Autorinnen: Arnhilt Inguglia-Höfle und Sanna Schulte
Der Schriftsteller, Komponist, bildende Künstler und Herausgeber Gerhard Rühm feiert am 12. Februar 2020 seinen 90. Geburtstag. Aus diesem Anlass unternehmen wir einen Streifzug durch den vielfältigen Vorlass des Ausnahmetalents, der sich am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek befindet.
Seit Anfang der 1950er-Jahre legt Gerhard Rühm neben seiner umfangreichen, avantgardistisch inspirierten literarischen Produktion ein Werk vor, das in den Grenzbereichen von Literatur, Musik und Bildender Kunst angesiedelt ist. Gemeinsam mit Friedrich Achleitner, Hans Carl Artmann, Konrad Bayer und Oswald Wiener war Rühm Mitglied der Wiener Gruppe und deren erster Archivar. 1967 erschien der von ihm herausgegebene Sammelband mit Texten und Gemeinschaftsarbeiten, auch als Herausgeber der Werke von Konrad Bayer war Rühm nach dessen Tod im Jahr 1964 tätig. Die Sprachkunst und vor allem die innovative Verknüpfung der Künste und Gattungen in Rühms Schaffen, die auch im September 2019 mit einem viertägigen » Symposion und Literaturfest in Anwesenheit des Autors gewürdigt wurden, suchen ihresgleichen. Im Folgenden präsentieren wir erste Einblicke in einen sehr umfangreichen und facettenreichen Vorlass.
Der Vorlass am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek
Der » Vorlass (LIT 397/11) umfasst ca. 130 Archivboxen. Aufgrund der Mehrfachbegabung des Künstlers ist ein Teil des Vorlasses in der » Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek unterbracht.
Eine Besonderheit des Bestands ist seine Vorordnung. Zum Teil waren die Dokumente bei der Übergabe bereits akribisch vorsortiert, die Blätter durchnummeriert, die Zuordnungen eindeutig, die Korrespondenz alphabetisch abgelegt. Das Talent zur Dokumentation und das Bewusstsein für die historische Bedeutung künstlerischer Aktionen und literarischer Prozesse, das sich in dieser Ordnung spiegelt, hat Gerhard Rühm in diversen Rollen unter Beweis gestellt: als mitverantwortlicher Editor der eigenen Werkausgabe, als Herausgeber der Werke Konrad Bayers, als Nachlassverwalter von Franz Richard Behrens und auch als Archivar der Wiener Gruppe.
Zu allem, was sich auf Papier befindet – und das ist in diesem Fall eine unglaubliche Vielfalt, darunter Partituren, Collagen, Zeichnungen, Fotos – kommen 3-D-Objekte, also Gegenstände, die ebenfalls Teil dieses Bestands sind, darunter zum Beispiel ein Wecker. Dieser deutlich angeschlagene Wecker ist ein Relikt aus den „literarischen cabarets“ der Wiener Gruppe. In diesen provokanten „Happenings“ von 1958 und 1959, die in der Struktur an ein klassisches Kabarett angelehnt waren, schockierten die Autoren ihr Publikum mit einzelnen Nummern, die von Chansons und kleinen Szenen bis zu absurd wirkenden Einlagen reichten. Die Programmnummer „das erwachen“, in der der Wecker eine zentrale Rolle gespielt hatte, beschrieb Rühm später so:
der vorhang öffnete sich: ich lag im pyjama, zugedeckt, schlafend auf einer couch. in der nähe stand auf einem stuhl der wecker. nach einer weile ruhe schlich oswald wiener, seine schuhe in der hand, auf zehenspitzen zur rampe und flüsterte suggestiv ins publikum: »noch zwei minuten!« nachdem er sich eilig wieder zurückgezogen hatte: »noch eine minute!« und verschwand. der wecker klingelte. ich erwachte, räkelte mich, stand auf, schlüpfte in die pantoffeln und hieb mit einem hammer voll wucht auf den wecker. unter heftigem applaus, der von einigen instruierten im zuschauerraum ausgelöst worden war, verbeugte ich mich. / eine stellungnahme zum thema ›zeit‹. (Rühm 2015: S. 197)
Ebenfalls als Requisite der „literarischen cabarets“ der Wiener Gruppe gehören auch Klaviertasten zum Vorlass. Mit dem dazugehörigen Flügel wurde ähnlich verfahren wie mit dem Wecker. Ein Zeitungsausschnitt bezeugt das Zerlegen des Musikinstruments mit Hilfe von Äxten. Es sind genau diese kuriosen Gegenstände, die im » Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek das Interesse auf sich ziehen.
