Der griechische Papyrus mit der Klage der Artemisia ist ein außergewöhnliches, seine Betrachter seit jeher faszinierendes Exponat des Papyrusmuseums. Besonders ist auch die Geschichte des Sammlungsobjektes, das 1846 im Tauschwege vom k. k. Antikenkabinett übernommen wurde.
Autorin: Claudia Kreuzsaler, Angelika Zdiarsky
Im Jahr 1848 veröffentlicht die Autorin Therese von Lützow ihre Erzählung „Eine Reise nach Wien“, in der sie unter anderem ihren Besuch in der Hofbibliothek schildert. Tief beeindruckt zeigt sie sich von einem im großen Saale – dem heutigen Prunksaal – gezeigten Papyrus:
„Wer erschrickt nicht vor jener Papyrus-Rolle in Uncialschrift, etwa vierhundert Jahre vor Christus, die den Fluch der Tochter Artemisia gegen ihren Vater Damasius, der sie widerrechtlich ihrer Kinder beraubt hat, enthält? ‘So lange diese Schrift verwahrt werde’, heißt es im Text, ‘soll Damasios nirgends Heil finden’. Der Fluch einer Tochter über ihren Vater! Welch eine erschütternde Idee! Welch scharf einschneidende Vorstellung! Welche Fülle von Barbarismus, von zersetzenden, trennenden Principien, auf die das Christenthum noch nicht sein milderndes Licht geworfen hatte! Ich blickte erschüttert auf die Anschauungen dieser Zeit! Ich sah sie die Hände erheben gegen die Rachegötter, diese durch und durch verwundete Tochter, die, ihrer Kinder beraubt, durch keine Rücksicht mehr gehalten, durch keine Erinnerung mehr gefesselt, ihren Fluch zweitausend Jahre weit, bis hieher, bis nach Wien, bis in die Hofbibliothek schleudert!“
Der Papyrus, der die Schriftstellerin vor 170 Jahren zu solch bewegten Worten verleitete, ist eine der Zimelien der Papyrussammlung, die im Papyrusmuseum ausgestellt ist: Die Klage der Artemisia (P.Vindob. G 1).
Dieser Papyrus ist wahrlich einzigartig. Er stammt aus dem 4. Jh. v. Chr. und ist damit einer der ältesten erhaltenen Papyri in griechischer Sprache – möglicherweise sogar der älteste – und ein wichtiges Zeugnis für die griechische Handschrift dieser Zeit.
Der Text selbst ist zeitlos berührend, aber auch von einem speziellen kulturhistorischen Interesse. Er erlaubt einen singulären Einblick in das Leben der kleinen griechischen Gemeinde in der ägyptischen Stadt Memphis und die dortige Verschmelzung von griechischen und ägyptischen Traditionen: Die Griechin Artemisia wendet sich an den ägyptischen Gott Oserapis, den zu Osiris gewordenen Apis-Stier, und bringt in seiner Kultstätte, dem Serapeum in Sakkara, eine in griechischer Sprache verfasste Bittschrift an.
Lesung und Interpretation des Textes haben sich freilich seit der Zeit Therese von Lützows stark gewandelt. Nicht gegen ihren Vater tritt Artemisia auf, sondern gegen den Vater ihrer Tochter. Und nicht weil dieser sie der Kinder beraubt hatte, sondern weil er die Tochter des Grabes beraubte:
„O Herr Oserapis und ihr Götter, die mit Oserapis sitzt!
Es ruft euch an Artemisia, die Tochter des Amasis, gegen den Vater ihrer Tochter, der diese der Grabbeigaben beraubte und des Grabes selbst.
Wenn er nun wahrlich recht tat mir und seinen eigenen Kindern, so sei er gerechtfertigt. Sofern er wahrlich unrecht tat mir und seinen eigenen Kindern, so mögen Oserapis und die Götter dafür sorgen, dass er kein Grab von seinen Kindern erhalte und dass er selbst seine eigenen Eltern nicht begrabe!
Solange diese Anklage hier liegt, soll er übel zugrunde gerichtet werden zu Land und zu Wasser, er selbst und seine Habe, von Oserapis und den Göttern, die im Haus des Oserapis sitzen. Auch möge ihm keine Gnade von Seiten des Oserapis oder der Götter, die mit Oserapis sitzen, zuteil werden.
