Autorin: Ute Schmidthaler
Ein umfangreicher Nachlass im Bestand der » Sammlung von Handschriften und alten Drucken der Österreichischen Nationalbibliothek, das sogenannte „Margarete-Streicher-Archiv“, konnte nunmehr abschließend bearbeitet werden. Das Archiv befand sich zunächst am IFFB (Interfakultärer Fachbereich Sport- und Bewegungswissenschaften) des Universitäts-Sport-Institutes Salzburg bevor es 2015 von der Österreichischen Nationalbibliothek als Geschenk übernommen wurde.
Der wissenschaftliche Nachlass von Margarete Streicher (1891-1985) wurde der Universität Salzburg anvertraut und später um den Nachlass des Krankengymnasten Alois Weywar (1903-1997) ergänzt. Dieser langjährige Schüler und Assistent von Dr. Max Thun-Hohenstein (1897-1935) war Zeit seines Lebens bemüht, das wissenschaftliche Erbe seines Lehrers zu bewahren, niederzuschreiben und nutzbar zu machen. So finden sich zahlreiche Dokumente von und über Max Thun-Hohenstein darin. Abgerundet wird der Bestand durch einen Krypto-Nachlass von Karl Gaulhofer (1885-1941), einem wichtigen Wegbegleiter Margarete Streichers bei der Reform des österreichischen Schulturnens.
Der Bestand wurde im Zuge der Bearbeitung und Erschließung in Einheiten gegliedert:
- Nachlass Margarete Streicher
Dr. Margarete Streicher (1891-1985) war Sportwissenschaftlerin und Turnpädagogin zu einer Zeit, in der es noch kaum Frauen an Universitäten, schon gar nicht in den Sportwissenschaften gab. „Sie wirkte in einem Berufsfeld, das bis in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts von Männern beherrscht wird . (…) Frauen spielen und spielten darin nur Nebenrollen.“ (Größing 2007, S. 4) Zudem entwickelte sich der Schulsport, zumal für Mädchen und Frauen, erst langsam: „Das seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bestimmende Deutsche Turnen verlor seine Vorherrschaft und wurde vom Sport, von einer Spielbewegung, dem Wandern, der Gymnastik und dem Skifahren in die zweite Reihe gestellt.“ (Größing 2007, S. 18) So trat im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Kulturraum ein tiefgreifender Wandel des Bewegungshandelns des Menschen ein. An diesem Wandel hat Margarete Streicher durch die Reform des Schulturnens und die Ausbildung der Turnlehrer, durch Volkshochschulkurse, schriftstellerische Tätigkeit und zahlreichen Vorträge im In- und Ausland aktiv wesentlich mitgewirkt. In den Jahren 1945 bis 1948 war sie aufgrund ihrer NSDAP-Mitgliedschaft außer Dienst gestellt. Margarete Streicher prägte für ihre Bewegungslehre gemeinsam mit Karl Gaulhofer den Begriff „Natürliches Turnen“.
Abb. 1: Ausbildungswoche am Turnersee, August 1941
Ihr Nachlass beinhaltet Dokumente ihrer wissenschaftlichen Arbeit und eine umfangreiche Korrespondenz, ergänzt um zahlreiche Lebensdokumente wie Fotografien, Zeugnisse und Medaillen. Auch die internationale Reputation der österreichischen Turn-Reformbewegung in den 1930er Jahren lässt sich anhand der Tagungsberichte und Aufzeichnungen aus internationalen Kongressen und Auslandsaufenthalten gut rekonstruieren.
