Autoren: Lucian Reinfandt, Sven Tost
Seufzend legt der für die Buchhaltung in griechischer Sprache zuständige koptische Schreiber eines mittelägyptischen Steuerbüros sein Schreibgerät zur Seite. Missmutig betrachtet er seine ersten, nur mit großer Mühe unternommenen und auf der Rückseite eines aussortierten alten Briefs festgehaltenen Schreibversuche im Arabischen. Ein muslimischer Amtskollege hatte ihn auf Anordnung des Büroleiters im Schreiben der arabischen Schriftzeichen unterwiesen und ihm zu Übungszwecken den Wortlaut einer an den Inhalt des Briefs auf der Vorderseite anknüpfenden Notiz diktiert. Besagter Kollege war, seinen Kopf hin und her wiegend, noch eine Weile hinter ihm stehen geblieben, bevor er sich letzten Endes mit einem milden Lächeln ab- und dem eigenen Schreibplatz zuwandte. Dem koptischen Schreiber entging diese teils nachsichtige, teils herablassende Geste des Kollegen nicht. Resigniert richtet er seinen Blick zunächst auf diesen, danach wieder auf das vor ihm liegende Blatt. Mit plötzlicher Entschlossenheit dreht er es um 180° und beginnt, mit geübter Hand den noch freien Platz mit griechischen Wörtern auszufüllen, die ihm aus der eigenen Praxis einer Erstellung von Steuerabrechnungen und Registern geläufig sind: Namen von Orten und Personen, aber auch das eine oder andere Versatzstück eines Zahlungstitels. Anschließend wendet er das Blatt und vertieft sich grübelnd in das sorgfältig gestaltete Schriftbild des arabischen Briefs. Gedankenverloren geht er schließlich dazu über, zwischen die Zeilen zu kritzeln. Erst wiederholt er einige der bereits auf der anderen Seite notierten griechischen Personennamen. Doch dann rafft er sich zu einem neuerlichen Schreibversuch im Arabischen auf. Das erhoffte Erfolgserlebnis bleibt freilich auch dieses Mal aus. Unwillig schiebt er das Blatt zur Seite, wo sich bereits einiger Abfall angesammelt hatte.
Ein solches oder ähnliches Szenario könnte rund um die Entstehung jenes zweisprachigen arabisch-griechischen Papyrus vermutet werden, der unter der Signatur A.P. 8386 in den Beständen der Papyrussammlung der Österreichischen Nationalbibliothek geführt wird.
Links: Arabischer amtlicher Brief. A: P. 8386 rekto, unpubliziert (Mittelägypten 8. Jh. n. Chr.)
Rechts: Schreibübung, arabisch-griechisch A: P. 8386 verso, unpubliziert (Mittelägypten 8. Jh. n. Chr.)
Es handelt es sich um ein etwa um die Mitte des 8. Jahrhunderts n. Chr. geschriebenes Zeugnis, das man wohl bei einer der in den 1880er Jahren unternommenen Grabungen in Mittelägypten, 120 km südlich von Kairo, gefunden hat. Auf der Vorderseite ist das Fragment eines amtlichen Schreibens auf Arabisch überliefert. Die Rückseite enthält hingegen Schreibübungen in griechischer und arabischer Sprache, die offensichtlich von einer anderen Hand stammen und aus einer Wiederverwendung des Schriftträgers herrühren. Dieser zweiten Hand dürften darüber hinaus zwei weitere Zeilen – eine in Griechisch, die andere in Arabisch – zuzuschreiben sein, die zwischen die Zeilen des amtlichen Schreibens auf der Vorderseite, und zwar auffälligerweise in gegenläufiger Richtung zu diesem, eingefügt wurden. Letztgenannte Umstände deuten darauf hin, dass die betreffende Person, bei der es sich möglicherweise um einen Schreibgehilfen der lokalen Steuerverwaltung gehandelt hat, neben Griechisch zumindest auch ein wenig Arabisch schreiben, vielleicht sogar sprechen konnte. Die Zusammenstellung unterschiedlicher Texte, Sprachen und Schriften auf einem einzigen Papyrusblatt führt damit einen besonders interessanten Aspekt vor Augen, nämlich den des Wandels einer Schreibpraxis und einer damit verbundenen neuen Identitätsstiftung am Übergang Ägyptens von einer griechisch-koptischen zu einer mehrheitlich arabisch-muslimischen Gesellschaft.