Artemisia hat diese Bittschrift niedergelegt, in der sie Oserapis anfleht, darüber ein Urteil zu sprechen – ihn und die Götter, die mit Oserapis sitzen.
Solange diese Bittschrift hier liegt, soll keinerlei Gnade der Götter zuteil werden dem Vater des Mädchens. Wer aber diese Schrift fortnimmt und unrecht tut der Artemisia, dem möge der Gott die gerechte Strafe auferlegen.“
Das von Artemisia beklagte Unrecht bestand wohl nicht wörtlich in einem Raub von Grab und Grabbeigaben. Auch die anlässlich einer Herodot-Stelle einst erwogene Verpfändung der Mumie der Tochter kann dem Text nicht einfach unterstellt werden. Die griechische Formulierung sollte ganz allgemein dahin verstanden werden, dass der Vater der Tochter das ihr gebührende Begräbnis vorenthielt, es möglicherweise einfach nicht finanzierte – und damit ihre Aufnahme in der jenseitigen Welt gefährdete. Hierzu passt auch die ganz dem Talionsprinzip verhaftete Sanktionsbitte: er selbst solle nicht begraben werden und ebenso seine Eltern nicht begraben können.
Zwar drängt der dramatische Inhalt und die heraufbeschworene Verdammnis des Übeltäters den Begriff „Fluch“ geradezu auf, doch steht der Text in Aufbau und Wortwahl weniger den griechischen Fluchtexten nahe als den Eingaben an weltliche Gerichte; er erinnert also an einen juristischen Text. Artemisia selbst bezeichnet ihr Schriftstück als „Anklage“ und fordert Oserapis auf „ein Urteil zu sprechen“ – ihn und die Götter, die mit ihm sitzen, gleich einem Gerichtstribunal. Dass Artemisia ihre Klage an eine göttliche, nicht an eine weltliche Instanz richtet, mag darin begründet sein, dass die Untat des – namentlich nicht einmal genannten – Mannes nicht in einer weltlichen Straftat, sondern in einem das Jenseits betreffenden Frevel lag, weshalb die Sorge für Gerechtigkeit allein den Göttern obliegt.
Als Therese von Lützow die Hofbibliothek besuchte, waren nur wenige Papyri aus Ägypten bekannt – ein Papyrus an sich also schon spektakulär. Die großen Papyrusfunde, die erst die Entstehung der europäischen Papyrussammlungen begründeten und die Papyrologie als wissenschaftliche Disziplin ins Leben riefen, setzten erst im Jahr 1877 ein. Doch auch unter den zigtausenden heute bekannten griechischen Papyri ist die Klage der Artemisia einzigartig – vielleicht weil sie schon in ihrer Zeit ein ungewöhnlicher Text war, vielleicht aber auch aufgrund der doch immer zufälligen und punktuellen Überlieferung, die uns eben keine vergleichbaren Texte schenkte. Schon Therese von Lützow zeigte sich verwundert: „Sonderbar! So vieles zerstiebt, und dieses hier, diese vergilbte, entsetzensvolle Rolle ist geblieben!“
Wie der Papyrus mit Artemisias Klage in die Hofbibliothek gelangte – und zwar noch lange vor Begründung der Sammlung „Papyrus Erzherzog Rainer“ im Jahr 1883 – ist eine längst vergessene Geschichte, die sich jedoch in manch spannender Facette aus den zeitgenössischen Amtsakten rekonstruieren lässt. In diesen findet sich ein Briefentwurf vom 17. Juni 1846 des damaligen ersten Kustos der Hofbibliothek, Eligius Franz Joseph Freiherr Münch von Bellinghausen, an das ihm vorgesetzte Obersthofmeisteramt, mit dem die Sache offenbar ins Rollen kam.
Münch-Bellinghausen erinnert an einen Erlass aus dem Jahr 1799, wonach die k. k. Hofbibliothek dazu angehalten sei, alle bei ihr befindlichen Antiken an das k. k. Antikenkabinett abzugeben – ein Auftrag dem nach beinahe 50 Jahren immer noch nicht zur Gänze entsprochen wurde, befände sich doch „eine eherne Tafel, die das berühmte Senatusconsult de Bacchanalibus enthält“ noch bei der Bibliothek. Die Hofbibliothek möchte die längst fällige Abtretung nun vorantreiben, wobei Münch-Bellinghausen auf eine Gegengabe des Antikenkabinetts abzielt: Die mit diesem verbundene ägyptische Sammlung besitze „eine große Anzahl von Papyrusrollen, und wenn auch die mit Hieroglyphen beschriebenen Rollen als ein wesentlicher Bestandtheil dieser ägyptischen Sammlung anzusehen, und von derselben nicht getrennt werden sollten, so dürfte doch dieses nicht bey Rollen, die griechische Schrift enthalten der Fall seyen, und diese letzteren vollkommen geeignet erscheinen, der Hofbibliothek als Ersatz [...] überantwortet zu werden.“ Einer der hier ins Auge gefassten Papyri war, wie sich aus einer Randnotiz mit Katalognummern erschließen lässt, der Artemisia-Papyrus.
