Magie, der Erzengel Michael und Männerliebe

Forschung

07.06.2024
Papyri und antike Schriftstücke
Papyrus

P.Vindob. G 328 ist ein schon lange bekanntes Papyrusfragment aus der Papyrussammlung der Österreichischen Nationalbibliothek. Die erste Edition, die allerdings nur Teile umfasste, stammt schon aus 1893. Im Jahr 1931 erschien eine vollständige Edition im Korpus ‚Papyri Graecae Magicae‘. Da der Text sehr schwierig zu lesen ist, dachte man lange Zeit, dass der Papyrus ein Amulett gegen Ohrenschmerzen und/oder gegen Fieber sei. Eine erneute Studie des Papyrus hat aber gezeigt, dass dessen Inhalt spannender ist als bisher angenommen.

Autor: Guus A. J. C. van Loon 

Magie in den antiken Quellen

In der antiken Welt war der Glaube an Magie – einfach gesagt, der Versuch, mit übersinnlichen Kräften die Welt zu beeinflussen – allgegenwärtig. In der Literatur und Kunst gibt es unzählige Beispiele dafür. Man denke etwa an die Hexe Kirke, die in der ‚Odyssee‘ von Homer die Männer in Tiere verwandelte, oder an Lucius, der in den ‚Metamorphosen‘ des Apuleius mit Magie in einen Esel verzaubert wurde. 

Abb. 1: Kirke flüchtet vor Odysseus, hinter ihm zwei verzauberte Männer, Kalyx Krater, Attika, ca. 440 v. Chr. (The Metropolitan Museum of Art 41.83; Public Domain)

Aber Magie war nicht nur auf die Literatur und die bildenden Künste beschränkt, sondern wurde auch ganz konkret im Alltag angewendet, wie sich etwa aus antiken Rechtstexten erschließen lässt. So ist in den ‚Sententiae Pauli‘, einem Rechtskompendium aus dem späten 3. Jh. n. Chr., ein sehr klares Verbot der Anwendung von Magie überliefert:

Es wurde verordnet, dass diejenigen, die sich mit den magischen Künsten einlassen, die höchste Strafe bekommen: sie sollen den Tieren vorgeworfen oder gekreuzigt werden. Echte Magier dagegen sollen lebendig verbrannt werden. Es ist niemandem erlaubt, Bücher der magischen Kunst zu besitzen. Falls sie im Besitz einer Person gefunden werden, sollen die Bücher öffentlich verbrannt werden und nachdem ihre Besitzungen konfisziert wurden, sollen die Besitzer auf eine Insel verbannt werden, Niedrigergestellte sollen die Todesstrafe bekommen. Nicht nur die Ausübung dieser Kunst, sondern auch das Wissen darüber ist verboten.
Sententiae Pauli 5.23.17-18

Aus dem Kontext ist deutlich abzulesen, dass sich das Verbot auf Schadensmagie bezog. Über Magie, die dem Schutz oder der Heilung dient, schweigen die Rechtsquellen, aber wir wissen z.B. aus den Homilien der Kirchenväter, dass auch deren Gebrauch weit verbreitet war.

Abb. 2: P.Vindob. K 7110: Amulett gegen Skorpione (Papyrussammlung der Österreichischen Nationalbibliothek)

Auch unter den papyrologischen Quellen aus Ägypten gibt es viele Zeugnisse für schützende und heilende Magie. In der Papyrussammlung der Österreichischen Nationalbibliothek werden dutzende Amulette aufbewahrt, die einst gegen Skorpionstiche, Hundebisse oder zur Heilung von Krankheiten dienen sollten. Zu letzteren zählte auch, so dachte man jedenfalls lange Zeit, P.Vindob. G 328.

