Das einzigartige Schriftstück aus dem 2. Jh. n. Chr. erhellt Details des Handels zwischen dem Römischen Reich und Indien. Objekt des Monats Februar im Rahmen des Jubiläumsjahres 650 Jahre Österreichische Nationalbibliothek.
Autor: Bernhard Palme
Papyrusdokumente privaten und öffentlichen Charakters gewähren wertvolle Einblicke in die Lebenswelt der Antike. Bisweilen erhellen außergewöhnliche Texte Ereignisse oder Bereiche, die aus keiner anderen historischen Quelle bekannt sind. Ein solches Schriftstück von singulärem Inhalt ist der sogenannte Muziris-Papyrus (P.Vindob. G 40822, SB XVIII 13167) aus der Papyrussammlung der Österreichischen Nationalbibliothek. Es handelt sich um eine in altgriechischer Sprache abgefasste Darlehensurkunde, die eine Seehandelsreise nach Muziris in Indien erwähnt und den Transport der importierten Waren nach Alexandria zum Gegenstand hat. Die wissenschaftliche Forschung hat seit der Erstedition 1986 den Einzelheiten der Textgestaltung dieser bruchstückhaften Urkunde, den Angaben zu den Importgütern, aber auch den rechtlichen Bestimmungen des Darlehens, der Berechnung der Zölle und dem historischen Kontext dieses spektakulären Testimoniums mehr als ein Dutzend ausführlicher Abhandlungen gewidmet.
Das genaue Datum, welches dieses juristisch relevante Dokument dereinst mit Sicherheit getragen hat, ist verloren gegangen, weil das Papyrusblatt in fragmentarischem Zustand zu uns gekommen ist. Aufgrund paläographischer Indizien kann die Urkunde aber in die Mitte des 2. Jh. n. Chr. datiert werden. Sie stammt also aus der Hohen Römischen Kaiserzeit, als das Imperium Romanum seine größte politische Machtentfaltung erlebte. Damals stand das Reich auch wirtschaftlich auf seinem Höhepunkt. Ein bevorzugter Partner für Import und Export war das ferne Indien, welches für die Menschen des Altertums stets auch die Aura eines exotischen Märchenlandes ausstrahlte.
Als die Römer 30 v. Chr. das Königreich der Ptolemäer in Ägypten eroberten, gerieten auch die Häfen am Roten Meer und damit der Indienhandel unter ihre Kontrolle. Der erweiterte Absatzmarkt innerhalb des Römischen Reiches und eine gesteigerte Nachfrage in den prosperierenden Jahrhunderten der Frühen Kaiserzeit (1. Jh. bis 2. Jh. n. Chr.) dürfte zu einer nicht unbeträchtlichen Ausweitung und Intensivierung des Indienhandels beigetragen haben. Die Importgüter aus Indien waren – wie bei den weiten Transportwegen nicht anders zu erwarten – überwiegend Luxusgüter wie kostbare Stoffe, Gewürze, Elfenbein, Juwelen.
Der beidseitig beschriebene Muziris-Papyrus bewahrt zwei Texte, die einzigartige Details des Handels zwischen dem Imperium Romanum und Indien preisgeben. Auf der Rektoseite steht ein subjektiv stilisierter Darlehensvertrag, der sich auf den in Ägypten liegenden Transportweg von Handelsgütern bezieht. In den Vertragsklauseln ist unter anderem von Rückzahlungsmodalitäten die Rede, welche in einem „bei Muziris abgeschlossenen Darlehensvertrag“ festgesetzt sind. Der vorliegende Vertrag über den ägyptischen Abschnitt der Handelsreise stand demnach im Rahmen eines weiter greifenden Darlehensgeschäftes. Muziris ist ein aus historischen Quellen und archäologischen Forschungen gut bekannter Hafen an der Küste von Malabar, der spätestens seit dem 1. Jh. v. Chr. intensive Kontakte zu Ägypten unterhielt. Aus der Erwähnung von Muziris wird deutlich, dass der Gegenstand des Geschäftes eine Seehandelsreise nach Indien war.