Abb. 1-3: Der Wecker aus dem „literarischen cabaret“ der Wiener Gruppe (ÖNB, Sign. LIT 397, Foto: Klaus Pichler), Wecker und Klaviertasten als Requisiten des „literarischen cabarets“ ausgestellt im Literaturmuseum und Zeitungsausschnitt zum „literarischen cabaret“ aus einer Collage im Literaturmuseum
Zu den Werkmaterialien
Jeder Bestand im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek wird nach vier Kategorien geordnet: die Werkmaterialien, die Korrespondenzen, die Lebensdokumente und die Sammlungen. Die Werkmaterialien Rühms haben einen Umfang von 40 Archivschachteln, dabei reicht der Zeitraum, den dieser Teil des Vorlasses umfasst, von den 1950er-Jahren bis heute. Es sind die frühen Gedichte und visuellen Texten genauso zu finden wie z. B. die Erzählungen und Gedichte „Lügen über Länder und Leute“, die 2011 erschienen sind. Neben der Ordnung des Materials ist die künstlerische Vielfalt des Materials und die Überschreitung der Disziplinen eines der herausragenden Charakteristika der Werke. Das lässt sich oft schon an den von ihm selbst vergebenen Gattungsbezeichnungen wie „auditive Poesie“, „visuelle Poesie“ etc., ablesen (Rühm 2005ff.).
Das literaturwissenschaftliche Interesse an einem Vor- oder Nachlass ist oft angetrieben von der Idee, in den Materialien manifestiere sich der flüchtige Akt des Schreibens. Auch wenn sich der Schreibprozess der Rekonstruktion entzieht, so hinterlässt er doch Spuren, die für die Forschung von Belang sind. Das Spiel mit dem Ausgangsmaterial und dessen Reflexion auf der formalen Ebene kann als typisch für Gerhard Rühm gelten. Im Vorlass finden sich die Spuren des Umgangs mit verschiedenen Vorlagen und Quellen.
In „Lügen über Länder und Leute“ verspricht der Untertitel „Vollständige Erzählungen und Gedichte“, die Vollständigkeit allerdings, so ist es im Nachwort nachzulesen, bezieht sich auf das Ausgangsmaterial (Rühm 2011). Das kann Unterschiedliches sein, zum Beispiel das alphabetische Verlagsverzeichnis eines alten Reclamhefts (ÖNB, Sign. LIT 397).
Im Lustspiel „die entfesselte küche“ seien sämtliche ihm „bekannten speisen, die nach ländern, städten oder deren bewohnern benannt sind“ enthalten, erklärt der Autor (Rühm 2005). Im Vorlass befindet sich nicht nur die Druckfahne zu dieser Erklärung, sondern auch die Liste, die das zu verwendende Wortmaterial verzeichnet, und ein Typoskriptblatt des Textes im Prozess der Entstehung.
