Identität im Wandel

Forschung

15.12.2017
Geschichte der ÖNB
Zeichnung, schwarzer Mann mit Krone steckt in einem Bottich, ein weißer Mann hält seine Hände über ihn
Als eine der ältesten Kulturinstitutionen des Landes feiert die Österreichische Nationalbibliothek 2018 ihr 650-jähriges Jubiläum.

Autor: Alfred Schmidt

Die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts – die Regierungszeit der Habsburgerherzöge Rudolf IV., genannt der Stifter (1358-1365), und seines Bruders Albrecht III. (1365-1395) – gilt als Epoche eines beispiellosen Aufschwungs und einer bemerkenswerten kulturellen Blütezeit. Die neue Residenzstadt Wien wird zu einem geistigen Zentrum. Im Umkreis des Wiener Herzogshofes entfaltet sich eine vielfältige Kunst- und Kulturszene. 1365 erfolgt die Gründung der Wiener Universität, in deren Folge eine rege Übersetzungstätigkeit in die deutsche Sprache einsetzt. Und es entstehen nicht zuletzt bedeutende Werke der Buchkunst.

Im Umkreis des Prager Hofes entsteht um diese Zeit ein besonders eindrucksvolles Beispiel: das sogenannte Evangeliar des Johannes von Troppau (ÖNB, Cod. 1182). Der prunkvoll ausgestattete, in Goldlettern gedruckte und reich illuminierte Prachtcodex vermerkt im Kolophon am Buchende nicht nur das genaue Fertigstellungsdatum – 1368 –, sondern auch den Namen des Schreibers und Hauptilluminators Johannes von Troppau, Pfarrer zu Landskron und Kanonikus zu Brünn. Dass die Entstehung des Codex in enger Verbindung zu Herzog Albrecht III. zu sehen ist, verraten die vier Wappen der Länder Österreich, Steiermark, Kärnten und Tirol, über die Herzog Albrecht damals regierte. Sie befinden sich in den vier Ecken der Miniaturenseite mit Darstellung aus dem Leben des Evangelisten Matthäus. Als erstes nachweisbares Werk aus der habsburgischen Herzogsbibliothek, das sich im Bestand erhalten hat, gilt es heute als symbolischer Gründungscodex der Österreichischen Nationalbibliothek.


Abb. 1: Evangeliar des Johannes von Troppau, vol. 1 verso., mit den vier Wappen der Länder Albrechts III. (ÖNB, Cod. 1182)

Über Umfang und Inhalt der habsburgischen Bibliothek zur Zeit Kaiser Friedrich III. (1440-93) gibt es bereits gut belegbare Informationen; etwa 60 Titel daraus sind noch nachweisbar, darunter so bedeutende Werke wie die Wenzelsbibel (ÖNB, Cod. 2760), eine deutsche Bibelübersetzung noch lange vor Martin Luther mit einem Umfang von über 2.400 Seiten und mehr als 600 Miniaturen und prächtigem Randschmuck, oder die Goldene Bulle (ÖNB, Cod. 338), eine prachtvolle Abschrift des Reichsgrundgesetzes über die Wahl des deutschen Königs, das der Luxemburger Kaiser Karl IV. (1316–1378) im Jahre 1356 erlassen hatte.


Abb. 2: Wenzelsbibel, Bibel von König Wenzel IV. (ÖNB, Cod. 2760)

Von einer institutionalisierten kaiserlichen Bibliothek kann man aber wohl erst seit der Bestellung des niederländischen Gelehrten Hugo Blotius zum ersten offiziellen kaiserlichen Bibliothekspraefecten durch Kaiser Maximilian II. im Jahre 1575 sprechen. Untergebracht war die über 7.000 Bände umfassende Bibliothek damals in Teilen des Minoritenklosters in unmittelbarer Nähe zum kaiserlichen Hof. Es folgen fast 350 Jahre, in denen die kaiserliche Hofbibliothek eine zentrale Stellung im Habsburgerreich innehatte. Der entscheidende Schritt vor allem in Richtung Sichtbarkeit der Bibliothek nach außen war die Errichtung des eindrucksvollen repräsentativen Barockgebäudes am Josefsplatz 1723-26 unter Kaiser Karl VI. nach Plänen des wohl bedeutendsten Barockarchitekten seiner Zeit, Johann Bernhard Fischer von Erlach. Der Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek gilt bis heute als einer der schönsten historischen Bibliotheksbauten weltweit – gleichzeitig steht er für ein demonstratives Signal der Öffnung der Bibliothek nach außen, wie aus der Inschrift über dem Mittelportal, aber auch aus der vom Kaiser selbst erlassenen Bibliotheksordnung hervorgeht. Dort heißt es:

