Autorin: Sanna Schulte
Die Stegreifkunst meint in erster Linie die Stegreifrede, die ihr bekanntester Part ist, auch wenn es genauso Improvisationen in Theater, Puppenspiel etc. gibt. Im Kabarett ist die Form der Stegreifrede eng mit der Rolle des Conférenciers verbunden, von dem größtmögliche Improvisation und eine direkte Reaktion auf Zuschauer und fremde Beiträge erwartet wird. Die Conférencen und Stegreifreden sind eine rhetorische Kunst, die sich fast gänzlich auf Mündlichkeit beschränkt und beruft. Die Spontanität und Situationskomik, die ihr zu eigen sind, müssen aus dem Stehgreif erfolgen, so verlangt es die Gattung. Aber auch nachträgliche Niederschriften sind selten – und wenn es sie gibt, werden sie von Zeugen und Zeuginnen der Stegreifrede als völlig ungenügend empfunden.
Kaum schriftliche Zeugnisse
In seiner druckfrischen Biographie stellt Walter Schübler die Aussagen mehrerer ZeitzeugInnen über den vielgerühmten Stegreifredner Anton Kuh zusammen, die allesamt bedauern, das Schauspiel des sogenannten Sprechstellers nicht schriftlich bannen zu können:
„Man muss ihn hören, nicht zitieren“; „Anton Kuh lässt sich kaum ‚besprechen‘; "Er spottet im wahrsten Sinne des Wortes jeder Beschreibung“; „Einen Vortrag Kuhs wiederzugeben ist sehr schwer. Man müßte bei jedem Satze eine Regiebemerkung machen, die alle seine Gesten und Grimassen wie auch das mitunter elementar losbrechende Pathos schildert“; „Ein Feuerwerk in dürren Worten zu beschreiben, ist eine undankbare Sache. Man kann sagen: Es gab eine große Helligkeit und einen anmutigen Funkenregen. (…) dann habe ich vielleicht festgehalten, was Kuh gesagt hat, aber ich habe den Leser um das Beste betrogen: um den Genuß, wie er es gesagt hat. Denn es ist unmöglich, den ästhetischen Genuß eines Feuerwerks durch Druckerschwärze anschaulich zu machen. Er wirkt nur unmittelbar auf die Sinne…“[1]
Die Biographie von Walter Schübler, die sich auch die Rekonstruktion der Stegreifreden zur Aufgabe macht, hat sich eine schwere Aufgabe gestellt und muss oft genug auf die Beschreibungen (und wie wir an den Zitaten sehen können vielmehr: Nicht-Beschreibungen) der ZeitgenossInnen zurückgreifen, um ein Bild von Anton Kuh als Stegreifredner und „Sprechsteller“[2] zu entwerfen.
Vom Kaffeehaus ins Kabarett
Das Kabarett der 20er Jahre in Wien ist als eines zu denken, das im Kaffeehaus entsteht – oder sich zumindest dort ebenfalls in Szene zu setzen weiß, so wie es sich dann auf der Bühne als aus dem Kaffeehaus dorthin getragenes inszeniert; die Auftretenden geben sich ungezwungen freundschaftlich, ihr Auftritt erweckt nicht im Geringsten den Anschein einer Dienstleistung. So schreibt Alfred Kerr über Die wahren Überbrettl:
Die Dichter tragen selbst ihre Dichtungen vor.
(Es wird angekündigt: Monsieur X., dans ses oeuvres.)
Ohne Stimme, mehr sprechend als singend, einfach,
gar nicht zierlich, eine Hand in der Hosentasche;
voll Ungezwungenheit; frei von Aufwand. Der Künstler
ist kein Diener des Publikums; sondern jemand aus
der Mitte, der was zum besten gibt. Daß bezahlt
wurde, vergißt man. Was sind fünf Franken.[3]
Ein Kaffeehausgespräch vor Publikum bzw. mit dem Publikum. Und der Kaffeehausliterat ist selbstironisch und parodiert sich selbst gleichzeitig mit der Vorstellung vom faulen, saufenden und tratschenden, aber durch müßiges Zeitungslesen auch politisch bestens informierten Kaffeehausliteraten, der am Abend aus dem Stegreif eine Rede hält und so seinen Lebensunterhalt mehr schlecht als recht verdient, weshalb seine größte Berufung eigentlich das Schnorren ist usw. – lauter stereotype Bilder, die die Realität mal mehr und mal weniger gut abbilden, aber auch eine Rolle, in der sich der Künstler gefallen kann.
