Was erzählen uns Pergament, Metalltuschen und Farben über die karolingische Handschrift und ihre Entstehung?
Autor*innen: Christa Hofmann, Dubravka Jembrih-Simbürger, Jiří Vnouček, Maurizio Aceto, Thomas Rainer
Der Dagulf Psalter, Codex 1861 der Österreichischen Nationalbibliothek, ist eine lateinische Handschrift, die wahrscheinlich zwischen 794 und 795 von einem Schreiber namens Dagulf im Auftrag Karls des Großen geschaffen wurde. Der Inhalt umfasst zwei Widmungsgedichte, Vorreden (Prolegomena), die Psalmen, biblische Lieder (Cantica) und Eintragungen zur Geschichte der Handschrift aus späterer Zeit (Holter, 1980). Im ersten Gedicht widmet Karl der Große die Handschrift Papst Hadrian I., dem geplanten Empfänger. Papst Hadrian I. starb 795 und erhielt das Geschenk vermutlich niemals. Im zweiten Gedicht widmet Dagulf sein Werk Karl dem Großen. Die Texte, die Schrift und die bildliche Ausstattung von Codex 1861 wurden schon vielfach untersucht und beschrieben, zuletzt von Lawrence Nees in seiner Zusammenstellung fränkischer Handschriften (Nees, 2022).
In unserer Untersuchung versuchen wir, die Sprache der Materialien, aus denen der Psalter geschaffen wurde, zu verstehen und daraus Rückschlüsse auf seine Entstehung zu ziehen. Was erzählen uns die Pergamenthäute, die Metalltuschen und die Farben über die Handschrift und die Künstler, die sie schufen? Die genaue Kenntnis der Materialien und ihrer Veränderungen sind auch wichtig, um den Psalter bestmöglich zu erhalten. Im Widmungsgedicht bezeichnet sich Dagulf als exiguus famulus, als demütiger Diener, der darum bittet, dass sein Werk mit Gelehrsamkeit gelesen wird. Wir bemühen uns, die Botschaft des Materials zu lesen, das Dagulf verwendete und das uns überliefert ist. Dabei schauen wir mit unseren Erfahrungen und unseren unterschiedlichen Blickwinkeln auf die Handschrift: als Restaurator*innen, als Naturwissenschafter*innen und als Kunsthistoriker*innen. Mit unseren verschiedenen Expertisen ergründen wir gemeinsam die Botschaft der Materialität. Angestoßen hat die Suche Thomas Rainer im Projekt Textures of Sacred Scripture der Universität Zürich.
Das Pergament
Dagulf schrieb den Text mit Goldtusche auf Kalbpergament. Wie Jiří Vnouček bei seinen Untersuchungen des Pergaments feststellte, stammen die Häute von sehr jungen Tieren (Vnouček, 2019). Im Pergament sehen wir Zeichen der Anatomie der Kälber, z. B. die Position des Rückgrats. Im Bereich der Wirbelsäule ist das Haar rosettenförmig gedreht. Durch genaue Untersuchung des Pergaments kann man rekonstruieren, aus welchen Teilen der Tierhaut die Folios herausgeschnitten wurden. Der Psalter hat ein kleines Format, 203 x 132 cm. Die Position des Rückgrats variiert stark auf den Doppelblättern. Das bedeutet, dass die Folios ökonomisch aus der Haut geschnitten wurden. Wir sehen auf einigen Folios Haarfollikel und Haarreste der Kälber.
Nach der Reinigung von Fleisch- und Haarresten wurde die Haut auf einen Rahmen gespannt und mit halbmondförmigen Messern geschabt. Spuren dieser Messer sehen wir noch heute auf dem Pergament. Der Pergamentmacher verwendete zuerst ein größeres und dann ein feineres Messer. Im Streiflicht erkennen wir die Spuren unterschiedlicher Messer.
Die Haar- und die Fleischseite wurden lange und sorgfältig bearbeitet und geglättet. Das Pergament ist auf beiden Seiten von ähnlicher Farbe und Oberflächenbeschaffenheit. Im Psalter finden wir nur wenige Folios mit Löchern. Auch heute nach über 1200 Jahren ist das Pergament noch in sehr gutem Zustand und kann mühelos umgeblättert werden. Die wechselvolle Geschichte der Handschrift, die vermutlich in Aachen entstand und über Bremen im 16. Jahrhundert nach Wien gelangte, überstand das Pergament fast unbeschadet. Dagulf wählte ausgezeichnete Häute für sein Werk aus.