P.Vindob. G 328: fünfmal Magie auf einem Papyrus

Abb. 3: P.Vindob. G 328: Papyrus mit magischen Texten (Papyrussammlung der Österreichischen Nationalbibliothek)

Das Fragment, das auf Grund der Handschrift ins 3.-4. Jh. n. Chr. datiert wird, sieht auf den ersten Blick ziemlich chaotisch aus. Zumindest fünf verschiedene Textelemente und eine Zeichnung sind zu unterscheiden, die aber ganz eng aneinander oder sogar übereinander geschrieben wurden, wodurch sie optisch kaum auseinanderzuhalten sind. Da man aber gleiche und ähnliche Textbausteine auch in anderen magischen Papyri findet, lassen sich die einzelnen magischen Elemente doch aus dem ungeordneten Gesamtbild herauslösen.

Backsteinchen

Abb. 4: P.Vindob. G 328: ‚plinthion‘ in vollständiger und in verkürzter Form

Ganz links sieht man ein sogenanntes ‚plinthion‘ (‚Backsteinchen‘): in sieben Zeilen stehen je siebenmal die sieben Vokale des griechischen Alphabets. In verkürzter Form und in umgekehrter Reihenfolge ist dasselbe auch in der Mitte des Fragmentes zu finden, dort steht untereinander geschrieben „Ω7“, „Υ7“ usw., zu lesen entsprechend als Omega 7x, Ypsilon 7x und so fort. Die genaue Bedeutung dieser in der Magie sehr häufig verwendeten Vokalfolgen ist unklar. Vermutlich sollte man diese Vokale laut vorlesen, was möglicherweise zurückgeht auf eine altägyptische Sitte der Priester (oder die Idee, dass es so eine Sitte gab), die Gottheiten mit Vokalklängen anzurufen:

In Ägypten loben die Priester die Götter mit den sieben Vokalen, die sie nacheinander äußern. Die Klänge dieser Vokale sind so süß, dass man sie lieber hört, als die Klänge der Flöte oder Kithara.
Pseudo-Demetrios von Phaleron (2. Jh. n. Chr.), Über den Ausdruck 2.71

Der Erzengel Michael als Dämon

Abb. 5: P.Vindob. G 328: Schwindeschema „Michael, Ichael, Chael, Ael, El, L“

Das dritte Element kommt wahrscheinlich aus der jüdischen Mystik: Im Schwindeschema wurde der Name des Erzengels Michael sechsmal untereinander geschrieben, wobei in jeder Zeile ein Buchstabe mehr weggelassen wurde. Darunter standen vermutlich noch andere Engelsnamen. Die Anrufung des Erzengels für ein magisches Ritual wirkt auf die oder den heutige*n Leser*in befremdlich, die Trennung von Religion und Magie war aber in der Antike noch nicht so dogmatisch. Wir wissen aus hunderten Amuletten, Sprüchen und Flüchen, dass es sehr gebräuchlich war, göttliche Kräfte (in der Magie „Dämonen“ genannt) aus verschiedenen Religionen und Kulturen anzurufen. In magischen Texten erscheinen oft die Namen heidnischer Gottheiten und Dämonen neben jenen von Engeln, Erzengeln und selbst Christus.

Abb. 6: P.Vindob. G 328: Zeichnung einer Figur mit einer ‚vox magica‘

Das vierte Textelement bildet eine Einheit mit der Zeichnung einer menschlichen Gestalt. Leider sind hier Text und Zeichnung teilweise abgebrochen. Wenn man die Zeichnung mit anderen magischen Texten vergleicht, wird deutlich, dass wir wohl die Darstellung eines Dämons sehen. Erhalten blieb nur der Oberkörper in viereckiger Form und der Ansatz eines Rockes. Die Figur hält etwas in der Hand, was bislang als Stab mit Henkelkreuz interpretiert wurde. Man könnte in dem Gegenstand aber vielleicht eher einen Speer erkennen, das Symbol des angerufenen Erzengels Michael. Die Zeichnung könnte entsprechend auch als Darstellung des Erzengels Michael zu interpretieren sein.

In einem Kreis um die Figur herum steht eine ‚vox magica‘, ein magisches Wort oder ein Name. Erhalten ist nur der Beginn beim oberen Ende des Stabes bzw. Speeres, nämlich ‚Soro-‘, sowie das Ende des Wortes bei der Hand der Figur, nämlich ‚-ourinx‘. Dies lässt sich anhand von Parallelen problemlos ergänzen zu: ‚Soro[ormerphergarbarmaphri]ourinx‘. Dieser häufig benutzte magische Ausdruck oder Name lässt sich inhaltlich nicht deuten, vermutlich war er einfach geheimnisvoll und komplex genug, um ihn für magisch wirksam zu halten.

