und „Marion“.  

Autorin: Katrin Jilek

Abb. 1 : Alraunen Marion und Thrudacias (Wien, ÖNB, Cod. Ser. n. 55075) 

Die stark giftigen Alraunen (lat. mandragora officinarum), die zu den Nachtschattengewächsen gezählt werden, sind vor allem in Südeuropa und Nordafrika heimisch. Bereits in der Antike wurde die Pflanze mystisch verklärt, was neben der chemischen Wirkung ihrer alkaloidhaltigen Inhaltsstoffe vor allem auf der äußeren Form ihrer Wurzel beruht. Denn ihre arm- und beinartigen Wurzelranken geben den Alraunenwurzeln ein menschliches Erscheinungsbild.

Eine frühe Beschreibung der Pflanze und ihrer Heilwirkung findet sich im sogenannten Wiener Dioskurides (Cod. Med. gr. 1), einer spätantiken pharmakologischen Sammelhandschrift, die in der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrt wird. Darin wurde den Alraunen eine heilende Wirkung bei Schlangenbissen oder bei Schlaflosigkeit nachgesagt. Zusätzlich konnten sie auch als Schmerzstiller und als Betäubungsmittel eingesetzt werden. Die weibliche Art der Alraune führte Dioskurides unter dem Namen Thridakias, die männliche unter der Bezeichnung Norion. Daneben beschrieb er noch eine dritte Art namens Morion. Aus dieser Benennung leiten sich die Namen der beiden Alraunenwurzeln der Nationalbibliothek ab.

Während in der Antike die Wirkung der Alraune als Heilpflanze im Vordergrund stand, gelangte im Mittelalter ihre mythische Verklärung in den Fokus der Allgemeinheit, die vor allem auf ihrer anthropomorphen Form beruhte. Insbesondere die Alraunenernte ist ein wiederkehrendes Bildmotiv in mittelalterlichen Handschriften. Das Außergewöhnliche an der Ernte der Alraunen war, wie bereits antike Quellen schildern, dass man die tief verwurzelten Alraunen nicht eigenhändig ernten durfte, da sie dabei einen markerschütternden Schrei ausstießen, der angeblich zum sofortigen Tod führen konnte. Stattdessen bediente man sich für die Ernte eines schwarzen Hundes an dessen Schwanz die Pflanze befestigt wurde. Während der Tod des Hundes in Kauf genommen wurde, verschloss der Alraunensammler seine Ohren zum eigenen Schutz mit Wachs, um den Schrei der Wurzel zu überleben.

Im Mittelalter galten Alraunen als Beschützer von Haus und Herd, konnten ihrem Besitzer zu Geld, Ruhm und Ehre verhelfen und als Amulett getragen Krankheiten abwehren. Daneben wurde Alraunen nachgesagt, dass sie vor allem an Hinrichtungsstätten zu finden seien. In der alchemistischen Vorstellung wuchs die Alraune aus den Körperflüssigkeiten – und hier vor allem aus dem Samen – von Gehängten, die auf das Erdreich fielen. Diese Legende vom „Galgenmännlein“ machte die Alraunenwurzel in der magischen Vorstellungswelt der Alchemie und der hermetischen und kabbalistischen Esoterik der Frühen Neuzeit zu idealen Kultobjekten. So stellt nicht das vermeintlich finstere Mittelalter, sondern die Renaissance die Hochzeit des Alraunenglaubens und der Alraunenverehrung dar. Durch die stark ansteigende Nachfrage nach Alraunenwurzeln kam es zu einem regen Handel mit unechten beziehungsweise gefälschten Wurzeln, wie etwa der Blutwurz, der Zaunrübe, dem Wegerich oder dem Allermannsharnisch. Die abendländischen Alraunen wurden zur Verehrung oftmals in rote Seide und schwarzen Samtumhang gekleidet.

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Abb. 2: Die Alraunenernte im Tacuinum Sanitatis (Wien, ÖNB, Cod. Ser. n. 2644, fol. 40r)
Abb. 3: Die Alraunenernte im Tacuinum Sanitatis (Wien, ÖNB, Cod. 2396, fol. 12v)

Auch die Alraunen der Hofbibliothek, die übrigens aus dem Siegwurz-Lauch oder Allermannsharnisch (allium victorialis) hergestellt wurden, wie Botaniker des 19. Jahrhunderts herausgefunden haben, waren einst bekleidet. Sie wurden 1679 in den Kommentarien[1] vom kaiserlichen Hofbibliothekar Peter Lambeck (1663-1680 Präfekt der Hofbibliothek) erstmals beschrieben und kurz darauf im Katalog[2] von Daniel Nessel (1680-1700 Hofbibliothekar) abgebildet. Lambeck gibt in seiner Beschreibung an, dass sie aus der Kunst- und Wunderkammer Kaiser Rudolfs II. (1552–1612) stammen. Kaiser Rudolf II. war ein bedeutender Förderer von Kunst und Wissenschaft, die damals aber auch Disziplinen wie Alchemie und Astrologie umfasste. Nachdem er 1576 zum Kaiser gekrönt wurde, verlegte er seine Residenzstadt von Wien nach Prag, wo er eine eindrucksvolle Sammlung von Gemälden, Antiken, Prunkwaffen und raren, fremdartigen Objekten in seiner Kunstkammer zusammentrug, um seinen großen Wissensdurst und seine Neugierde zu stillen. Die Objekte kamen durch Erbschaften, Schenkungen, oder als Auftragswerke und systematische Ankäufe über ein Netzwerk aus Agenten nach Prag. Aber auch durch die Übernahme kompletter, bereits vorhandener Kunstsammlungen, wie beispielsweise die der Ambraser Kunst- und Wunderkammer Erzherzog Ferdinands II. von Österreich (1529-1595), die Rudolf 1606 für sich erwerben konnte.