Metalltuschen
Auf dem gut vorbereiteten Pergament schrieb Dagulf den Text mit Goldtusche in karolingischer Minuskel. Die Tusche besteht aus reinem Gold mit einem geringen Kupferanteil, wie Dubravka Jembrih-Simbürger mit Röntgenfluoreszenzanalyse (RFA) feststellte (Jembrih-Simbürger, 2021). Die Goldpartikel sind relativ groß, wie sich im Stereomikroskop beobachten lässt .
Zur Herstellung der Tinte wurde körniges Gold verwendet (Turner, 2022). Der Schreibduktus der Goldtusche ist sehr gleichmäßig. Im Institut für Restaurierung stellten wir aus Blattgold Pulvergold her, welches mit Gummi arabicum zu einer Goldtusche vermischt wurde. Auf Pergament aufgetragen reflektieren die feineren Goldpartikel der Pulvergoldtusche das Licht anders als körnigeres Gold.
Die kompaktere Goldtusche des Psalters glänzt beim Umblättern der Seiten und bei unterschiedlichen Lichtquellen stärker als Pulvergold. An Gold wurde nicht gespart. Die Goldschrift hat den Psalter so berühmt gemacht, dass er auch unter dem Namen ‚Goldener Psalter‘ bekannt wurde. Die Nebenbestandteile des Goldes erzählen über die Zusammensetzung und die Herstellung. Im gesamten Psalter ist die Zusammensetzung der Tusche ähnlich. Manche ForscherInnen vermuten, dass ein zweiter Schreiber die Cantica ab Folio 146 verfasste (Holter, 1980; Nees, 2022). Das Verhältnis Gold zu Kupfer ist auf allen Seiten ähnlich. Ein möglicher zweiter Schreiber verwendete die gleiche Rezeptur. Vielleicht handelte es sich um einen Schüler Dagulfs. Auch in den prachtvollen Zierseiten mit den Anfängen der Psalmen 1, 51 und 101 verwendete Dagulf Goldtuschen. Das Gold ist etwas abgerieben, doch die glänzende Erscheinung hat sich über die Jahrhunderte kaum verändert.
Anders wirkt heute die Silbertusche. Das Silber ist stark korrodiert. Mit RFA-Untersuchungen konnten wir feststellen, dass sich chlorhaltige Silberkorrosionsprodukte gebildet hatten (Jembrih-Simbürger, 2023). Text und Dekor in Silbertusche sind heute grau bis schwarz.
Korrosionsprodukte des Silbers sind als schwarze Schatten auf die Rückseiten des Pergaments migriert.
Haben schon Dagulf oder seine Zeitgenoss*innen die Veränderungen am Silber wahrgenommen? Wir wissen es nicht. Auf Seite 67r wurde dunkelblaue Farbe über den ursprünglichen Text aufgetragen. Vielleicht war das ein Versuch, den dunklen Durchschlag der Silbertusche zu verstecken. Trotz der chemischen Veränderungen kam es durch die Oxidation des Silbers zu keinen mechanischen Schäden des Pergaments. Den ursprünglichen Kontrast von Silber und Gold auf dunklem Hintergrund können wir heute nicht mehr sehen. In einer digitalen Rekonstruktion versuchte Birgit Speta den ursprünglichen Eindruck der Zierseite, fol. 67v, mit dem Beginn von Psalm 51 wiederzugeben.
Feuchtigkeit, Schadstoffe und Salze, die bei der Herstellung der Silbertusche verwendet wurden, könnten die Veränderungen bewirkt haben. Hier ist der Vergleich mit anderen Handschriften interessant, in denen Silbertuschen zum Einsatz kamen. Auch bei den Silbertuschen erzählen die Nebenbestandteile wie Chlor und Kupfer etwas über Herstellung und Veränderungen.
Farben
Die prachtvollen Zierseiten am Beginn der Psalmen 1, 51 und 101 haben den Psalter berühmt gemacht. Gold- und Silbertuschen leuchteten auf purpurrotem und dunkelblauem Untergrund. Im Text der Psalmen und Cantica sind die Initialen farbig gestaltet. Was erzählen uns die Farben über die Geschichte der Handschrift?
