Bei dem UNESCO Weltdokumentenerbe handelt es sich um die mittelalterliche Kopie einer antiken Karte. Ursprünglich auf einer sieben Meter langen Pergamentrolle festgehalten, zeigt das Objekt das römische Straßennetz.
Autor: Michael Rathmann
Die Tabula Peutingeriana, seit 2007 UNESCO Weltdokumentenerbe, ist ein einzigartiges Zeugnis der Kartographiegeschichte. Das uns vorliegende Exemplar ist die wohl um 1200 n. Chr. entstandene Kopie eines spätantiken Originals. Auf diesem Weg ist uns zumindest eine großformatige Weltkarte aus der Antike erhalten geblieben. Vermutlich als Diebesgut aus einer süddeutschen Klosterbibliothek gelangte die ungewöhnliche Karte in Rollenform in den Besitz des Augsburger Humanisten Konrad Peutinger (1465–1547), der sie in Gelehrtenkreisen bekannt machte und zugleich ihr Namensgeber wurde. Ein weiterer Nachfahre, Ignaz Desiderius von Peutinger, verkaufte die Pergamentrolle schließlich, so dass sie über Zwischenstationen 1717 um den beachtlichen Preis von 100 Dukaten in die Sammlung des Prinzen Eugen von Savoyen gelangte. Nach dessen Tod 1737 erwarb Kaiser Karl VI. dessen Bibliothek von seiner Nichte und Haupterbin Viktoria von Savoyen. So kam die Tabula Peutingeriana 1738 in den Besitz der Hofbibliothek in Wien, wo sie sich noch heute unter der Bezeichnung Codex Vindobonensis 324 in der Sammlung von Handschriften und alten Drucken der Österreichischen Nationalbibliothek befindet.
Schon aufgrund ihrer Einzigartigkeit ist klar, wie essentiell es für unser Verständnis der Raumauffassung der Antike ist, dieses wichtige Zeugnis zu analysieren. Singulär ist bereits das kuriose Format dieser Pergamentrolle (bestehend aus elf Pergamentblättern). Mit einer Länge von knapp 6,80 m und einer Höhe von lediglich 33 cm bildet die Tabula Peutingeriana die Oikumene (= die in der Antike bekannte Welt) von Spanien bis Indien in einer extremen Verzerrung ab. Bedauerlicherweise fehlt uns der Anfang mit dem Atlantik, Teilen von Iberien, Westafrika und vermutlich wichtigen einleitenden Informationen. Die ursprüngliche Kartenrolle muss sogar noch deutlich länger gewesen sein. Auf jeden Fall fassen wir hier eine antike Traditionslinie nichtmaßstäblicher Karten, die außerhalb der hochelitären professionellen mathematisch-physikalischen Geographie steht und vor allem Rückschlüsse auf das geographische Wissen eines breiteren Publikums innerhalb der antiken Oberschicht erlaubt. In fast allen kartographischen Details ist die Tabula Peutingeriana ohne Parallele.
Die Tabula Peutingeriana gibt der Forschung seit rund 300 Jahren Rätsel auf. Lange Zeit wurde sie als imperial römisches Produkt gedeutet, und weitreichende Schlussfolgerungen daraus gezogen. Die rege Diskussion wurde in den letzten Jahren noch weiter angeheizt durch den spatial turn, der – quer durch die Disziplinen – der Raumwahrnehmung und -erfassung in ihrer kulturellen Abhängigkeit erhöhte Aufmerksamkeit widmet. Kontroversen existieren vor allem zu folgenden Aspekten: Zeiteinordnung der antiken Ur-Tabula Peutingeriana, antike Bearbeitungsstufen, Bezüge zu anderen Kartenwerken sowie literarisch-geographischen Quellen, Design, geographische Korrektheit und Benutzbarkeit (einschließlich der Probleme, die sich aus unklaren Maßeinheiten ergeben), Zweckbestimmung und Publikum, sowie zum Umfang der mittelalterlichen Modifikationen und möglicher Fehler der Kopisten.
Im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Projekts werden aktuell an einer wissenschaftlichen Kommentierung und Auswertung der rund 3600 Toponyme gearbeitet. Der dabei gewählte Zugang ist in vielerlei Hinsicht innovativ: Die gängigen Theorien zu Datierung, Quellen und Zweckbestimmung werden in Frage gestellt. So wird aufgrund der abgebildeten physikalischen Landmassen eine frühhellenistische Grundform der Ur-Tabula Peutingeriana angenommen, woraus sich Konsequenzen für die Geschichte der antiken Kartographie als Ganzes ergeben, die neu zu durchdenken ist, da die Tabula Peutingeriana nicht mehr als Resultat einer griechisch-römischen Kartographie, sondern vermutlich als Frühprodukt in dieser Entwicklungsgeschichte zu sehen ist. Außerdem stehen statt einer fixen Datierung die verschiedenen Bearbeitungsstufen im Vordergrund. Die Tabula Peutingeriana soll dabei als „work in progress“ gedeutet werden, deren Zweckbestimmung mit ihren sich wandelnden historisch-kulturellen Hintergründen möglicherweise wechselte. Gestützt auf moderne Raumtheorien soll die Tabula Peutingeriana als ein Kulturzeugnis verstanden werden, das dokumentiert, wie Menschen diese besondere Form der Darstellung eines geographischen, aber auch gesellschaftlichen, politischen und religiösen Raumes im Wandel der Zeit genutzt haben. Ihre Deutung als Wissensspeicher und Medium der Memoria erlaubt Rückschlüsse auf Methoden, Möglichkeiten und Grenzen des Generierens und Tradierens von Wissen allgemein.
Autor: Prof. Dr. Michael Rathmann ist Universitätsprofessor für Alte Geschichte an der Universität Eichstätt-Ingolstadt.
Literatur zum Thema
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P. Arnaud, L’origine, la date de redaction et la diffusion de l’archetype de la Table de Peutinger, in: BSAF 1988, 302-321.
C. A. Levi / M. A Levi, Itineraria picta. Contributo allo studio della Tabula Peutingeriana, Rom 1967.
K. Miller, Itineraria Romana: Römische Reisewege an der Hand der Tabula Peutingeriana, Stuttgart 1916. (zahlreichen ND)
F. Prontera (Hrsg.), Tabula Peutingeriana. Le antiche vie del mondo, Firenze 2003.
M. Rathmann, Geographie in der Antike. Überlieferte Fakten, bekannte Fragen, neue Perspektiven, in: D. Boschung / T. Greub / J. Hammerstaedt (Hrsg.), Geographische Kenntnisse und ihre konkreten Ausformungen, München 2013, 11-49.
M. Rathmann (Hrsg.), Tabula Peutingeriana. Die einzige Weltkarte aus der Antike, 3. Aufl., Darmstadt 2018.
M. Schuol, Indien und die großen Flüsse auf der Tabula Peutingeriana: Die östliche Oikumene zwischen paganer und christlicher Kartographie, in: Orbis Terrarum 14, 2016, 92-154.
R. J. A. Talbert, Rome’s World. The Peutinger Map Reconsidered, Cambridge 2010.
E. Weber (Hrsg.), Tabula Peutingeriana: Codex Vindobonensis 324, mit Kommentarband, Graz 1976.
E. Weber, Die Datierungen des antiken Originals der Tabula Peutingeriana, in: Orbis Terrarum 14, 2016, 229-258.
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