Obwohl Beschädigungen und Textlücken freilich einige Detailfragen zum Inhalt und Kontext dieses Dokuments offen lassen, eröffnet eine nähere Beschäftigung mit diesem, aber auch anderen mehrsprachigen Zeugnissen einen völlig neuen Zugang zu dieser Art von Quellenmaterial sowie damit verbundenen historischen Fragestellungen. Denn bislang sind Papyri in der Regel nach einzelnen Sprachgruppen, erfasst und von Editoren bearbeitet worden, deren Forschungsinteresse und philologische Kompetenz sich auf eine einzige der in den Papyri auftretenden Sprachen beschränkt hatten. Mehrsprachige Schriftstücke wurden hingegen weitgehend vernachlässigt oder durch Teileditionen, die sich ausschließlich einer der Sprachen widmeten, die anderen jedoch außer Acht ließen, aus ihrem Entstehungszusammenhang gerissen. Dieser Umstand muss umso bedauerlicher erscheinen, als gerade der Sprach- und Schriftgebrauch dieser Textzeugen die mehrsprachige Umwelt ihrer Verfasser widerspiegelt und damit den Eindruck von den Verhältnissen und der Transformation kulturübergreifender Gesellschaften vermittelt.
Diese neue Schwerpunktsetzung könnte sich insofern als gewinnbringend erweisen, als dadurch eine Entdeckung weiterer wertvoller Stücke ermöglicht wird, die in der Vergangenheit wegen ihrer Mehrsprachigkeit voreilig beiseite gelegt worden sind, nicht zuletzt weil eine Edition einzelner Textteile vor dem Hintergrund eines fragmentarischen Zustands für nicht oder kaum lohnend erachtet wurde. Erst die Durchsicht und Aufarbeitung durch ein auf verschiedene Sprachen spezialisiertes Forschungsteam lassen inhaltliche und entstehungsgeschichtliche Bezüge erkennen und die Dokumente in ihren jeweiligen historischen Kontext einordnen. Dadurch wird eine Welt „hybrider“ Identitäten fassbar, wie sie für Umbruchszeiten wie jene der Spätantike in deren Übergang zur islamischen Epoche typisch war. Die Relevanz der daraus resultierenden Erkenntnisse betrifft nicht allein unser Verständnis von Vergangenheit, sie können auch wesentlich zur Sinnstiftung in unserer eigenen Zeit beitragen. Denn die gesellschaftlichen Zustände im spätantiken Ägypten liefern nicht nur empirisches Material für eine Theoretisierung von Schlagworten gegenwärtiger Gesellschaftsdebatten wie Mehrsprachigkeit, Multikulturalität oder Religionszugehörigkeit; unter dem Eindruck politischer Auseinandersetzungen, und zahlreicher Versuche einer Neubegründung kultureller Identitäten, für die in nicht immer angemessener Weise auf Vergangenheit zurückgegriffen wird, ergibt sich ein wichtiges Korrektiv.
Im Rahmen des von der Andrew W. Mellon Foundation (New York) finanzierten und an der Österreichischen Nationalbibliothek angesiedelten Projekts Papyri of the Early Arab Period Online werden über einen Zeitraum von fünf Jahren insgesamt 15.000 bislang unpublizierte Papyri ausgewählt, digitalisiert und katalogisiert. Diese sind während der ersten drei Jahrhunderte arabisch-muslimischer Herrschaft über Ägypten in griechischer, koptischer oder arabischer Sprache geschrieben worden. Das Projekt ist mittlerweile in seine zweite Förderperiode eingetreten, deren Schwerpunktsetzung auf einer Erschließung des Materials an mehrsprachigen Dokumenten liegt, wodurch an die angesprochenen Aspekte angeknüpft wird. Die zwei- und teilweise sogar dreisprachigen Papyri werden nach idealtypischen Kriterien klassifiziert, die den funktionalen Charakter der unterschiedlichen Sprachen, deren Stellung zueinander und das darin manifestierte hierarchische Verhältnis von Ausstellern und Adressaten der Dokumente aufzeigen hilft.
Copyright der Abbildungen: Österreichische Nationalbibliothek, Papyrussammlung
Zu den Autoren: Dr. Lucian Reinfandt und Dr. Sven Tost sind wissenschaftliche Mitarbeiter des beschriebenen Forschungsprojekts
Daten zum Forschungsprojekt der Österreichischen Nationalbibliothek
Titel | Papyri of the Early Arab Period Online |
Finanzierung | Andrew W. Mellon Foundation |
Laufzeit | 1. Nov. 2016 – 31. Aug. 2018 |
Projektleitung | Bernhard Palme |
Projektteam | Sandra Hodecek, Lucian Reinfandt, Sven Tost |
Projektpartner (außer Österreichische Nationalbibliothek) | Andreas Kaplony (LMU), Petra M. Sijpesteijn (Univ. Leiden) |
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