Die rote Purpurfarbe ist eine Referenz an die antike und byzantinische Kunst. Maurizio Aceto identifizierte mit Faseroptik-Reflexions-Spektroskopie (FORS) den Farbstoff Orchil oder Orseille (Aceto et al., 2015). Orchil ist ein seit der Antike bekannter Flechtenfarbstoff, mit dem Textilien und Pergament purpur gefärbt wurden. Orchil ist günstiger und einfacher herzustellen als der aus Schnecken gewonnene Purpurfarbstoff (Rabitsch et al., 2020). Im Gegensatz zu Schneckenpurpur ist Orchil jedoch sehr lichtempfindlich. Da Bücher meist geschlossen aufbewahrt wurden, spielte die Lichtempfindlichkeit in einer Handschrift eine geringere Rolle als bei einem purpurgefärbten Gewand. Auf Folio 25r sehen wir, dass der Farbstoff mit dem Pinsel aufgetragen worden war. Im Vergleich mit neuen Aufstrichen des Flechtenfarbstoffs ist die Farbe blasser und bräunlicher. Bei Alterungsversuchen am Licht stellten wir fest, dass sich Orchil bräunlich verfärbt und heller wird. Die Doppelseite 24v – 25r war wahrscheinlich bei Ausstellungen oder Präsentationen in der Vergangenheit länger dem Licht ausgesetzt.
Auch in den kleinen Initialen sehen wir im Dekor den roten Purpurfarbstoff Orchil, in verschiedenen Schattierungen, meist in Kombination mit Blau und Gold. Die Künstler*innen des Dagulf-Psalters kannten die antike Herstellung der Flechtenfarbstoffe. Vielleicht erhielten sie von byzantinischen Künstler*innen im Umfeld Karls des Großen davon Kenntnis oder kannten Purpurhandschriften im Besitz des Kaisers. Die rote Purpurfarbe erzählt von der Verbindung zur antiken und byzantinischen Kunst sowie vom Wissenstransfer in die karolingische Zeit.
Das dunkle Blau auf den Zierseiten Fol. 67v und Fol. 108v ist Indigo, wie Maurizio Aceto mit FORS und Wilfried Vetter mit Hyper Spectral Imaging (HSI) beweisen konnten (Jembrih-Simbürger, 2021). Wahrscheinlich handelt es sich um Färberwaid, Isatis tinctoria, ein Indigotin-Farbstoff, der in Europa angebaut wurde (Cardon, 2007). Der ausgefällte Farbstoff wird mit einem Bindemittel, z. B. Gummi arabicum, wie ein Pigment vermalen (Porter, 2019 und 2022).
Bei einer hohen Pigmentkonzentration wirkt die Farbe fast schwarz, wie auf Fol. 67v. Die Oberfläche ist grobkörnig. Wenn sich das Pergament bewegt und die Seiten aneinander reiben, wird Farbe abgerieben. Dieses Phänomen sehen wir auf Folio 108v und 109r. Durch den blauen Farbverlust wirkt der Untergrund heller.
Auf der gegenüberliegenden Seite sehen wir blaue Farbspuren. Die dunkelblaue Farbe bildet einen schönen Kontrast zu Gold und Silber. Den Farbakkord Purpurrot und Dunkelblau finden wir auch im Krönungsevangeliar der Wiener Schatzkammer. Purpurfarben können in roten und blauen Schattierungen hergestellt werden. Der Einsatz von Orchil und Indigo/Waid erinnert an das große Farbspektrum von Purpur. Thomas Rainer forscht im Projekt Textures of Sacred Scripture über die Bedeutung der Farbe Purpur in mittelalterlichen Handschriften. Dagulf verwendete Indigo auch in den Initialen des Psalmentextes. Manchmal mischte er Indigo/Waid mit Auripigment, ein gelbes arsenhältiges Pigment, um ein Blaugrün zu erhalten. In den Cantica wird dieses Grünblau häufiger verwendet ev. vom zweiten Schreiber.
Das zweite Blaupigment, das wir in der Handschrift finden, ist Ultramarin oder Lazurite, das aus dem Halbedelstein Lapislazuli gewonnen wird. Die wichtigsten Abbaustätten für Lapislazuli lagen im Gebiet von Afghanistan und Pakistan (Eastaugh et al., 2004, Frison and Brun, 2016). Der Dagulf-Psalter ist gemeinsam mit dem Krönungsevangeliar ein frühes Beispiel für die Verwendung von Ultramarin in der westlichen Buchkunst. Voraussetzung für den Einsatz von Ultramarin waren gute Handelsverbindungen in den nahen Osten. Natürliches Ultramarin war ein teures Pigment. Die Verwendung von Ultramarin ist ein Zeichen für den Wert des Psalters und eine Referenz an antike Kunstwerke. Natürliches Ultramarin von hoher Qualität hat eine starke Farbwirkung. Die Oberfläche von Ultramarin ist manchmal abgerieben wie auf Fol. 24v. die Strahlkraft der Farbe ist noch gut erkennbar. Die mit Ultramarin ausgeführten Initialen leuchten wie Edelsteine.
