Vor 350 Jahren erschien John Wilkins‘ Essay Towards a Real Character and a Philosophical Language, das bedeutendste Werk der Plansprachenbewegung des 17. Jahrhunderts.
Autorin: Naomi Osorio-Kupferblum
John Wilkins hatte ja Recht: Unsere natürlichen Sprachen sind eigentlich höchst mangelhafte Mittel zur Kommunikation. Dort, wo wir sie besonders brauchen – wenn wir über räumliche oder zeitliche Distanz hinweg kommunizieren wollen – liegt eine ihrer größten Schwächen. Je größer die Distanz, desto mehr unterscheiden sich Grammatik und Vokabular, und desto größer sind daher die Verständnisschwierigkeiten. Doch damit nicht genug, verwenden wir oft ein Wort in mehreren Bedeutungen und umgekehrt verschiedene Wörter mit gleicher Bedeutung. Polysemie und Synonymie sind somit weitere Faktoren, die zur Unvollkommenheit natürlicher Sprachen beitragen (Wilkins 1668: 17 f.). 1614, also vier Jahre vor Beginn des 30-jährigen Kriegs, geboren (Davies 2004), war sich Wilkins der ganzen Tragweite dieser Missverständlichkeit, Mehrdeutigkeit und der daraus folgenden Möglichkeiten gezielter Manipulation bewusst. Das Grundübel sah er darin, dass es keinen intrinsischen Zusammenhang zwischen einem Wort (z.B. „Pferd“ oder „Baum“) und seiner Bedeutung (dem Tier bzw. der Pflanze) gibt. Noch schlimmer ist es um das Verhältnis zwischen Schrift und Bedeutung bestellt. Buchstaben haben nichts mit den Lauten zu tun, für die sie stehen, und noch weniger mit der Bedeutung der Wörter, die wir aus ihnen zusammensetzen (Wilkins 1668: 14 ff.).
Mit Schrift hatte sich der Universalgelehrte Wilkins bereits 1641 in seinem Buch Mercury, or the Secret and Swift Messenger, einer Sammlung von Geheimschriften und Codes, beschäftigt – ein Originalexemplar ist im Esperantomuseum der Österreichischen Nationalbibliothek ausgestellt. 1647 übernahm Wilkins dann die Leitung des Wadham College, Oxford (Davies 2004).
Er versammelte dort einen Kreis von Wissenschaftern um sich, die nach Francis Bacons empirischer Methode forschten und experimentierten. Mitglieder dieses Oxford Philosophical Club, aus dem später die Royal Society hervorgehen sollte, waren Größen wie der Mathematiker Seth Ward, der Arzt Thomas Willis, der Architekt Christopher Wren, der Chemiker Robert Boyle oder der Universalgelehrte Robert Hooke.[1]
In dieser Zeit der Erfindungen und Entdeckungen erweiterte sich der Kreis jener, mit denen Gelehrte kommunizieren wollten, deutlich. Doch weder die Handwerker, die ihre Geräte und Instrumente herstellten, noch BewohnerInnen entlegener Erdteile, die Europa damals entdeckte, einnahm und kolonialisierte, beherrschten die damalige lingua franca der Wissenschaft, Latein. Es lag also nahe, an die Entwicklung einer weltweit verständlichen Sprache zu denken. Der sogenannte Hartlib-Kreis war im Zentrum der Plansprachenbewegung des 17. Jahrhunderts.[2] Ein Protegé Hartlibs, der Lehrer George Dalgarno, kam auf die Idee, einen direkten Zusammenhang zwischen Wörtern und ihrer Bedeutung herzustellen. Er wandte sich an Wilkins um wissenschaftliche Hilfe. Wilkins war sofort höchst interessiert, jedoch mit Dalgarnos wissenschaftlichem Ansatz nicht einverstanden (Lewis 2007: 88). Somit erarbeitete jeder seine eigene Kunstsprache. Dalgarnos Projekt war kleiner, er erlangte jedoch später Bekanntheit mit einer Zeichensprache für Gehörlose. Wilkins‘ Essay Towards a Real Character and a Philosophical Language hingegen wurde zu seinem Meisterwerk.
