Autorin: Katharina Kaska
Die arabische Bezeichnung des Werkes Kitāb al-diryāq lässt sich als „Theriakbuch“ übersetzen. „Theriak“ ist ursprünglich die Bezeichnung für ein Heilmittel gegen die Bisse giftiger Tiere (daher Buch der Gegengifte). Der Name leitet sich wahrscheinlich vom Griechischen „therion“ für wildes Tier ab. Die Gegengifte der Antike wurden im Mittelalter und der Frühen Neuzeit zu angeblichen Allheilmitteln ausgebaut und kommerziell vertrieben.
Das Kitāb al-diryāq zeigt eine arabische Rezeption der antiken Theriakvorstellungen. Der Text selbst gibt vor, eine Zusammenfassung eines Werkes des berühmten Arztes Galen zu sein, zusammengestellt von dem Alexandriner Johannes Grammatikos/Philoponos (6. Jh.). Tatsächlich handelt es sich wahrscheinlich um ein bereits auf Arabisch entstandenes Werk des 10. Jahrhunderts. Der Text steht stark in der arabischen literarischen Tradition des biographischen Lexikons, das hier jedoch mit einem wissenschaftlichen Traktat verbunden ist. Gleich zu Beginn werden neun berühmte Ärzte der Antike, die sich um den Theriak verdient gemacht haben, schematisch angeordnet mit ihren Porträts vorgestellt. Ihre Biographien in chronologischer Abfolge bilden das Grundgerüst des Textes, das durch die Auflistung der Ingredienzien und möglicher Anwendungsgebiete erweitert wird. Eingeflochten ist ein Traktat über Schlangen, da diese einen Hauptbestandteil von Theriak bilden.
Entstehung der Handschrift
Die reich illuminierte Handschrift ÖNB Cod. A. F. 10 stammt wahrscheinlich aus der Dschazīra, einer Region zwischen Ostsyrien, Nordirak und Südosttürkei. Als Entstehungsort wird Mossul im heutigen Irak vermutet. Im 12. und 13. Jahrhundert entstand in dieser Gegend bei relativer politischer Stabilität eine multikulturelle Kultur, in der die Herrscher ein besonderes Interesse an den praktischen Wissenschaften wie Medizin und damit auch den Gegengiften hatten. Einen Hinweis auf den Entstehungskontext gibt auch die ganzseitige Darstellung zu Beginn der Handschrift, die inhaltlich nicht mit dem Text verbunden ist (Abb. 1). Sie zeigt in der Mitte einen Herrscher, dem von einem Untergebenen Fleischspieße von einem Rost gereicht werden. In den umliegenden Bildelementen werden Personen und Tätigkeiten bei Hof dargestellt. Im untersten Bildstreifen sieht man rechts etwa eine Gruppe von Frauen mit Gesichtsschleiern auf Kamelen, während der oberste Bildstreifen von einer Jagdszene eingenommen wird. Es wird daher angenommen, dass die Handschrift für das höfische Milieu angefertigt wurde. Möglicherweise stammt sie aus dem Umkreis von Badr ad-Dīn Luʾluʾ (gestorben 1259), der zunächst als Vormund der Söhne des Emirs von Mosul und dann als Alleinherrscher im Nordirak regierte und als Auftraggeber anderer Handschriften bekannt ist.
Abb. 1: Frontispiz der Handschrift, höfische Szenen darstellend
Bilder und Texte
Die figürlichen Darstellungen in der Handschrift lassen sich in drei Gruppen einteilen: Darstellungen verschiedener Ärzte und Schlangen, Ärzte bei der Zubereitung von Theriak und Illustrationen zu den Geschichten über die Entdeckung und Weiterentwicklung des Heilmittels. In der Ausstellung » Schatzkammer des Wissens zu sehen ist die Illustration zur Entstehungsgeschichte des Theriaks (Abb. 2). Der Arzt Andromachos der Ältere (auf dem Pferd) beobachtet auf einer Reise einen Knaben, der von einer Schlange gebissen wurde (links im Bild) und als Gegenmittel Lorbeerfrüchte isst (Baum mit roten Früchten in der Mitte). Daraus entwickelt er den ersten Theriak mit den vier Zutaten Lorbeerfrüchte, Enzian, Myrrhe und Kostwurz. Die Darstellung der Szene ist eingebettet in eine stilisierte Landschaft mit verschiedenen Vögeln und einem als Kreissegment angedeuteten Himmel.
