Fast 150 Jahre gehörte ein Teil der heutigen Ukraine zur Habsburgermonarchie. Der in dieser Zeit besonders fruchtbare Austausch von Ideen und Talenten hat einen kulturellen Bezugsraum geschaffen, der bis heute besteht und beispielsweise in der Architektur sichtbar zutage tritt. Etwas weniger offensichtlich, aber dafür gut dokumentiert sind die Spuren dieser gemeinsamen Vergangenheit im historischen Bestand der Österreichischen Nationalbibliothek.
Autorin: Annette Höslinger-Finck
Die historischen Bestände der Österreichischen Nationalbibliothek zu Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa sind in Fachkreisen hoch geschätzt. Die Reichhaltigkeit der Sammlungen zu dieser Region hängt mit der territorialen Ausdehnung des ehemaligen Habsburgerreiches zusammen – und einer besonderen gesetzlichen Bestimmung: dem Pflichtexemplarrecht.
Die Österreichische Nationalbibliothek ist berechtigt, von jedem Druckwerk, das in einem österreichischen Bundesland verlegt oder hergestellt wird, in einer bestimmten Frist nach Drucklegung eine genau geregelte Anzahl vom Verleger oder Hersteller zu erhalten - und zwar grundsätzlich kostenfrei. Dies ist in der Pflichtablieferungsverordnung geregelt. Sinn und Zweck ist die Archivierung und Bewahrung der Veröffentlichungen eines Landes, um sie für die Allgemeinheit zu sichern und zugänglich zu machen. Ein solches Recht auf kostenlose Pflichtexemplare gab es seit 1808 auch für die k. k. Hofbibliothek, die heutige Österreichische Nationalbibliothek. Die Sprache, in der das Druckwerk erscheint bzw. erschien, ist dabei völlig egal.
Zum Pflichtexemplarrecht an der k. k. Hofbibliothek existieren bereits Arbeiten von Johanna Thiel, „Zur Geschichte des Pflichtexemplares im Kaisertum Österreich (1807-1827)“ (in: Biblos 26 [1977] 3, S. 290-296) und Magda Strebl, „Die Wiener Hofbibliothek und die Pflichtexemplare“ (in: Festschrift Josef Stummvoll Bd.1, Wien 1970, S. 348-356). Magda Strebl, die spätere Generaldirektorin der Österreichischen Nationalbibliothek, schreibt in ihrem Beitrag auf S. 351f.:
„Eine zentrale Sammelstelle für das ganze Reich wurde erst wieder geschaffen, als […] der Hofbibliothek das neue Pflichtexemplarrecht zuerkannt wurde. Im Hofkanzleidekret vom 20. Juni 1808 werden sämtliche Länderstellen zur Kundmachung angewiesen, daß ‘von sämtlichen in den k. k. Staaten neu aufgelegten und nachgedruckten Schriften, dann von Kupferstichen und Landkarten ein unentgeltliches Exemplar zum Gebrauche der k. k. Hofbibliothek als einer gemeinnützigen Anstalt [i.O. „gemeinnützlichen“] in Hinkunft abgeliefert werden soll‘.“
Die gesamte Bestimmung findet sich in der „Sammlung der Gesetze, welche unter der glorreichen Regierung des Kaisers Franz des Zweyten in den sämmtlichen k.k. Erblanden erschienen sind“ von Joseph Kropatschek, Wien: [Moesle], im Band 1808, Seite 570, Nummer 8079. Von einer Einschränkung auf bestimmte Sprachen ist hier nachweislich nichts zu lesen.
Das Dekret betraf selbstverständlich auch das Königreich Galizien und Lodomerien. Dieses war durch Gebietsgewinne der Habsburgermonarchie im Zuge der Ersten polnischen Teilung 1772 entstanden, ohne je vorher in dieser Form als territoriale Einheit existiert zu haben. Für die Namensgebung wählte man die latinisierten Formen der historischen, aber nicht mehr existenten Fürstentümer Halyč und Volodymyr (Anna Veronika Wendland, Galizien. Westen des Ostens, Osten des Westens. Annäherung an eine ukrainische Grenzlandschaft, in: Ukraine. Geographie, ethnische Struktur, Geschichte, […], Wien 2001, S. 389-421, hier S. 395), wobei überhaupt nur mit ersterem eine territoriale Überschneidung bestand. Hauptstadt und Sitz des Guberniums wurde Lemberg/L’viv/wów/Leopolis, fortan die viertgrößte Stadt im habsburgischen Vielvölkerstaat. Die „Landkarte der Königreiche Galitzien (sic!) und Lodomerien mit dem District von der Bukowina“ zeigt den Stand um 1800 bereits gemeinsam mit der Bukowina, die seit 1775 ebenfalls Teil des habsburgischen Herrschaftsgebiets war und deren Nordteil heute zur Ukraine gehört.