Das großformatige Papyrusblatt ist an den beiden Rändern abgebrochen, weshalb der Text nicht vollständig überliefert ist. Beim Vertragstext auf dem Rekto ist eine Kolumne komplett erhalten, aber da der Text sowohl am Beginn als auch am Ende des Schriftfeldes mitten im Satz abreißt, muss vor und nach dem erhaltenen Passus jeweils eine weitere Kolumne gestanden sein, wo unter anderem auch die Namen der beiden Vertragspartner festgehalten waren. Der Darlehensnehmer war offenbar ein Kaufmann, der mit Luxusgütern aus Indien handelte. Der Darlehensgeber dürfte ein reicher Handelsherr gewesen sein, der an allen Stationen der Reise seine Treuhänder (epitropoi) und Geschäftsführer (oikonomoi) hatte.
Der erhaltene Text beschreibt die Reise der Waren von einer Hafenstadt am Roten Meer nach Alexandria, die in mehrere Etappen gegliedert ist. Leider ist jener Teil des Textes verloren, der klargestellt hätte, in welcher Hafenstadt die Waren aus Indien eingetroffen sind und die daher Ausgangspunkt für den beschriebenen weiteren Transport ist.
Die bedeutendsten Häfen für den Indienhandel waren an der ägyptischen Küste des Roten Meeres einerseits Myos Hormos andererseits das viel weiter im Süden gelegene Berenike. Myos Hormos (beim heutigen Qoseir) bot die kürzeste Landstrecke durch die Östliche Wüste bis zur Stadt Koptos (dem heutigen Quft) im Niltal. Allerdings machten es die Windverhältnisse oft schwierig, im Roten Meer nach Norden zu segeln; deshalb steuerten viele Schiffe auch Berenike an, obwohl der Landweg zum Nil hier wesentlich länger war. Welcher Hafen auch immer der Ausgangspunkt des Transportes war – hier dürfte der Vertrag auf der Rektoseite des Papyrus aufgesetzt worden sein.
Die ersten erhaltenen Sätze sprechen vom Transport auf Lasttieren durch die östliche Wüste zwischen Nil und Rotem Meer: Der Darlehensnehmer versichert, zuverlässige Kameltreiber anzuheuern, die Kosten für den Landweg zu übernehmen und den Weg durch die Wüste unter Bewachung und mit allen Sicherheitsvorkehrungen durchzuführen. In Koptos sollen die Waren dann im Zollverwahrlager zwischengelagert und versiegelt werden, bis die Verladung auf ein sicheres Nilschiff erfolgt. Wiederum fallen die Verlade- und Frachtkosten dem Darlehensnehmer zu. Die nächste Etappe ist Alexandria, wo die Waren von dem Nilschiff in das Zollverwahrlager für die „Tetralogie“ – die 25-prozentige Zollgebühr – zu deponieren und abermals zu versiegeln sind. Hier ist die Handelsreise zu Ende, und hier ist ein Viertel der Waren in natura als Zollgebühr zu entrichten. Es wird deutlich, dass der Römische Staat die Importzölle nicht im Hafen am Roten Meer, sondern erst in Alexandria einfordert, somit das Risiko und die Kosten für die Beförderung zu Lande und auf dem Nil den Handelstreibenden zuschob. Im Vertragstext folgen interessante Vereinbarungen über die Sicherung des Darlehens, welche vor allem durch die gehandelten Waren gewährleistet wird. Der Darlehensnehmer räumt seinem Gläubiger und dessen Geschäftsführern die Verfügungsgewalt über die Handelsgüter ein, falls er die Darlehensschuld nicht zum Zeitpunkt, der „in den bei Muziris abgeschlossenen Darlehensverträgen“ festgesetzt ist, zurückgezahlt. Der Gläubiger darf dann ohne weiteren Richterspruch zur Vollstreckung schreiten, indem er die Handelsgüter nach Belieben verkaufen oder weiterverpfänden kann, um die Darlehenssumme einzubringen. Der Text bricht mit den Worten ab: „Das Minus und das Plus der Geschäftseinlage fällt auf mich, den Darlehensnehmer ...“. Alexandria, die pulsierende Metropole am Mittelmeer, dürfte freilich nicht der endgültige Bestimmungsort der Waren gewesen sein. Vermutlich wurden sie von dort aus an andere Destinationen des Mittelmeerraumes distribuiert, vor allem wohl nach Ostia und Rom selbst.