Abb. 2: Margarete Streicher, Bildpostkarte, um 1950
- Kryptonachlass Karl Gaulhofer
Karl Gaulhofer war für die Entwicklung der österreichischen Leibeserziehung eine prägende Persönlichkeit, vor allem durch seine Tätigkeit als Referent für körperliche Erziehung im österreichischen Unterrichtsministerium von 1919 bis 1932. Die „Turnerneuerung“ war fachspezifischer Bestandteil der Österreichischen Schulreform zwischen 1919 und 1934. Im Unterrichtsministerium wurde eine eigene Abteilung für körperliche Erziehung in der Schule unter der Leitung Gaulhofers eingerichtet. Aus vielfältigen Gründen verließ Gaulhofer Österreich und leitete von 1932 bis 1941 in Amsterdam die Akademie für Leibeserziehung (Academie voor Lichamelijke Opvoeding). Als bekennender Deutscher und Nationalsozialist – Gaulhofer war auch ein früher Vertreter der Rassenhygiene (Eugenik) in Österreich – hoffte er nach dem „Anschluss“ 1938 auf eine Rückkehr nach Österreich und eine Mitarbeit an der Organisation der Leibeserziehung im Deutschen Reich. Seine Rückberufung erfolgte allerdings nicht mehr rechtzeitig: Karl Gaulhofer starb am 28.10.1941 an Angina pectoris.
- Nachlass Alois Weywar
Alois Weywar (1903-1997), Schüler und Assistent von Max Thun-Hohenstein, später Krankengymnast, wollte das Erbe seines Lehrers weitergeben und pflegen, denn Thun-Hohenstein selbst publizierte sehr wenig. Weywar ließ sich nach Thun-Hohensteins Tod 1935 und nach seinem Dienst im Chirurgischen Sonderlazarett zum Krankengymnast ausbilden und war danach in Stollhof-Klosterneuburg unter der Leitung von Lorenz Böhler tätig. Kriegsversehrte und Unfallversehrte konnten so von Thun-Hohensteins Prinzipien der Gymnastik und Bewegungslehre profitieren; Weywars Arbeit wurde im Jahr 1951 im Film „Die Fortbewegungsschulung von Beinamputierten“ und einer Bilderserie dokumentiert. Ab 1953 arbeitete er mit großem Engagement an der Darstellung von Thun-Hohensteins Denken; die Veröffentlichung seines Werkes gelang erst in seinem 94. Lebensjahr, 1996, von Prof. Größing tatkräftig unterstützt.
Max von Thun-Hohenstein (1887-1935):
Zeit seines Lebens beschäftigte den Arzt Max von Thun-Hohenstein die Frage nach den „angeborenen Fortbewegungsgarten des Menschen“. Diese Frage versuchte er unter anderem durch die intensive Beschäftigung mit Tieren, vor allem mit Pferden, zu beantworten. Thun-Hohenstein besaß einen Affen namens Max, der ihn auch bei Vorträgen beständig begleitete. Daher rührte sein Spitzname „Affen-Thun“; Karl Kraus nannte ihn weniger schmeichelhaft einen „Spinner“ (Größing 2000, S. [3]).
Thun-Hohenstein studierte in Linz und Prag Medizin. 1926 ließ er sich in Wien nieder, entwickelte eine eigenständige Bewegungs- und Turnschule und sammelte bald eine zahlreiche Hörer- und Schülerschaft um sich.
Abb. 3: Prospekt des Zentral-Instituts für gymnastische Erziehung, Wien 1933
In Vorträgen und Schulungen machte er sein Bewegungskonzept bekannt. Dabei ging es ihm um die natürliche menschliche Fortbewegung aus biologischer, bewegungstheoretischer, kulturkritischer und pädagogischer Sicht. Teil der praktischen Übungen war auch eine spezielle Fußgymnastik. Hierfür entwickelte er die sogenannte Thun’sche Sandale, von der sich Exemplare im Nachlass fanden.