Ziel der Konservierung ist, den gealterten Zustand der Handschrift zu erhalten. Die genaue Kenntnis der Materialien und ihrer Veränderungen hilft uns dabei. Wir bemühen uns, möglichst stabile Bedingungen zu schaffen und kontrollieren den Zustand des Psalters regelmäßig. Ein konstantes Klima verhindert starke Bewegungen des Pergaments und damit Farbabrieb.
Depotbedingungen mit möglichst niedrigen Schadstoff-Werten beugen weiterer Korrosion der Silbertuschen vor. Wir wollen alle Spuren und Aussagen des Materials erhalten, auch jene, die wir noch nicht verstehen oder zu deuten wissen. Verständnis für die verschiedenen Materialien und ihre Botschaft ist dafür eine Voraussetzung.
Die Arbeiten zum Dagulf-Psalter werden bei der Konferenz Care and Conservation of Manuscripts in Kopenhagen im April 2023 präsentiert und im Konferenzband publiziert.
Weitere Ergebnisse der gemeinsamen Untersuchungen werden in der von Thomas Rainer und Charlotte Denoël herausgegebenen Konferenzschrift "Purple Ornament in Medieval Manuscripts. Materials, Semantics and Sensual Quality" Anfang 2024 erscheinen.
Die naturwissenschaftlichen Untersuchungen wurden durch das Projekt Textures of Sacred Scripture mit Unterstützung des Schweizer Nationalfonds finanziert. Wir danken Cheryl Porter und Nancy Turner für Beratung und wichtige Hinweise.
Über die Autor*innen:
Christa Hofmann, Institut für Restaurierung, Österreichische Nationalbibliothek
Dubravka Jembrih-Simbürger, Institut für Naturwissenschaften und Technologie in der Kunst, Akademie der bildenden Künste Wien
Jiří Vnouček, Abteilung für Konservierung, Königliche Dänische Bibliothek Kopenhagen
Maurizio Aceto, Dipartimento per lo Sviluppo Sostenibile e la Transizione Ecologica, Università degli Studi del Piemonte Orientale, Vercelli
Thomas Rainer, Institut für Kunstgeschichte der Universität Zürich
Literaturangaben:
Aceto, Maurizio, Aldo Arrais, Francesco Marsano, Angelo Agostino, Gaia Fenoglio, Ambra Idone, Monica Gulmini (2015). „ A diagnostic study on folium and orchil dyes with non-invasive and micro-destructive methods.” Spectrochimica Acta Part A: Molecular and Biomolecular Spectroscopy 152: 159 – 168.
Cardon, Dominique (2007). Natural Dyes. London: Archetye Publications: 335 -408.
Eastaugh Nicholas, Valentine Walsh, Tracey Chaplin, Ruth Siddall. The Pigment Compendium. Oxford: Elsevier Butterworth-Heinemann: 218 – 219.
Frison Guido, Giulia Brun (2016): „Lapis lazuli, lazurite, ultramarine blue, and the colour term azure up to the 13th century”. In Journal of the International Colour Association 16: 41 – 55.
Holter, Kurt (1980): Der Goldene Psalter, Dagulf-Psalter, Kommentar. Graz, Akademische Druck- und Verlagsanstalt: 40 – 57, 73 -83.
Jembrih-Simbürger, Dubravka (2021 und 2023): Interne Analysenberichte.
Nees, Lawrence (2022): Frankish Manuscripts, The Seventh to Tenth Century. Bd. 2, Katalog. Turnhout: Harvey Miller Publishers: 120 – 123.
Porter, Cheryl (2019): „Recreating the colours on the Medieval palette”, class at the Montefiascone study programme, https://www.monteproject.com/study-programme/
Porter, Cheryl (2022): persönliche Kommunikation.
Rabitsch Sophie, Inge Boesken Kanold, Christa Hofmann (2020). „Purple dyeing of parchment“. In C. Hofmann (ed.) The Vienna Genesis: Material analysis and conservation of a Late Antique illuminated manuscript on purple parchment. Wien: Böhlau Verlag: 71 – 101.
Turner, Nancy (2021): “Surface Effects and Substance: Precious Metals in Illuminated Manuscripts”. In J. S. Ackley and S. L. Wearing (eds.) Illuminating Metalwork: metal, object and image in medieval manuscripts. Stanford: De Gruyter: 51 – 110.
Vnouček, Jiří (2019): The Language of Parchment. Tracing the evidence of changes in the methods of manufacturing parchment for manuscripts with the help of visual analysis. Dissertation. Medieval Studies. University of York: 190 – 193.
Aufgrund einer Veranstaltung wird der Prunksaal am Donnerstag, 14. November bereits um 18 Uhr geschlossen.