Rudolfs Interesse galt den Künsten und Wissenschaften seiner Zeit, und hier besonders der Alchemie. Die Mischung aus wissenschaftlichem und magischem Interesse spiegelt sich in den vorhandenen Objekten wider. So verwundert es nicht, dass er auch Alraunen besaß. Davon haben wir durch mehrere Inventare seiner Kunstkammer Kenntnis. Das älteste wurde bereits zu Lebzeiten Rudolfs zwischen 1607 und 1611 angefertigt.[3] Unter der Überschrift „Ettliche fremde indianische Gewechs und Früchten dirr.“ wird auf fol. 35 unter den Nummern 319 „ein langlet schieblädlin mit etwas eingelegter arbeit, darinn ein alraun, 6 zoll lang“ mit dem Randvermerk „Almar N˚5“ und unter Nr. 320 „1 ander kleiner alraunlin in eim weissen langleten schiebladlin“ mit einer Zeichnung am Rand und dem Vermerk „haben Ihre Majestät“ aufgeführt. Vieles spricht dafür, dass es sich bei den beiden genannten Alraunen um die beiden in der Nationalbibliothek befindlichen Wurzeln handelt, wie auch Lambeck in seinem Katalog angibt. Doch auch in der Sammlung auf Schloss Ambras gab es bereits zwei Alraunen. Im Nachlassinventar Ferdinands II. von Tirol aus dem Jahre 1596[4] zeigt sich „(…) in demselben casten in ainem lädl auf aim plauen daffet zween alraun, das mändl und das weibl“. Da Ferdinands testamentarischer Wille, dass seine Kunst- und Wunderkammer dort verbleiben sollte, von Rudolf II. respektiert wurde, ist fraglich ob und wann diese beiden Alraunen nach Prag gebracht wurden und ob diese identisch waren mit den beiden im Inventar von 1607/1611 aufgeführten. Da das Prager Inventar kurz nach dem Ankauf der Ambraser Sammlung entstanden ist, könnte dies den Schluss zulassen, dass vielleicht das eine oder andere Objekt von Ambras nach Prag verbracht wurde und deshalb eine aktualisierte Inventarliste notwendig geworden war. Wahrscheinlicher ist es aber, dass Daniel Fröschl, der Verfasser des Inventars, nach seinem Amtsantritt im Mai 1607 als antiquarius Rudolfs, durch die Zusammenstellung einen Überblick über die Objekte gewinnen wollte.

Fakt ist, dass die Alraunen bereits vor 1679 in der Hofbibliothek verwahrt wurden und wohl vor Peter Lambecks Dienstantritt bereits dort eingelangt waren. Da unter Sebastian Tengnagel (Hofbibliothekar von 1608-1636) Handschriften Tycho Brahes aus Prag nach Wien gebracht wurden, wäre es vorstellbar, dass dabei auch die beiden Alraunen in die Hofbibliothek gelangten. Worüber wir aber erst aus dem 19. Jahrhundert Berichte besitzen, ist, wie mit den beiden Alraunen in der Bibliothek umgegangen werden musste: „Der Vorsteher des Bücherschatzes in der kaiserlichen Bibliothek zu Wien hatte nach dem gewöhnlichen Bethzeichen keine Ruhe mehr und wurde oft mit Gewalt hinausgetrieben. Absonderlich war diess der Fall mit demjenigen Zimmer, in welchem unterschiedliche Manuscripte, nebst anderen raren Monumenten aufbewahrt wurden. Da befanden sich auch zwei Alraunen, mit rothem Scharlach gekleidet und gleichsam in ordentlichen Todtenladen, nach ihrer Größe liegend. An denselben befanden sich besondere Zeichen, als wenn sie verschiedenen Geschlechtes wären und hat sich Kaiser Rudolphus IV. (II.) ihrer bedienet und gar seltsame Dinge mit ihnen verübet. Unter anderem erzählt man, dass sie wie kleine Kinder hätten müssen gebadet werden und zwar mit unverfälschtem Wein. Wenn dies nicht geschehen, haben sie ein Geheul angefangen wie neugeborne Kinder, die erst vom Mutterleibe kommen, auch nicht eher nachgelassen, bis ihnen ihre ordentliche Pflege widerfahren ist.“[5]

Auch über ihre Namensgebung erfahren wir aus den Berichten des 19. Jahrhunderts. Bei der 5 ½ Zoll großen männlichen Alraune handle es sich um Marion und bei der mit 4 ¼ Zoll etwas kleineren Alraune um die weibliche namens Thrudacias. Die beiden Namen beziehen sich auf die Namensgebung unter Dioskurides, im Laufe der Zeit wurden sie allerdings leicht verballhornt.