Abb. 4-6: Die Wortliste als Ausgangsmaterial und ein Typoskriptblatt zur „entfesselten küche“ sowie ein Beispiel „visueller Musik“ (ÖNB, Sign. LIT 397)
Zu den Korrespondenzen
Die Korrespondenzen im Bestand umfassen ca. 30 Archivboxen und bieten eine wahre Schatzkammer für die Forschung. Unter den KorrespondenzpartnerInnen befinden sich wichtige SchriftstellerInnen und KünstlerInnen der österreichischen Nachkriegszeit, wie Friedrich Achleitner, Heimrad Bäcker, Konrad Bayer, Günter Brus, Ernst Jandl, Ingrid und Oswald Wiener oder auch internationale Größen wie Eugen Gomringer. Des Weiteren finden sich Korrespondenzen mit über einhundert kleineren und größeren Verlagen, vor allem aus dem deutschsprachigen Raum, aber auch internationale Verlagshäuser. Gerhard Rühm korrespondierte mit über einhundert Galerien und Museen, darunter ebenfalls bekannte Institutionen aus Österreich und Deutschland, wie die Albertina oder das Sprengel Museum in Hannover, und auch internationale Größen wie die Whitechapel Gallery in London und das Guggenheim Museum in New York. In den Korrespondenzen ist nachvollziehbar, dass ebenfalls reger Kontakt zu ca. zwei Dutzend verschiedener Rundfunkanstalten herrschte, von ORF über ZDF oder WDR in Deutschland bis zu BBC in Großbritannien, Radio Canada oder ABC in Australien.
Abb. 7: Eine Postkarte mit den kanadischen Nordlichtern, gesendet von Ingrid und Oswald Wiener an Gerhard Rühm im Juli 1990 (ÖNB, Sign. LIT 397)
Abb. 8: Ein Schreiben Michael Häupls zum 65. Geburtstag vom Februar 1995 (ÖNB, Sign. LIT 397)
Der große kulturhistorische Wert dieser Korrespondenz-Materialien erschließt sich zunächst mit ihrer Vielfalt. Sie eröffnen einzigartige Einblicke in die vielen verschiedenen Rollen und die beeindruckende Produktivität Rühms im Kulturbetrieb, wo er seit Jahrzehnten als Schriftsteller, bildender Künstler, Komponist und Musiker, Herausgeber, Organisator, Vermittler, Juror großer internationaler Preise sowie als Weggefährte anderer Kulturschaffender aktiv ist.
Neben Beiträgen für zahlreiche Schulbücher und auch Reiseführer finden sich im Bestand über die Jahrzehnte einige Anschreiben von SchülerInnen, die ihn um Rat bei der Interpretation seiner Texte bitten. Ein schönes Beispiel von Rühm in seiner Funktion als Literaturvermittler auch für jüngeres Publikum bietet das Anschreiben der Redaktion der Bremer Schülerzeitung „Das Nashorn“. Die SchülerInnen baten ihn, ein kleines Lied für ihre Zeitung zu verfassen. Im Bestand finden sich drei Versionen eines Nashorn-Gedichts.
Abb. 9-10: Anschreiben der Bremer Redaktion und Notizen Rühms für seine Antwort (ÖNB, Sign. LIT 397)
Die Korrespondenzen spannen darüber hinaus einen weiten zeitlichen Bogen von den 1950er-Jahren bis in die 2000er-Jahre und ermöglichen somit, den Werdegang Gerhard Rühms genauestens nachzuvollziehen. Die Materialien reichen von ersten abgelehnten Ansuchen um kleine Stipendien bis zu Glückwunschtelegrammen von Staatsoberhäuptern. In einem Exposé von 1957 beispielsweise suchte Rühm um Förderung einer neuen Publikationsreihe an. Die Wiener Gruppe war damals noch weitgehend unbekannt und musste erst vorgestellt werden: „österreich hat eine literarische gruppe, die sich in engerem sinne aus fünf, in weiterem aus sieben bis acht jungen dichtern zusammensetzt und deren ziele so scharf umrissen sind, daß sie kaum (in ihren gerade typischsten arbeiten überhaupt nicht!) in die bestehenden österreichischen zeitschriften eingang finden kann.“ (Rühm 1957)
Die intellektuellen Netzwerke, die die Korrespondenzen umspannen, geben Einblicke in die Kooperationen, aber auch Konflikte im Kulturbetrieb der Nachkriegszeit. Die hand- und maschinschriftlich verfassten Briefe, Postkarten, Telegramme, Faxe und E-Mails erzählen zugleich eine Kommunikations- und Mediengeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Überaus spannend ist selbstverständlich die poetische Dimension der Korrespondenzen. Rühms Schreiben gehen an vielen Stellen über ihre reine Kommunikationsfunktion hinaus und werden zum poetischen Ausdrucksmittel mit literarischem Wert. 1981 verfasste Rühm zum Beispiel folgenden Brief an den Künstler Günter Brus:
lieb günt,
ich schick dir all zwanz blätt
hoff sehr sehr sehr sie bleib samm
weil ich grad text fert mach
und wir ja druck woll
und ich gern seh möchte
bei schreib
weil anreg du mich mit
weisst
viel glück bei dein ausstell
viel glück bringt ehr
mach gut
buss buss
auch an lieb ann
serv
(Rühm 1981)
Zu den Lebensdokumenten und Sammlungen
Die Lebensdokumente, insgesamt zwei Boxen, bestehen aus allgemeinen Personaldokumenten, wie Reisepässen aus verschiedenen Jahrzehnten, wie auch Dokumenten zu Gesundheit oder Ausbildung.