Das Ansinnen Münch-Bellinghausens wurde mit einigen Abänderungen umgesetzt. Dabei spielte der ehemalige Präfekt der Hofbibliothek, Moritz Graf von Dietrichstein-Proskau-Leslie, eine nicht unbedeutende Rolle. Dieser war bereits neben seinem Amt als Präfekt der Hofbibliothek (1826–1845) seit 1833 mit der Oberleitung des Münz- und Antikenkabinetts betraut. Mit seiner Ernennung zum Oberstkämmerer war er seit April 1845 in übergeordneter Ebene für die Belange des Antikenkabinetts zuständig. Schließlich übernahm Dietrichstein nach dem Tod des Ersten Obersthofmeisters ab 14. Juli 1846 auch die Aufgaben dieses bis auf weiteren vakanten obersten Hofamtes der Monarchie – und fungierte damit als übergeordnete Dienststelle sowohl für die Hofbibliothek als auch für das Antikenkabinett. Gleich Anfang August konkretisiert, erweitert und autorisiert Dietrichstein in seinen jeweiligen Funktionen den Tausch – wobei es durch die Ämterkumulation zu kuriosen Korrespondenzen kommt: Etwa informiert Dietrichstein als Vertreter des Ersten Obersthofmeisters in einem Schreiben die Hofbibliothek über eine an das Oberstkämmereramt – also Dietrichstein – ergangene Anweisung. Als Oberstkämmerer wiederum informiert er das Antikenkabinett über das „mit dem k.k. Obersthofmeisteramte“ – also sich selbst – „gepflogene Einvernehmen“ über den auszuführenden Tausch.
Schließlich wurde der auf Betreiben Münch-Bellinghausens von Dietrichstein angeordnete Tausch zwischen den beiden kaiserlichen Sammlungen im September und Oktober 1846 vollzogen und umfasste eine Reihe von Objekten – das sichtbarste Ergebnis dieser Amtshandlung ist freilich, dass heute die Bronzetafel mit dem senatus consultum de Bacchanalibus in den Räumen der Antikensammlung des Kunsthistorischen Museums und der Papyrus mit der Klage der Artemisia im Papyrusmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek zu bestaunen ist.
Gut möglich, dass Therese von Lützow die Sammlungsgeschichte des Artemisia-Papyrus bei ihrem Besuch der Hofbibliothek aus erster Hand erfuhr. Ihr Führer durch die erst im Mai 1847 eingerichtete Zimelienschau im großen Saal war kein geringerer als Münch von Bellinghausen persönlich – jener Mann, der als amtsführender Erster Kustos der Hofbibliothek sowohl die Übernahme des Artemisia-Papyrus vom Antikenkabinett als auch die Präsentation dieser und anderer Kostbarkeiten der Bibliothek in einer neuen, dem Publikum zugänglichen Ausstellung initiierte.
Zu den Autorinnen: Dr. Claudia Kreuzsaler und Dr. Angelika Zdiarsky sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen der Papyrussammlung der Österreichischen Nationalbibliothek.
Kreuzsaler, Claudia: Tote ohne Begräbnis – Die Klage der Artemisia, in: Zdiarsky, Angelika (Hg.), Wege zur Unsterblichkeit. Altägyptischer Totenkult und Jenseitsglaube, Nilus 20, Wien 2013, 45–53.
Stummvoll, Josef (Hg.): Geschichte der Österreichischen Nationalbibliothek. Erster Teil: Die Hofbibliothek (1368–1922), Wien 1968, bes. S. 421–454 (Eligius Franz Joseph Freiherr Münch von Bellinghausen).
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Aufgrund einer Veranstaltung wird der Prunksaal am Donnerstag, 14. November bereits um 18 Uhr geschlossen.