Legendäre Kaffeehausliteraten
Anton Kuh macht das Große am Kleinen fest – und das heißt oft: an sich selbst. Er stellt sich in den Mittelpunkt. Die Stegreifrede als Selbstgreifrede, der Versuch, über den Zugriff auf das Eigenste einen Zugriff auf die Welt zu erlangen. So eignet sich zum Beispiel der Vortrag Warum haben wir kein Geld? hervorragend zur Selbstinszenierung als Schnorrer. Alfred Kerr schreibt zum Stil Anton Kuhs: „Es ist kein Vortrag, es ist der Eindruck von einem Menschen“[4]; und Walter Schübler formuliert es so: „Kuh ist mit dem höchsten Einsatz zugange: sich selbst. Er verschenkt sich.“[5] Hier wurde mitunter ein Hang zur Selbstdarstellung, gar zur Selbstentblößung unterstellt. Franz Blei beschreibt Anton Kuh als jemanden, dessen Kunst auch darin liegt, sich selbst auf der Bühne zu demaskieren und jede Distanz zwischen Bühnenfigur und Publikum aufzugeben: „Was ist ein solcher Redner wie dieser Anton Kuh? Ein Mensch, der sich blossstellt. Ein Wehrloser. Einer, der sich weder in Deckung noch in Schutz begibt.“[6]
Zu den berüchtigtsten Kaffeehausliteraten, die das Wiener Kabarett in seinen Anfängen geprägt haben, gehören Egon Friedell und Alfred Polgar, die sich durch Gemeinschaftsarbeiten einen Namen gemacht haben und ihre Kollaboration immer wieder auch zum Gegenstand ihrer ironischen Selbstdarstellungen gemacht haben. Die Polfried AG verfertigte zwischen 1908 und 1925 sowohl rasante satirische Einakter für das neueröffnete Kabarett Fledermaus als auch Zeitungsparodien von beträchtlicher Bösartigkeit. Der bekannteste Einakter der beiden ist Goethe, auch bekannt als Goethe im Examen. In dem Stück wird eine Maturaprüfung inszeniert, bei der – in einer Verballhornung des Kultes um den großen Dichter – vor allem die Daten seines Lebens abgefragt werden; der in der Rolle des Prüflings auftretende Goethe allerdings kann all diese Fragen, wann genau in seinem Leben was passiert ist, und wo die Grenze zwischen literarischer Darstellung und biographischen Fakten verläuft, nur selten zur Zufriedenheit der Prüfer beantworten.
Die Perücke, die Friedell als Goethe trug, und ein Programm des Kabarett Fledermaus mit der Vorankündigung des Einakters Goethe, beides ausgestellt im Literaturmuseum.
Die Aussagen der beiden Künstler zu ihrer Kollaboration sind wenig aufschlussreich, um den Ablauf der Zusammenarbeit zu ergründen. Friedell stellt die Arbeitsteilung wie folgt dar: „Wir ergänzen uns vortrefflich. Von mir ist gewöhnlich der schöpferische Einfall, die treibende Grundidee. Die mehr untergeordnete Arbeit der detaillierten Ausführung dieser fruchtbaren, zielweisenden Gedanken war dann mehr Polgars Sache.“ Mit dem Charme des sogenannten Kaffeehausliteraten als (vermeintlichem) Müßiggänger werden hier Tugenden wie Faulheit und Gewitzheit hochgehalten, Arbeit und Aufwand dagegen herabgewürdigt. Alfred Polgar führt die Zuschreibungen der Arbeitsanteile an dem gemeinsamen Stück dann gänzlich ad absurdum, wenn er sie vom Geschmack des Publikums abhängig macht: „Ich mag nicht ausplaudern, was mein und was Friedells Anteil ist. Nur soviel will ich verraten, daß die guten und trefflichen Pointen von mir sind und alle mißratenen von Egon Friedell.“
Neben dem Stegreifredner und Sprechsteller Anton Kuh, der selbst das Gericht als Bühne für seine Stegreifreden benutze, als er sich dort wegen Ehrenbeleidigung in seiner gegen Karl Kraus und dessen Anhängerschaft gerichteten Rede Der Affe Zarathustras verantworten musste,[7] gehörte vor allem Peter Hammerschlag zu den bekanntesten Stegreifrednern der Wiener Kabarettszene der Zwischenkriegszeit. Als 1931 die legendäre Wiener Kleinkunstbühne Der liebe Augustin eröffnete, war Peter Hammerschlag dort als Hausautor, Conférencier, Darsteller und vor allem Blitzdichter tätig. Seine Fähigkeit, auf Zuruf aus dem Publikum aus dem Stegreif Gedichte zu machen, war verblüffend. Seine Spezialität waren scheinbar ausgefeilte Parodien auf zeitgenössische Dichter wie Hugo von Hofmannsthal und Theodor Kramer. Diese Qualitäten passten perfekt in die improvisatorisch-spontane Linie der Bühne in ihren ersten Jahren.[8] Bekanntheit erlangte Hammerschlag darüber hinaus auch mit seinen Karikaturen und Illustrationen, wie den beiden hier abgebildeten zum Vorkriegscharakter, die sehr weitsichtig die Ursachen und Möglichkeiten beider Weltkriege analysieren und anhand von Phrasen festmachen: Die Bilder entlarven Sprachbilder.