Die Sammlungen sind sehr vielfältig und beinhalten zunächst eine sehr umfangreiche Sammlung (44 Boxen) an Kritiken und Programmen mit Bezug zu Rühms Schaffen seit den 1950er-Jahren, die die Rezeptionsgeschichte seiner Werke eindrucksvoll widerspiegeln. Im Bestand befinden sich Belegexemplare, Großformate, wie Veranstaltungsplakate, genauso wie AV-Medien (vor allem Schallplatten, Tonbänder und Videokassetten) und 3-D-Objekte, wie die oben beschriebenen Requisiten.
Der wohl wichtigste Bestandteil der Sammelstücke ist die acht Archivboxen umfassende Sammlung zur Wiener Gruppe. Darin enthalten sind einzigartige Text- und Materialkonvolute, wie die Texte, Ablaufpläne, Notizen und Programme der „literarischen cabarets“, Texte einzelner Autoren (Achleitner, Artmann, Bayer, Wiener), Gemeinschaftsarbeiten, Materialien zum Sammelband Wiener Gruppe, den Rühm herausgegeben hat, sowie zu seiner Werkausgabe Konrad Bayers. Gerade für die Rezeption Bayers sind diese Materialien von besonderem Wert.
Zum Weiterlesen: » Bernhard Fetz: „jetzt“: Zu einem Zentralbegriff im künstlerischen Universum Gerhard Rühms. Ein Beitrag zum 90. Geburtstag
Über die AutorInnen: Dr. Arnhilt Inguglia-Höfle und Dr. Sanna Schulte sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek.
Literatur:
Rühm, Gerhard (1957): exposé über eine neue literarische publikationsfolge. Typoskript im Vorlass Gerhard Rühms. Österreichische Nationalbibliothek, Literaturarchiv, Sign. LIT 397.
Rühm, Gerhard (1981): Brief an Günter Brus, Köln, 24.10.1981, Typoskript-Durchschlag im Vorlass Gerhard Rühms. Österreichische Nationalbibliothek, Literaturarchiv, Sign. LIT 397.
Rühm, Gerhard (2005): Druckfahne zur „entfesselten küche“, Typoskript im Vorlass Gerhard Rühms. Österreichische Nationalbibliothek, Literaturarchiv, Sign. LIT 397.
Rühm Gerhard (2005ff.): gesammelte werke. Hrsg. v. Michael Fisch, Berlin: Parthas / Matthes & Seitz.
Rühm, Gerhard (2011): Lügen über Länder und Leute. Vollständige Erzählungen und Gedichte. Klagenfurt: Ritter.
Rühm, Gerhard (2015): das erwachen, in: Bernhard Fetz (Hrsg.), Das Literaturmuseum. 101 Objekte und Geschichten, Salzburg / Wien: Jung und Jung, S. 197.
Aufgrund von Veranstaltungen wird der Prunksaal am Donnerstag, 24. Oktober bereits um 18 Uhr, am Freitag, 1. November bereits um 16 Uhr und am Donnerstag, 14. November bereits um 18 Uhr geschlossen.
Die Lesesäle am Heldenplatz bleiben am Samstag, den 2. November, geschlossen.