Die Idee war ebenso genial wie einfach – ganz im Gegensatz zu ihrer hochkomplexen Umsetzung: Es ist für alle Menschen, gleichgültig, welche Sprache sie sprechen und wo oder wie sie leben, offensichtlich, dass ein Pferd kein Baum und ein Baum nicht Wasser ist. Die Dinge auf der Welt, ihre Eigenschaften und Ereignisse, unterscheiden sich nun einmal und lassen sich somit natürlich kategorisieren – soweit der aristotelische Grundgedanke (Wilkins 1668: 20). Wenn man nun aber das gesamte Universum und alles in ihm in einer Art porphyrischem „Baum“ erfassen könnte, bräuchte man nur mehr eine Methode, auf die einzelnen Stellen in diesem Schema zu verweisen, und man hätte eine wissenschaftlich präzise Möglichkeit der Kommunikation, ohne Mehrdeutigkeiten und somit auch ohne die Gefahr irreführender Darstellungen. Wörter drücken dann nicht aus, was dem Sprecher durch den Kopf geht, sondern verweisen direkt auf das, was sie beschreiben – ungefähr so wie Geodaten unmissverständlich einen bestimmten Ort auf der Erde angeben.
Mithilfe von Seth Ward, Francis Willoughby, John Wray, William Lloyd, und weiteren Freunden (Wilkins 1668: Epistle to the Reader) erstellte John Wilkins daher einen Katalog aller Dinge und Eigenschaften im Universum. Jahrzehnte vor Linnaeus und den Enzyklopädisten erarbeitet, enthält dieses faszinierende System hunderte Einträge mit Kurzdefinitionen, die 40 Genera mit bis zu 9 Unterscheidungen und Spezies zugeordnet sind.
Dazu gibt es eine Schrift, die optisch an Kurzschrift erinnert und mit kleinen Häkchen oder Ringen auf eine bestimmte Stelle in diesem Kategoriensystem verweist und so ein bestimmtes Ding oder eine Eigenschaft tatsächlich „bedeutet“. „Pferd“ („Horse“) zum Beispiel (Wilkins 1668: 156), findet man unter:
V. Tiere („Beasts“),
I. ganzfüßige Tiere („whole footed beasts“)
1. Pferd („Horse“)
neben: 2. Esel („Asse“) und Maultier („Mule“).
Diese Schriftzeichen stellen also nicht Laute dar, sondern gewissermaßen die Dinge selbst, denn indem sie auf eine bestimmte Stelle im Kategoriensystem verweisen, geben sie die wesentlichen Eigenschaften des Benannten an. Um die Sprache nicht nur schriftlich, sondern auch mündlich verwenden zu können, werden diesen Zeichen Silben zugeordnet. So wird etwa Pferd zu „ZiBα“.
Wilkins stellte also nicht nur ein direktes Verhältnis zwischen Bezeichnetem und Bezeichnung her, sondern kehrte auch das Verhältnis zwischen Zeichen und Lauten um. Anstatt Laute schriftlich wiederzugeben, werden Schriftzeichen hörbar gemacht.
Der letzte Teil dieses Opus magnum ist Lloyds alphabetisch geordnetes Wörterbuch, das die betreffende Stelle im Baum angibt und für Lernende unentbehrlich ist.
Zusätzlich enthält dieses über 600 Seiten starke Werk Überlegungen zur Phonetik und zur Grammatik und sogar eine Darstellung der Arche Noahs, mit der nachgewiesen wird, dass für alle Tiere auf der Arche genug Futter gelagert werden konnte.
Wilkins‘ Sprache hat mehrere Vorteile. Erstens ist sie so präzise wie das Kategoriensystem, auf dem sie beruht; Mehrdeutigkeiten sind ausgeschlossen. Zweitens entwickelt sie sich nur dann weiter, wenn weitere Dinge (etwa neue Erfindungen) in das Kategoriensystem aufgenommen werden. Bestehende Bezeichnungen sind immer und überall gleich. Drittens hat die größte Fehlerquelle, der Mensch, so wenig Einfluss wie möglich. Anstatt die Bedeutung von Wörtern konventionell festzulegen, zeichnet er nur auf, was die Natur vorgibt, und diese Aufgabe können Experten übernehmen. Konventionell ist nur das Zeichen- und Lautesystem, das die Bedeutung nicht beeinflusst. Viertens fördert diese Sprache Wissen. Wörter sind ja intrinsisch bedeutsam. Höre oder lese ich ein Wort, weiß ich, auf welche Stelle im „Baum“ es verweist und damit auch was die wesentlichen Eigenschaften des Bedeuteten sind. Umgekehrt kann ich einen Namen herleiten, wenn ich die wesentlichen Eigenschaften eines Dinges kenne. Die Präzision und Dauerhaftigkeit dieser Sprache ist aber nicht nur für die Wissenschaft wertvoll, sie schützt die Menschen auch vor gezielter Irreführung durch Zweideutigkeiten, Ungenauigkeiten oder Halbwahrheiten.
Mit diesen Zielen geht Wilkins‘ Werk weit über die Überlegungen anderer Plansprachen hinaus und ist somit nicht nur historisch, sondern auch von sprachphilosophisch von großem Interesse.
