Autorin: Nicole Streitler-Kastberger
Horváths letzte Lebensjahre, die Jahre 1937 und 1938, waren die produktivsten in seinem Schaffen. Im April 1937 stellte er das Schauspiel Der jüngste Tag fertig, im Juni 1937 die Komödien Ein Dorf ohne Männer, Ein Sklavenball und Pompeji, zwischen Juni und August 1937 schrieb er in fieberhafter Eile seinen Roman Jugend ohne Gott und wollte noch mit dem nächsten beginnen, bevor er diesen abgeschlossen hatte: Ein Kind unserer Zeit. Die Arbeit an Letzterem beschäftigte ihn dann bis ins Frühjahr 1938. Kaum hatte er ihn beendet, plante er schon einen neuen Roman, dessen Titel er niemandem anvertrauen wollte, aus Angst, dass man ihn stehlen könnte. In einem Brief an seinen Lektor Walter vom Amsterdamer Verlag Allert de Lange Landauer vom 25. April 1938 heißt es: „Ich arbeite schon sehr an dem neuen Roman und habe auch bereits den Titel. Er gefällt mir so gut, dass ich Angst habe, es könnt ihn mir jemand nehmen. Lässt sich dagegen etwas praktisch tun? Wenn man es vielleicht irgendwo veröffentlicht, daß ich an einem Roman mit diesem Titel arbeite – schützt das einen? Der Titel lautet: Adieu, Europa!“
Abb. 1: Strukturplan mit Titelangabe, Sign: ÖLA 3/W319
Von dem Werkprojekt sind lediglich dreizehn Blatt mit handschriftlichen Entwürfen und ein Typoskript überliefert, das den Titel Neue Wellen trägt. Die Materialien befinden sich im Nachlass Horváths im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek. Das stark autobiographisch gefärbte Romanprojekt sollte von Revolution und Emigration handeln, ähnlich wie die Komödie Figaro lässt sich scheiden (1936), deren Titel Horváth im hier gezeigten Entwurfsblatt notiert. Im Zentrum steht ein Ich-Erzähler, der Schriftsteller ist und sich aufgrund der aktuellen politischen Entwicklungen zu einer Veränderung seines Schreibens veranlasst fühlt: „Eine Welt ist zusammengestürzt, man muss ganz anders schreiben.“ Insgesamt handelt es sich bei dem Entwurf um einen Strukturplan, in dem der Autor sich über die Makrostruktur seines Werkprojekts Klarheit verschaffen will. Er hält vier Teile fest: Die erste Emigration, Die Rückkehr, Die zweite Emigration und Die dritte Emigration.
Damit ist ziemlich exakt Horváths eigener Lebensweg in den dreißiger Jahren beschrieben, der ihn aus dem nationalsozialistischen Deutschland nach Österreich, dann wieder nach Deutschland, wo er sich in der NS-Filmindustrie als Drehbuchautor verdingen wollte, und wieder zurück nach Österreich führte. Die dritte Emigration – im Faksimile ist dazu bezeichnenderweise Adieu, Europa! notiert – machte ihn aber zu einer Art „Weltreisenden“, wie er im Brief an seine Jugendfreundin Gustl Schneider-Emhardt vom 14. April 1938 schreibt. Auch die drei Bräute, die Horváth auf dem Blatt notiert, gab es in seinem Leben: die Autorin Hertha Pauli, die Sängerin Maria Elsner und die Schauspielerin Wera Liessem. Mit den beiden Romanen Jugend ohne Gott und Ein Kind unserer Zeit, die beim Amsterdamer Exilverlag Allert de Lange erschienen, sagte sich Horváth erfolgreich vom nationalsozialistischen Deutschland und auch von Österreich los. Er war von nun an ein Autor des Exils, ein Emigrant ohne festen Wohnort, ein Staatenloser, wie er ihn schon in seiner Posse Hin und her (1934) beschrieben hatte.
Abb. 2: Ödön von Horváth 1938, Sign: ÖLA 3/L22
Im Jahr 1938 war Horváth viel unterwegs: in Henndorf bei Zuckmayer, in Schärding auf Kur, in Wien, in Budapest, in Teplice-Šanov (Tschechien), in Zürich, in Amsterdam und zuletzt in Paris, wo er auf den Champs-Élysées in einem Gewittersturm durch einen herabstürzenden Ast viel zu früh sein Leben ließ. Am 23. März 1938 schreibt er an Walter Landauer: „Lieber Freund wir leben in Zeiten, wo man die Koffer nicht einmal auspacken darf, wie der liebe gute selige [Karl] Tschuppik gesagt hat.“ Pläne zur Verfilmung seines Romans Jugend ohne Gott durch den deutsch-amerikanischen Regisseur Robert Siodmak beschäftigten ihn noch an seinem letzten Lebenstag, dem 1. Juni 1938, an dem er sich mit Siodmak im Pariser Café Marignan traf. Horváth äußerte zwar nie konkrete Auswanderungspläne nach Amerika, doch wie das vorliegende Blatt und auch der Briefwechsel belegen, war sein Blick in den letzten Lebensmonaten eindeutig auf das Land der unbegrenzten Möglichkeiten gerichtet: „Adieu, Europa!“
In Horváths Brieftasche fand sich bei seinem tödlichen Unfall ein kurzer, handschriftlich ausgearbeiteter Text des Romanprojekts. Auf Vermittlung von Freunden erschien dieser unter dem Titel Neue Wellen im Herbst 1938 in der u.a. von Thomas Mann herausgegebenen Emigrantenzeitschrift Maß und Wert.
Abb. 3: Maß und Wert. Zweimonatsschrift für freie deutsche Kultur.
Hg. von Thomas Mann und Konrad Falke. 2. Jg, November/Dezember 1938, Heft 2
Im Rahmen der Reihe Das besondere Objekt ist Horváths Adieu, Europa! noch bis 25. November 2019 im Prunksaal zu sehen. Danach wieder im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek.
Zur Autorin: Dr. Nicole Streitler-Kastberger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am FWF-Projekt „Ödön von Horváth: Edition und Dissemination“ am Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung der Karl-Franzens-Universität Graz.
Literatur:
Vgl. dazu: Ödön von Horváth: Sportmärchen, Kurzprosa und Werkprojekte Prosa. Hg. v. Martin Vejvar unter Mitarbeit von Nicole Streitler-Kastberger (= Ödön von Horváth: Wiener Ausgabe sämtlicher Werke. Hg. v. Klaus Kastberger, Band 13). Berlin: de Gruyter 2017, „Adieu, Europa!“, S. 463–487 und 674–689.
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Aufgrund einer Veranstaltung wird der Prunksaal am Donnerstag, 14. November bereits um 18 Uhr geschlossen.