Die Eingliederung der neuen Gebiete in die Habsburgermonarchie brachte freilich große Herausforderungen mit sich. Dies galt sowohl für den Aufbau der Verwaltung als auch den Ausbau der zentralen Infrastruktur, um wirtschaftlichen Aufschwung zu ermöglichen. Überdies mussten unter den rund 2,5 Millionen Menschen (Rudolf A. Mark, Galizien unter österreichischer Herrschaft, Marburg 1994, S. 53) nicht nur zahlreiche ethnische Gruppen wie Polen, Ruthenen (Ukrainer), Russinen, Armenier, Juden, Ungarn usw., sondern auch unterschiedliche Konfessionen und natürlich Sprachen berücksichtigt werden. Die „Ethnographische Karte der Oesterreichischen Monarchie“ von Carl Freiherr von Czoernig aus dem Jahre 1856 bildet die Vielfalt ab.
In den historischen „Allgemeinen Verwaltungs- und Korrespondenzakten“ der Österreichischen Nationalbibliothek finden sich konkrete Nachweise dafür, dass das Hofkanzleidekret über die verpflichtende Abgabe von Druckexemplaren auch in Bezug auf Galizien keinesfalls totes Recht, sondern vielmehr gelebte Praxis war. Deutlich wird dies aus einem Schriftverkehr zur Übermittlung von Pflichtexemplaren, der zwischen der k. k. Hofbibliothek in Wien und dem Galizischen Landesgubernium in Lemberg geführt wurde. So ergeht im Jahr 1811 eine Anfrage über die Polizeihofstelle an den Präfekten der k. k. Hofbibliothek in Wien, Graf Ossoliński. Józef Maksymilian Ossoliński-Tenczyn, wie sein vollständiger Name lautet, leitete die Hofbibliothek von 1809 bis zu seinem Tod im Jahre 1826, entstammte dem polnischen Adel und bemühte sich sehr um die Belieferung der Wiener Hofbibliothek mit Pflichtexemplaren aus der Monarchie (Thiel, Geschichte des Pflichtexemplares, S. 295).http://data.onb.ac.at/rec/AC00368102
In der dem Akt vom 12. April 1811 beigefügten Anfrage aus dem Galizischen Landesgubernium in Lemberg/L’viv vom 29. März 1811 wird mitgeteilt, dass außer der im Verzeichnis aufgezählten und der Hofbibliothek überlassenen Pflichtexemplare weitere Publikationen „bloß jüdische Bücher, meistens Erläuterungen über Gebete“ betreffen, die ohnedies in der Hofbibliothek zu finden seien und überdies die Transportkosten nicht lohnten. Weitere Schriften enthielten Glückwünsche und Gelegenheitsgedichte „unter der Mittelmäßigkeit“, weiters Bücherkataloge sowie Klassifikationen der zur Matura zugelassenen Gymnasialschüler. Der Präfekt möge entscheiden, ob auch diese Werke an die Hofbibliothek abgeliefert werden sollen. Ebenso möge mitgeteilt werden, ob von der künftig monatlich erscheinenden „Lemberger Zeitung“ ein Pflichtexemplar gesandt werden soll.
Die sechs im Verzeichnis aufgezählten und fast alle in Lemberg/L‘viv erschienenen Werke (bei Nr. 3 ist der Ort nicht angegeben) sind im Bestand der Österreichischen Nationalbibliothek aufzufinden:
1) » „Doswiadczania chemiczne i wynalazki“ (1809), die polnische Übersetzung eines ursprünglich deutschsprachigen Werkes des Wiener Chemieprofessors Johann Nepomuk Jassnüger zur Beförderung von Ackerbau und Viehzucht, das auch im Bestand der Österreichischen Nationalbibliothek ist;
2) » „Cenzor w oycu“ (1810), ein Erziehungsratgeber von Ignacy Lubicz Czerwiński in polnischer Sprache;
3) » „Recherches politiques et militaires“ (s.l., 1810), eine militärpolitische Schrift zu Polen von Xavier Dombrowski in französischer Sprache;
4) » „Przewodnik testatora“ (1810), ein Leitfaden für den Erblasser über das korrekte Testieren von Ignacy Lubicz Czerwiński in polnischer Sprache;
5) » „Bemerkungen über die Kuh- oder Schutzpocke in Galizien“ (1810), von Johann Czermak in deutscher Sprache;
6) » „Commentarius in jurisdictionis normam“ (1810), von Carolus Wittig, ein Kommentar zur Gerichtsstandsnorm in lateinischer Sprache.