Abb. 2: Die Erfindung des Theriaks, inspiriert durch einen Knaben, der einen Schlangenbiss mit Lorbeerfrüchten behandelte
Eine der bedeutendsten Weiterentwicklungen bei der Theriakherstellung war die Beigabe von Schlangenfleisch. Es wundert daher nicht, dass der Text neben einer illustrierten Schlangenliste auch eine Anleitung zur Jagd auf die gefährlichen Tiere gibt (Abb. 4). Aus enthaarten, mit Stroh gefüllten Schafhäuten werden menschliche Figuren geformt, denen man Glasaugen einsetzt (linke Bildhälfte). Die Schlangen attackieren diese Puppen, die sie für lebende Menschen halten. Dadurch ermüden sie und können so leichter gefangen werden (Arzt mit Gehilfen in der rechten Bildhälfte). Dass es sich bei den Bissopfern um Puppen und nicht um Menschen handelt, zeigt auch das Fehlen der Goldnimben, die in der Handschrift die Köpfe der Menschen sowie einiger Vögel umgeben.
Abb. 3: Anleitung zur Schlangenjagd
Provenienz und Forschung
Wie die wertvolle Handschrift nach Wien gekommen ist, ist nicht bekannt. Der Codex wird bereits in den Aufzeichnungen des ersten Bibliothekars der Hofbibliothek, Hugo Blotius (1533–1608), erwähnt, der 1575/6 auch den ersten Katalog der Sammlung anlegte.
Blotius, der kein Arabisch konnte, schloss aufgrund der Bilder, dass es sich um eine medizinische Handschrift handeln müsse. Schon damals war der Erhaltungszustand des Bandes offensichtlich sehr schlecht: Die Bindung war kaputt und die Blätter hielten nicht mehr zusammen. Dies hatte zur Folge, dass die Blätter in Unordnung gerieten und die korrekte Textabfolge nicht mehr nachvollziehbar war.
Größere Aufmerksamkeit erhielt das Buch im späteren 17. Jahrhundert. Peter Lambeck (1628–1680), einer der bedeutendsten Bibliothekspräfekten seiner Ära, nahm die Handschrift mit einem Kupferstich in seine Bände über die Handschriften der Hofbibliothek auf. Der Hintergrund war allerdings vielleicht ein Missverständnis: Er glaubte in einer Vogeldarstellung einen Basilisk zu erkennen. Dieses gefährliche Fabeltier aus Hahn und Schlange mit gekröntem Kopf war seit der Antike aus der Literatur bekannt und soll einer Sage nach auch in der Schönlaterngasse in Wien gehaust haben. Im Theriakbuch handelt es sich allerdings um die Darstellung eines wesentlich harmloseren Tiers – abgebildet ist ein stilisierter Pfau (Abb. 4 und 5).
Abb. 4 und 5: Pfau, als Basilisk interpretiert, und ein Vergleichsbasilisk im Werk Peter Lambecks
In den folgenden 250 Jahren fand die Handschrift Eingang in verschiedene Kataloge und Publikationen, ohne dass jedoch wesentlich Fortschritte bei ihrer Erschließung erzielt wurden. Erst in den 1930er Jahren wies der österreichische Experte für Buchmalerei Kurt Holter die Handschrift der Buchproduktion von Mosul in der Zeit von 1220 bis 1240 zu. Die Interpretation des Bildprogrammes und vor allem die nähere Untersuchung des Textes sind jedoch noch immer nicht abgeschlossen. Nach einer aufwendigen Restaurierung der fragilen Blätter wurde daher 2016 ein Workshop mit ExpertInnen aller Fachrichtungen veranstaltet, um offene Fragen und zukünftige Forschungen zu diskutieren. Ein erstes wichtiges Ergebnis liegt bereits vor: Aufgrund der neuesten Untersuchungen der italienischen Arabistin Arianna D’Ottone kann nun erstmals nach Jahrhunderten die originale Blattabfolge der Handschrift wieder hergestellt werden – eine unabdingbare Voraussetzung für weitere Interpretation von Text und Bild.
Autorin: Dr. Katharina Kaska ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Sammlung von Handschriften und alten Drucken.
Wichtigste Literatur
Max Meyerhof, Joannes Grammatikos (Philoponos) von Alexandrien und die arabische Medizin. Mitteilungen des deutschen Instituts für ägyptische Altertumskunde in Kairo 2 (1932) 1–21 (zum Text).
Kurt Holter, Die Galen-Handschrift und die Makamen des Hariri der Wiener Bibliothek. Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen in Wien. Sonderheft 104 (1937) 1–15 (zur Buchmalerei).
Dorothea Duda, Islamische Handschriften II. Die Handschriften in Arabischer Sprache (Die illuminierten Handschriften und Inkunabeln der Österreichischen Nationalbibliothek Band 5, Teil 1, Wien 1992) 46–69.
Sarah Kuehn, The Dragon in Medieval East Christian and Islamic Art (Leiden 2001), Kapitel 10 (besonders über die Schlangen).
Oya Pancaroğlu, Socializing Medicine: Ilustrations of the Kitāb al-diryāq. Muqarnas 18 (2001) 155–172.
Jaclynne J. Kerner, Art in the Name of Science: The Kitāb al-diryāq in text and image, in: Arab Painting: Text and Image in Illustrated Arabic Manuscripts, hg. von Anna Contadini (Handbook of Oriental Studies Section 1, Vol. 90, Leiden 2010) 25–39.
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