„Niemand soll heimlich eintreten, noch Hand an die Bücherschränke legen. Das gewünschte Buch soll man verlangen, benützen und dabei rein bewahren, es also nicht durch Riß und Stich beschädigen, noch mit Notizen bekritzeln. Das Einlegen von Lesezeichen und die Anfertigung von Exzerpten sind erlaubt. Man soll sich auch nicht auf das Buch stützen, noch beim Schreiben das Papier auf dieses legen. Tinte und Streusand möge man weitab halten. Unwissende, Diener, Faule, Schwätzer und Herumspazierer mögen fernbleiben. Das Schweigen werde gewahrt; auch soll man nicht durch lautes Lesen die anderen Benützer stören. Wenn man sich entfernen will, soll man das Buch schließen, dieses, sofern es klein ist, persönlich zurückgeben, sofern es groß ist, dem Aufseher Mitteilung machen und es auf dem Tisch liegen lassen.
Der Benützer braucht nichts bezahlen, er soll reicher von dannen gehen und öfter wiederkehren.“

Der Untergang der Donaumonarchie 1918 macht eine grundlegende Neubestimmung und Neubenennung der Bibliothek notwendig. Man verfiel auf den eigentümlich unbestimmten Namen „Nationalbibliothek“ in Anbetracht der Tatsache, „dass eine österreichische Nation bekannter Weise nicht existiert“ (Zitat Generaldirektor Josef Donabau; s. Stummvoll 1968: 617/18). Erst 1945 mit dem Entstehen der Zweiten Republik und einem neuen nationalen Selbstbewusstsein erfolgt schließlich die Umbenennung in ihren heutigen Namen. Seither ist die Österreichische Nationalbibliothek zentrale Archivbibliothek und ein symbolischer Ort kultureller Identität des Landes.

Die Ausstellung Schatzkammer des Wissens. 650 Jahre Österreichische Nationalbibliothek, die im Mittepunkt des Jubiläumsjahres steht, zeigt ihre bewegte Geschichte im Spiegel ihrer herausragendsten und kostbarsten Bestandsobjekte, die vielleicht noch nie zuvor in so konzentrierter Form an einem Ort zu sehen waren. In einer eigenen Reihe mit dem Titel Objekt des Monats werden in der Folge zwölf der bedeutendsten Sammelstücke des Hauses von ExpertInnen an  einem Abend im Monat vorgestellt. Die Objekte sind jeweils nur für kurze Zeit zu sehen.

Veranschaulicht wird mit diesen Highlights aus den historischen Sammlungen gleichzeitig eine mehr als 3.000-jährige  Mediengeschichte, die sich in den Sammlungsobjekten widerspiegelt: von den antiken Papyri, über mittelalterliche Pergamentcodices, Inkunabeln und frühen Drucken, ersten Zeitungen bis hin zum modernen Taschenbuch, aber auch anderen Medienarten wie Grafik, Fotografie, Plakat, Landkarten und Globen bis zu den modernen elektronischen Medien, die heute den Alltag der Bibliothek wesentlich mitbestimmen.

In all diesen markanten politischen Einschnitten, Ortswechseln und Medienbrüchen bewahrte das Haus aber seine ganz eigene, unverwechselbare Identität. Die Umbrüche, die diese Institution im Laufe ihrer langen Geschichte erlebte, sind nicht zuletzt auch ein Spiegel der wechselvollen politischen Geschichte dieses Landes. 650 Jahre Österreichische Nationalbibliothek zu feiern, bedeutet daher auch, sich zu dieser Geschichte zu bekennen, auch zu ihren weniger ruhmreichen Kapiteln, wie etwa der Epoche des Nationalsozialismus, die von der Österreichischen Nationalbibliothek in den letzten 15 Jahren eingehend aufgearbeitet wurde.

Die Besinnung und Reflexion auf die eigene Vergangenheit ist aber auch die Basis für eine Zukunftsorientierung. Die zukünftigen Herausforderungen und Chancen werden wesentlich bestimmt durch die digitalen Medien, die heute eine Öffnung der Bibliotheken in noch nie zuvor denkbarer Weise ermöglichen. Die Österreichische Nationalbibliothek ist auch auf diesem Sektor der modernen Bibliothekstechnologien und –entwicklungen ganz vorne mit dabei: Große Massendigitalisierungsprojekte wie das Kooperationsprojekt Austrian Books Online mit Google oder das Zeitungsportal ANNO, und zukunftsorientierte Themen wie Linked Open Data und digitale Editionen prägen heute entscheidend den Alltag der Bibliothek. Ein eigenes wissenschaftliches Symposium im September 2018 wird sich mit diesem Thema befassen.


Abb. 3: Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek

Einen Gesamtüberblick zu allen im Jubiläumsjahr bevorstehenden Veranstaltungen und Angeboten finden Sie auf der Website der Österreichischen Nationalbibliothek.

Über den Autor: Dr. Alfred Schmidt ist wissenschaftlicher Assistent der Generaldirektorin der Österreichischen Nationalbibliothek und verantwortlicher Redakteur des Forschungsblogs.

Literatur:

Stummvoll, Josef (Hrsg.) (1968): Geschichte der Österreichischen Nationalbibliothek. Erster Teil: Die Hofbibliothek (1368-1922). Wien: Georg Prachner Verlag.

Achtung
Prunksaal

Aufgrund einer Veranstaltung wird der Prunksaal am Donnerstag, 14. November bereits um 18 Uhr geschlossen.

Folgen Chat
JavaScript deaktiviert oder Chat nicht verfügbar.