Doch war dieses beeindruckende Werk vom Pech verfolgt. Es befand sich gerade im Druck, als 1666 der große Brand von London ausbrach. Dieser vernichtete nicht nur die bereits gedruckten Seiten, sondern auch das Manuskript. Als der Essay Towards a Real Character and a Philosophical Language auf 454 Seiten + 155 Seiten Wörterbuch 1668 endlich erschien, erklärte Wilkins in der Widmung, dass er nur als erster Vorschlag zu verstehen war und das Projekt weiterer Ausarbeitung bedürfte (Wilkins 1668: Epistle Dedicatory). Ziel war es, die Sprache weltweit zu verbreiten (ibid.). Doch Wilkins starb vier Jahre nach der Publikation und ließ seine Plansprache verwaist zurück. Zwar unternahm eine Kommission der Royal Society anfänglich noch einige unregelmäßige Versuche, das Projekt fortzuführen (Lewis 2001); es fand auch weiterhin wissenschaftliche Beachtung (Leibniz[3] diente es als Inspiration, Locke empfahl es privat (Locke 1681, 1976-89), kritisierte es aber auch in seinem Essay Concerning Human Understanding (1689/90, 1975: 509, III.xi.2)), jedoch fehlten der Elan und Enthusiasmus, die nötig gewesen wären, um die Sprache zu unterrichten und zu verbreiten. Das historisch größte Projekt einer Universal- und Wissenschaftssprache blieb so von rein theoretischem Interesse.
Über die Autorin: Dr. C. Naomi Osorio-Kupferblum ist Simultandolmetscherin und Philosophin.
Cram, David / Maat, Jaap (Hrsg.) (2001): George Dalgarno on Universal Language: 'The Art of Signs'(1661), 'The Deaf and Dumb Man's Tutor'(1680), and the Unpublished Papers, Oxford: Oxford University Press.
Davies, Cliff S.L. (2004): The Family and Connections of John Wilkins, 1614–72, in: Oxoniensia, LXIX, S. 93-108.
Funke, Otto (1929): Zum Weltsprachenproblem in England im 17. Jh. G. Dalgarno's Ars Signorum (1661) und J. Wilkins Essay Towards a Real Character and a Philosophical Language (1688), in: Anglistische Forschungen, 69.
Leibniz, Gottfried Wilhelm (1923-): De Lingua Philosophica, in: Deutsche Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Sämtliche Schriften und Briefe, Berlin: Akademie Verlag, Serie VI, Band 4, N.186.
Lewis, Rhodri (2001): The efforts of the Aubrey correspondence group to revise John Wilkins’ Essay (1668) and their context, in: Historiographia linguistica, 28.3, S. 331-364.
Lewis, Rhodri (2007): Language, Mind and Nature. Artificial Languages in England from Bacon to Locke, Cambridge: Cambridge University Press.
Locke, John (1681, 1976-89): Brief Nr. 656 an Nicolas Toinard (16. August 1681) in: de Beer, E.S. (Hrsg.) (1976-1989), The Correspondence of John Locke, Vol. II, Oxford: Clarendon Press.
Locke, John (1689/90, 1975): An Essay Concerning Human Understanding, Nidditch P. H. (Hrsg.), Oxford: Oxford University Press.
Maat, Jaap (2004): Philosophical Languages in the Seventeenth Century: Dalgarno, Wilkins, Leibniz, Dordrecht u. a.: Kluwer Academic.
Pombo, Olga (1987): Leibniz and the Problem of a Universal Language. Münster: Nodus-Publ.
Shapiro, Barbara (1969): John Wilkins, 1614-1672. An Intellectual Biography. Berkeley u. a.: University of California Press.
Subbiondo, Joseph L. (1992): John Wilkins and 17th-Century British Linguistics, Amsterdam u. a.: Benjamins.
Wilkins, John (1668): An Essay Towards a Real Character and a Philosophical Language, London: Gellibrand.
Wilkins, John (1694): Mercury, or The Secret And Swift Messenger. Shewing, How a Man may with Privacy and Speed communicate his Thoughts to a Friend at any distance, (The Second Edition), London: Printed for Rich. Baldwin.
[1] Werke von Thomas Willis, Robert Boyle und Robert Hooke befinden sich in der Sammlung von Handschriften und alten Drucken der Österreichischen Nationalbibliothek.
[2] Lewis, Rhodri (2007): Language, mind and nature. Artificial languages in England from Bacon to Locke, Cambridge: Cambridge University Press, gibt eine hervorragende Geschichte der Bewegung.
[3] u.a. erwähnt er Wilkins‘ Essay in ‚De lingua philosophica‘ (Leibniz 1923-)
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