Quelle: Wiener Magazin, September 1931
Einmarsch der Nationalsozialisten als Ende
Der Einmarsch der Nationalsozialisten in Österreich macht der Kabarettszene in Wien ein Ende. Egon Friedell verweigert sich der Emigration und verlässt seine Wohnung in Wien nicht. Als am 16. März 1938 zwei SA-Männer an seiner Haustür klingeln, um ihn abzuholen, entscheidet er sich für den Freitod durch den Sprung aus dem Fenster. Hammerschlag muss ab dem Sommer 1941 als Zwangsarbeiter sein Leben fristen. Spätestens Mitte 1942, als seine Eltern nach Theresienstadt deportiert wurden, taucht er unter, wird dann aber verhaftet. Am 17. Juli 1942 wird er nach Auschwitz gebracht und dort – oder bereits auf dem Weg dorthin – ermordet. Anton Kuh, der ebenso wie Alfred Polgar aus Österreich flieht, kommt 1938 nach New York und stirbt dort 1941 völlig verarmt an einem Herzanfall. Zuvor hatte er noch einen Rundfunkvortrag mit dem Titel Geschichte und Gedächtnis gehalten:
„Wenn ich (…) als Emigrant zu Emigranten und als Emigrant zu Amerikanern, eine politisch und menschlich wichtige Aufforderung an Sie richten darf, so ist es die: Tun Sie sich selber weh, behalten Sie Ihr Gedächtnis frisch.“[9]
Über die Autorin: Dr. Sanna Schulte ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek
[1] Werner Schübler: Anton Kuh. Biographie. Wallstein: Göttingen 2018, S. 43.
[2] Die Bezeichnung Kuhs als Sprechsteller im Gegensatz zum Schriftsteller wird Kurt Tucholsky zugeschrieben.
[3] Alfred Kerr: Die wahren Überbrettl. In: Der.: Gesammelte Schriften in zwei Reihen. Die Welt im Drama. S. 327-333, hier S. 329f. Für den Hinweis aus dieses Zitat von Alfred Kerr danke ich Serena Grazzini.
[4] Alfred Kerr: Anton Kuh. In: Berliner Tagblatt, Jg. 60, Nr. 576, 7.12.1931.
[5] Schübler, S. 54.
[6] Franz Blei: Zu Anton Kuhs Sonntagsrede. In: Berliner Tageblatt, Jg. 57, Nr. 591, 14.12.1928.
[7] Diese Stegreifreden vor dem Gericht zu rekonstruieren, gehört zu den großen Verdiensten von Schüblers Kuh-Biographie.
[8] Vgl. Monika Kiegler-Griensteidl: Peter Hammerschlag und das Wiener Kabarett der dreißiger Jahre. 1994; sowie: Kringel, Schlingel, Borgia: Materialien zu Peter Hammerschlag. Hrsg. von Volker Kaukoreit und Monika Kiegler-Griensteidl. Turia&Kant: Wien 1997.
[9] Zitiert nach: Andreas Kilcher: Anton Kuh. In: Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Hrsg. v. Andreas Kilcher. Metzler: Stuttgart 2000, S. 356.
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