Ein Heilungsamulett nach der Edition von 1931

Abb. 7: P.Vindob. G 328: Liebeszauber

Dass man fast 90 Jahre dachte, dass der Papyrus als Amulett benutzt wurde, liegt an der damaligen Entzifferung des größten zusammenhängenden Textes, der in der Mitte zwischen den bisher beschriebenen Elementen steht. Wie die Abbildung zeigt, ist gerade dieser Text in einem schlechten Erhaltungszustand und nur einige Wörter konnten mit Sicherheit gelesen werden, darunter das Wort für Ohrenschmerzen (‚otalgia‘) und das Partizip „brennend (mit Fieber)“ (‚kaiomena‘). Deswegen dachte man, dass es sich um ein sogenanntes ‚phylakterion‘ handeln musste, ein Amulett, das zum Schutz vor Krankheiten oder zur Heilung dienen sollte.

Abb. 8: Die erste Transkription (Preisendanz, 1931)

Eine Zauberanleitung nach der Edition von 2020

Der Papyrus wurde vor wenigen Jahren von Franco Maltomini zur Gänze neu publiziert, wobei die neuen Lesungen des zentralen Textteils dem Zeugnis eine völlig neue Deutung geben – aus den "Ohrenschmerzen" (‚otalgia‘) wurde eine Anrufung von Heiligen und das "Brennen" steht nunmehr in einem emotionalen Kontext:

„[Dämonennamen] ziehe ihn, [Person 1], an. … die heiligen Namen … mit Blut beschrieben. Brenne … füge das Übliche hinzu, bis er, [Person 1], zu ihm [Person 2] kommt, als ob er getrieben wird und diese Dinge werden nicht aufhören zu brennen bis er, [Person 1], kommt, brennend!“ 

Abb. 9: Die neue Transkription (Maltomini, 2020 & 2022)

Trotz des schlechten Zustandes und den fehlenden Stellen ist eindeutig, dass es sich um eine Anleitung für einen Liebeszauber handelt – eine der düstersten Formen von Magie in der Antike. Mittels solcher Liebeszauber sollte ein Dämon dazu gebracht werden, ein ausgewähltes Opfer so zu verhexen, dass es sich mit brennendem Verlangen nach dem Auftraggeber verzehrt. Die Wortwahl der Zauber lässt dabei nicht an eine romantische Liebe denken, sondern an eine Obsession, die nicht nur die Gedanken des Opfers, sondern auch seinen Körper angreifen solle.

Das heißt: G 328 ist gar kein heilendes Amulett, sondern ein Fragment eines solchen magischen Handbuches, wie es nach den ‚Sententiae Pauli‘ strikt verboten war!

Männerliebe

Anscheinend waren die Gesetze gegen Magie nicht sehr effektiv, da dutzende solcher Liebeszauber erhalten sind. Wenn man den Text von G 328 aber mit anderen griechischen Liebeszaubern vergleicht, zeigt sich, dass hier eine spezielle Variante vorliegt. Zumeist sind diese Texte so formuliert, dass sie von einem Mann geschrieben sind, um eine Frau zu verzaubern. Bei manchen Zeugnissen ist die Anwenderin der Magie eine Frau, die einen Mann verzaubern möchte. In diesem Text werden aber immer die männlichen Artikel benutzt, um die involvierten Personen anzudeuten. Die Anleitung ist offenbar für einen homoerotischen Liebeszauber gemacht.

Man könnte einwenden, dass der Text ein Musterformular mit standardisierten Formulierungen darstellt, wo man einfach überall die männlichen Artikel benutzte und diese dann bei der konkreten Anwendung durch die entsprechenden Namen oder Pronomina ersetzte. Der Vergleich mit den anderen überlieferten Mustertexten für Zaubersprüche zeigt aber, dass es üblicherweise nicht so gehandhabt worden ist. Man sollte den Text daher besser wörtlich nehmen und festhalten, dass er konkret einen Liebeszauber für Männerliebe überliefert. Es ist damit eines der wenigen Beispiele für gleichgeschlechtlichen Liebeszauber, die bisher aus der Antike bekannt sind und der älteste Liebeszauber für Männerliebe in der griechischen Sprache.