Abb. 4: Prospekt des Zentral-Instituts für gymnastische Erziehung, Wien 1933
Das Kriechen auf Händen und Knien sowie der Vierfußgang („Füße-Hände-Gang“) wurde geübt (dies erinnert frappant an den gerade aktuellen Fitnesstrend „Crawling“), und es gibt Fotografien von Thun-Hohenstein, auf denen man ihn in Galoppmanier ein Hindernis nehmen sieht. Der Unterricht erfolgte unter dem Namen „Natürliche Bewegungspflege nach Dr. Max Thun-Hohenstein“. Thun-Hohenstein hielt zahlreiche Vorträge, er füllte 1928 dreimal den Großen Saal des Wiener Konzerthauses: Redend, gleichzeitig übend und nur mit einem Lendenschurz bekleidet begeisterte er die Zuschauer. Auch seine in einer gläsernen Badewanne schwimmenden Affen erregten großes Aufsehen.
Abb. 5: Fotografie von Max Thun-Hohenstein, Fotoalbum, Wien, um 1928
Noch bevor Thun-Hohenstein seine Lehre schriftlich niederlegen konnte, verstarb er 1935. Um sein wissenschaftliches Erbe nahm sich Alois Weywar, der über ache Jahre sein Schüler und Assistent, war gemeinsam mit Prof. Dr. Hanns Plenk an.
- Teilvorlass Stefan Größing (*1937)
Ergänzt werden die bisher genannten Bestände durch einen Teilvorlass von Prof. Dr. Stefan Größing, dem langjährigen Leiter und Betreuer des Streicher-Archivs. Er war 1973 bis 1981 Universitätsprofessor für Sportpädagogik an der Technischen Hochschule München, danach an der Universität Salzburg. Er publizierte sowohl über Margarete Streicher als auch über Walter Gaulhofer; durch seine Initiative gelangte das Streicher-Archiv nun an die Österreichische Nationalbibliothek.
Der Bestand insgesamt erlaubt einerseits einen Einblick in die Geschichte des österreichischen Schulturnens seit dem Jahr 1918, in seine Reformbestrebungen und in die es prägenden Persönlichkeiten. Es war dies eine Zeit, in der um die Wissenschaftsfähigkeit des Faches Leibeserziehung gerungen wurde, und das Fach Sportwissenschaft sich an den Universitäten zu etablieren begann. Deutlich wird auch, dass der Turnunterricht kein „neutrales Terrain“ bildet, sondern dass gerade auch dieser Bereich für ideologische Einflüsse und Instrumentalisierungen besonders anfällig war. Andererseits lässt sich das Wirken eines zu seiner Zeit sehr bekannten, exzentrischen Bewegungs-Theoretikers nachzeichnen: Max von Thun-Hohenstein und sein Wirken bleibt durch die Arbeit Alois Weywars weiter der Forschungswelt erhalten. So ermöglicht der Nachlass einen umfassenden Einblick in einen Aspekt österreichischer Kulturgeschichte am Beispiel der Entwicklung der körperlichen Erziehung und des Körperbewusstseins.
Zur Autorin: Ute Schmidthaler ist Mitarbeiterin der Sammlung von Handschriften und alten Drucken der Österreichischen Nationalbibliothek.
Literatur:
Größing , Stefan (2000): Affen-Thun oder Gymnastik auf allen vieren. Leben und Wirken des Arztes und Gymnastikers Dr. med. Max Thun-Hohenstein, Salzburg: Institut für Sportwissenschaften.
Größing, Stefan (2007): Margarete Streicher. Eine starke Frau in einer Männerwelt, Purkersdorf: Hollinek.
Rechberger, Wolfgang (1999): Karl Gaulhofer. Historisch-biographische Untersuchungen zu Leben und Werk des österreichischen Schulturnreformers, Salzburg: Institut für Sportwissenschaften.
Weywar, Alois (1996): Gehen – laufen – hüpfen. Die angeborene Fortbewegung des Menschen nach Dr. Max Thun-Hohenstein in Alltag und Spiel, Sport und Tanz, Bewegungserziehung und Physiotherapie, Salzburg: Institut für Sportwissenschaften.
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