Lange Zeit schienen die Alraunen in der Bibliothek in Vergessenheit geraten zu sein, doch Anfang des 20. Jahrhunderts gerieten sie wieder öfter in den Fokus der Öffentlichkeit: 1905 zeigte man die Alraunen bei einer Ausstellung im Rahmen des in Wien stattfindenden Internationalen Botanischen Kongresses. Während des Ersten Weltkriegs wurden in mehreren Wiener Zeitungen Berichte über Kriegsaberglauben abgedruckt und in diesem Zusammenhang fanden auch die beiden Alraunen und ihre Geschichte mehrmals Erwähnung, da sie im Krieg neben der sicheren Rückkehr auch Ehre und Erfolg herbeiführen sollten. In den Berichten kursierten verschiedene unbestätigte Behauptungen über die Herkunft und Verwendung der beiden Alraunen. Unter anderem wurde berichtet, dass Kaiser Rudolf II. sie von Tycho Brahe, dem Hofmathematiker und Astronom am Prager Kaiserhof, geschenkt bekommen habe. Sie sollen 1683 bei der Türkenbelagerung ihr letztes Wunder gewirkt haben, als einer der Stallburschen sie einsteckte, um sich mit ihrer Hilfe unverwundbar zu machen. Dank ihrer Zauberkraft soll er wirklich Wunder der Tapferkeit vollbracht haben, ohne dass ihm dabei ein Haar gekrümmt wurde. Als er später aber in der Schenke damit prahlen wollte, waren die Alraunen wieder an ihren angestammten Platz zurückgekehrt.[6]

Kurios ist auch diese Anfrage an die Direktion der Nationalbibliothek: 1931 versuchte eine Südtirolerin eine der beiden Alraunen aus dem Besitz der Österreichischen Nationalbibliothek zu erwerben, da sie, wie sie schriftlich mitteilte, diese aus Gesundheitsgründen für sich benötige. Direktor Bick teilt ihr umgehend mit, dass die beiden Wurzeln zum Rarabestand gehören und daher wie alle Bestände unverkäuflich sind.

Die beiden einzigartigen Objekte der Österreichischen Nationalbibliothek werden im Rahmen der Jubiläumsausstellung als Objekt des Monats März im Prunksaal präsentiert.

Über die Autorin: Mag. Katrin Jilek ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Sammlung von Handschriften und alten Drucken.

[1] Commentariorum de Augustissima Bibliotheca Caesarea Vindobonensi Liber 1-8, Vindobona 1665-1679, hier liber 8: data.onb.ac.at/ABO/%2BZ22202510X , Bild 659 (18.02.18).

[2] Catalogus, sive recensio specialis omnium codicum manuscriptorum graecorum, nec non linguarum orientalium Augustissimae Bibliothecae Caesareae Vindobonensis, Vindobonae et Norimbergae 1690; Zitierlink: data.onb.ac.at/ABO/%2BZ152466105 Bild 1256 (18.02.18).

[3] Rotraud Bauer; Herbert Haupt: Das Kunstkammerinventar Kaiser Rudolfs II., 1607-1611 (= Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien 72 (Neue Folge Band XXXVI)), Wien 1976. – Jan Morávek: Novĕ objevený inventář rudolfinských sbírek na hradĕ pražském, Prag 1937. (Inventar aus dem Jahr 1619) – Heinrich Zimmermann: Das Inventar der Prager Schatz- und Kunstkammer vom 6. Dezember 1621 (= Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses 25), Wien 1905.

[4] Wendelin Boeheim: Urkunden und Regesten aus der k. k. Hofbibliothek (= Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen des allerhöchsten Kaiserhauses 7. Band, II. Teil, S. XCI - CCCXIII u. 10. Band, ab S. I (Regest 5556 = Inventar des Nachlasses Erzherzog Ferdinands II. in Ruhelust, Innsbruck und Ambras vom 30. Mai 1596, 7. Band II. Teil, S. CCXXVI - CCCXIII und 10. Band, S. I - X), Wien 1888-1889.

[5] Zitiert nach A. R. Perger: Über den Alraun (Berichte und Mittheilungen des Alterthums-Vereines zu Wien 5), Wien 1861, S. 259-269, hier S. 267.

[6] Beispielsweise: Die Alraunen der Hofbibliothek in: Neues Wiener Journal vom 8. August 1900, S. 3-4. – Kriegsaberglaube, in: Neues Wiener Tagblatt vom 10.April 1915, S. 2-4.

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