Bisher sind nur zwei Liebeszauber bekannt, in denen Frauen andere Frauen zu verzaubern versuchen, ein Zauber wo ein Mann verzaubert wird, aber wo auch politische Motive eine Rolle spielen, sowie ein koptischer Zauber, aus dem 6.-7. Jh. n. Chr., mit dem ein Mann einen anderen Mann verführen wollte. Es ist aber sehr gut möglich, dass sich auch unter den bereits bekannten Papyri noch mehr Belege für gleichgeschlechtige Liebesmagie finden ließen, die vor dem Zeitgeist der älteren Forschung, nicht als solche betrachtet, oder sogar regelrecht „korrigiert“ wurden.

Dieses Problem beschränkt sich nicht nur auf die magischen Texte, sondern bezieht sich auf alle papyrologischen Quellen. Bislang lassen sich unter den griechischen Papyri aus einem Zeitraum von tausend Jahren nur vereinzelt direkte Zeugnisse für gleichgeschlechtliche Beziehungen ausmachen. Zugegeben, in vielen Arten von Dokumenten (Amtskorrespondenz, Verträge, Abrechnungen, usw.) erwartet man auch nicht, private Informationen zu finden.

Dennoch ging man tendenziell davon aus, dass gleichgeschlechtliche Beziehungen nur etwas für die höchste Elite des römischen Reiches waren (man denke etwa an Kaiser Hadrian und seinen Partner Antinoos, oder Kaiser Elagabal) und dass sie im griechisch-römischen Ägypten nur eine marginale Rolle spielten. Die nun gewonnene Lesung dieses Zaubers aus einem Handbuch für Magie gibt Anlass, dieses Bild noch einmal kritisch zu hinterfragen. Vielleicht ist es an der Zeit, auch andere bereits bekannte Papyruszeugnisse vor diesem Hintergrund unvoreingenommen erneut zu lesen, z.B. Briefe, die adressiert sind „an meinen allerliebsten Herrn …“.

Abb. 9: Hadrian und Antinoos (British Museum 1805,0703.94 und 1805,0703.97; Public Domain; Bildquelle: wikimedia commons)

P.Vindob. G 328 zeigt uns, wie wichtig es ist, auch bereits gelesene und längst edierte Texte zu kontrollieren und ihre Interpretation kritisch zu hinterfragen – nicht nur, weil unser Wissen über die Antike immer noch wächst, sondern auch, weil wir diese Texte und Objekte aus einem sich ständig ändernden Blickwinkel betrachten. So bleiben die Papyri auch für die*den moderne*n Leser*in reichhaltige Quellen, die uns neue, und manchmal sehr überraschende Sachen erzählen.

Über den Autor: Guus A. J. C. van Loon MA ist Papyrologe und Mitarbeiter der Papyrussammlung der Österreichischen Nationalbibliothek im von der A. W. Mellon Foundation finanzierten Projekt „Papyri of the Early Arab Period Online“.

Weiterführende Literatur:

Preisendanz, K., Papyri Graecae Magicae. Die griechischen Zauberpapyri, Stuttgart 1931.

Maltomini, F., ‚Formulario magico‘, in: G. Bastianini, F. Maltomini, D. Manetti, D. Minutoli, R. Pintaudi (Hrsg.), e me l'ovrare appaga. Papyri e saggi in onore di Gabriella Messeri (P.Messeri), Florenz 2020, S. 134-140, Nr. 22.

Maltomini, F., ‚GEMF 49‘, in: C. A. Faraone, S. Torallas Tovar (Hrsg.), Greek and Egyptian Magical Formularies. Text and Translation, Vol. 1, Berkely CA 2022, S. 478-481.

Cromwell, J. ‚Ancient Same Sex Love Spells‘, Papyrus Stories. Everyday Stories from the Ancient Past.

 

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