Antwort aus Wien
Bereits kurze Zeit später, nämlich am 1. Mai 1811, erfolgt die Antwort der Hofbibliothek an das Landesgubernium in Galizien unter Bezugnahme auf den oben genannten Akt der Polizeihofstelle mit der Lemberger Anfrage vom 29. März 1811: Alle Neuerscheinungen seien an die Hofbibliothek abzuliefern, mit Ausnahme von gewöhnlichen Kalendern, jüdischen Gebetbüchern, Buchhändlerkatalogen und von Liedern. Es seien „die Leser und das Nachforschungsbedürfnis des hier so großen und mannigfaltigen und gelehrten Publikums“ mit geeigneter Sammlung zu versorgen. Außerdem wird um Zusendung der neu erscheinenden Lemberger Zeitung ersucht sowie um die Zusendung von Auktionskatalogen, die in Lemberg herauskommen. Der hier wiedergegebene Aktenlauf präsentiert einen zufälligen Ausschnitt aus der Praxis der Pflichtablieferungen, zu dem sich die Korrespondenz erhalten hat. Aber er zeigt, dass diese in durchaus unterschiedlichen Sprachen waren. Und wirklich wird auch in der Beantwortung der Anfrage dezidiert nicht auf die Sprache der Neuerscheinungen Bezug genommen. Das Ruthenische, wie die damalige Bezeichnung des Ukrainischen in der Habsburgermonarchie war (» Stephan von Smal-Stockyj, Theodor Gartner, Grammatik der ruthenischen (ukraïnischen) Sprache, Wien 1913), ist bei dieser Lieferung nicht dabei. Doch der Katalog der ÖNB enthält zahlreiche Publikationen aus dem habsburgischen Galizien mit der Sprachangabe „Slawisch (Andere)“, was im heutigen elektronischen Katalog der Sprachangabe „ruth.“ im alten Zettelkatalog entspricht. Sie sind allerdings aus einer etwas späteren Zeit, in der die Publikationen aus Galizien auch insgesamt mehr wurden. Ob diese alle als Pflichtexemplare an die k. k. Hofbibliothek kamen? Sofern überhaupt eruierbar, bedürfte es hierfür weiterer Recherchen, doch liegt die Vermutung nahe.
Die deutschsprachige, dreimal wöchentlich erscheinende » „Lemberger Zeitung“, von der in der Antwort die Rede ist, befindet sich ab der ersten Nummer aus dem Jahr 1812 in der Österreichischen Nationalbibliothek, digital auch über » ANNO abzurufen.
Recht und Realität
Zu glauben, dass alleine die bloße Existenz einer rechtlichen Bestimmung auch zu deren Beachtung und Erfüllung führte, wäre natürlich ein Irrtum. Laut » Thiel (Geschichte des Pflichtexemplares, S. 296) dürfte die Ablieferung von Pflichtexemplaren – allen Bemühungen Ossolińskis und seines Nachfolgers zum Trotze - an die Hofbibliothek nicht aus allen habsburgischen Ländern gleich gut funktioniert haben, aus Galizien aber sehr wohl. Wir dürfen also zu Recht vermuten, dass ein großer Teil jener Publikationen, die aus Galizien in der Zeit zwischen 1775 und 1918 an die damalige k. k. Hofbibliothek geliefert wurden, im Zuge der Pflichtablieferung ins Haus kam. Für die Nachfolgerin, die heutige Österreichische Nationalbibliothek, ist dieser Bestand ein kostbarer Schatz; für die Forschung wiederum ist er ein Geschenk, dessen Wert gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.
Zur Autorin: Mag. Annette Höslinger-Finck ist Fachreferentin für Literatur in slawischen Sprachen an der Österreichischen Nationalbibliothek.
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