Die Versoseite des Papyrus trägt eine Aufstellung über die Waren und ihre Werte. Auch wenn dies allem Anschein nach privaten Aufzeichnungen des Kaufmannes und nicht die offiziellen Abrechnungen des Zolles sind, ist ein unmittelbarer Bezug zum Vertragstext gegeben. Eine Kolumne ist vollständig und eine weitere bruchstückhafte erhalten. Wenn wir die bruchstückhaften Angaben richtig verstehen, dann hat man hier festgehalten, wie viele Waren und Werte nach Abzug der Tetarte und einer weiteren Abgabe „für die Arabarchen“ (einer Behörde, welche den Import am Roten Meer kontrollierte) übrigbleiben werden. Diese Aufstellung könnte vom Darlehensnehmer oder von einem Geschäftsführer des Gläubigers in einer der Stationen der Reise oder an Bord des Nilschiffes geschrieben worden sein. Die erhaltenen Angaben zu den Produkten und Quantitäten sind von höchstem wirtschaftsgeschichtlichen Interesse, sind es doch die einzigen konkreten Zahlen, die wir über eine antike Handelsreise nach Indien besitzen. Die Angaben lassen sich wie folgt zusammenfassen:
– 167 Elephanten-Stoßzähne mit einem Gewicht von 105 Talenten + 13 Minen (ca 3.314 kg)
– Schadhafte Elephanten-Stoßzähnen: 17 Talente + 33 Minen (ca 553 kg)
– Pfeffer (?): ca 4.410 Talente (ca 138.915 kg)
– Unbekanntes Produkt ca 1.200 Talente (ca 37.800 kg)
– Gangitische Narde: 80 kistai (? kg)
Die Fracht des Handelsschiffes (dessen Namen wir hier erfahren: Hermapollon) bestand also aus Pfeffer, der im Gewicht den weitaus größten Teil der Ladung ausmachte, ferner Elfenbein, Narde und einem weiteren, unbekannten Produkt. Insgesamt wog die Fracht etwa 180 Tonnen. Wir kennen Nilschiffe, die beträchtlich mehr Gewicht transportieren konnten.
Die Aufstellung beinhaltet auch aufschlussreiche Wertangaben zu den einzelnen Produkten, von denen Elfenbein bei weitem das kostbarste ist. Am Ende wird schließlich die Gesamtsumme angeführt: Der angegebene Preis der aufgelisteten Güter aus Indien entspricht mit 1151 Talenten, 5.852 Drachmen (= 6.911.852 Silber-Drachmen) einem Wert, der das riesige Volumen des Geschäftes anschaulich macht. Im 2. Jh. n. Chr., zur Zeit unseres Vertrages, entsprach die Silberdrachme ungefähr dem Wert des römischen Sesterz. Damals verdiente ein Tagelöhner pro Jahr maximal 530 Sesterzen, der Sold eines römischen Legionärs betrug pro Jahr 1.400 Sesterzen, der eines Zenturio 18.000 Sesterzen, und die allerhöchsten senatorischen Amtsträger des Reiches hatten ein Gehalt von 300.000 Sesterzen. Dieser Vergleich zum Frachtgut der Hermapollon in Werte von fast 7 Millionen Sesterzen macht anschaulich, in welchen Dimensionen sich der Handel zwischen dem Imperium und Indien bewegte.
Die Fülle an Informationen zur Route der Waren, den Zöllen und zu den Bestimmungen des Darlehensvertrages, mit dessen Hilfe die lange Reise und wohl auch der Ankauf der kostbaren Handelsgüter finanziert wurde, machen den sog. Muziris-Papyrus zu einer herausragenden Quelle für die Wirtschafts- und Rechtsgeschichte der römischen Kaiserzeit. Der rege Handelsverkehr zwischen den Häfen am Roten Meer und Indien lässt zwar vermuten, dass in der Antike tausende ähnliche Verträge existiert haben; aber auch über dreißig Jahre nach seiner ersten Veröffentlichung ist dieser Papyrus bislang ohne Parallele geblieben.
Über den Autor: Univ.-Prof. Dr. Bernhard Palme ist Direktor der Papyrussammlung und des Papyrusmuseums der Österreichischen Nationalbibliothek und Professor für Alte Geschichte und Papyrologie an der Universität Wien.
Anmerkung: Der Muziris-Papyrus ist das Objekt des Monats Februar im Rahmen des Jubiläumsjahres 650 Jahre Österreichische Nationalbibliothek.
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