Ein Zeugnis für Rausch und Genuss oder eine kluge Investition?
Autorin: Claudia Kreuzsaler
Am 18. März des Jahres 638 n. Chr. kaufte ein Mann namens Aurelios Kiamul vom Winzer Aurelios Danielis in der mittelägyptischen Stadt Hermupolis 250 Maß Wein. Über dieses Geschäft ließen die beiden eine Notarsurkunde errichten, die bis heute erhalten geblieben ist und in der Papyrussammlung der Österreichischen Nationalbibliothek verwahrt wird (P.Vindob. G 2143 + 28707).
Der gesamte Urkundentext wurde auf einem relativ kleinen Blatt Papyrus untergebracht. Die Zeilen stehen eng aneinander und reichen bis knapp an die Ränder. Wo der Platz nicht genügte, sind noch letzte Buchstaben über der Zeile eingefügt. Das Schriftbild ist unsauber, denn der Schreiber beging zahlreiche Rechtschreibfehler, die nachträglich durch dicke Überschreibungen korrigiert wurden. Neben den beiden Vertragspartnern waren noch vier weitere Personen an der Errichtung der Urkunde beteiligt: Aurelios Isaak, der den Text für Danielis niederschrieb („Ich habe für ihn geschrieben, da er die Buchstaben nicht kennt“), Johannes und Christodoros als „Ohrenzeugen“ sowie der ausfertigende Notar Leontios, dessen stilvolle Unterschrift in der letzten Zeile sich deutlich vom restlichen Text abhebt.
Normalerweise wurden Alltagsgeschäfte wie Weinkäufe nicht schriftlich festgehalten. Dies gilt insbesondere für den Barkauf. Wenn Geld und Ware Zug um Zug übergeben wurden, wäre die Errichtung einer Urkunde unnötig kostspielig gewesen. Wenn dagegen eine Vertragspartei in Vorleistung ging und die Gegenleistung erst zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen sollte, konnte es wichtig sein, die noch offene Forderung mit einer Schuldurkunde beweisbar zu machen.
Eine solche Konstellation liegt hier vor: Kiamul bezahlte den Kaufpreis schon am 18. März, Danielis sollte aber erst Monate später liefern. Verkauft wurde nämlich der Wein der kommenden Ernte – und dies zu einem Zeitpunkt, an dem gerade die ersten Reben auszutreiben begannen.
Da der Preis bereits bezahlt wurde, ist er in der Urkunde gar nicht genannt. Diese Leistung ist ohnehin schon erbracht. Es bleibt nur die Verpflichtung des Verkäufers zur Weinlieferung, die entsprechend ausführlich in dem einseitig formulierten Schuldschein geregelt ist:
„Ich bestätige, vollständig von dir den kompletten und angemessenen Preis erhalten zu haben für zweihundertfünfzig Maß neuen Weinmost, das macht: an Wein Metra 250, die ich dir im Monat Mesore [Juli/August] des mit Gott kommenden zwölften Indiktionsjahres bereitstellen werde in neuem, bestem und schmackhaftem Wein, im Maß des Bottichs, ohne irgendeine Ausrede und Widerspruch, ohne Entscheidung oder Urteil.“
Der Winzer verpflichtet sich, im Zuge der kommenden Weinlese (die sich nach der Traubenreife bestimmt und daher nur ungefähr mit dem Erntemonat Mesore angegeben werden kann) dem Käufer von der frischen Pressung 250 Maß des unvergorenen Weinmosts zuzumessen.
Die Weinlese war schon in der Antike ein landwirtschaftliches Ereignis mit Festcharakter. Zahlreiche Erntehelfer holten die Trauben ein, Kelterer („Traubentreter“) pressten die Trauben mit ihren Tritten, während Musikanten die Arbeiter unterhielten und damit gleichzeitig den Takt des Kelterns vorgaben.
In dieser Szenerie darf man die Zumessung des Weins für Kiamul verorten. Ausdrücklich geschuldet werden die 250 Metra im Maß des Kelterbottichs (Pithos). Damit dürfte – wie archäologische Funde in Ägypten zeigen – eine gemauerte Kelteranlage (Lenopithos) gemeint sein, zu der eine rechteckige Kelterplattform (Lenos) gehörte, auf der die Kelterer standen und die Trauben traten, sowie ein tiefer gelegenes Auffangbassin für den Traubensaft (Pithos). In diesem Auffangbecken der Kelteranlage des Danielis wird es entsprechende Markierungen gegeben haben, auf die sich die im Dokument ausbedungene Maßeinheit bezieht.
Kiamul wusste natürlich, wie viel ein Maß vom Kelterbecken des Danielis fasste und welche Mengen Wein er zu erwarten hatte. Für uns ist die Umrechnung naturgemäß schwieriger. Zeitnahe Papyri zeigen, dass ein Metron Wein in der Regel mit 10 Sextarii gleichzusetzen ist. Der Sextarius ist ein römisches Hohlmaß und entspricht 1/6 einer Kanne (Congius) bzw. 1/48 einer Amphore, umgerechnet 0,54 Liter. Mit dieser Annahme lässt sich die Menge des gekauften Weines auf die beträchtliche Summe von 1.350 Liter hochrechnen. Die beiden Männer tätigten demnach ein Geschäft, das weit über den alltäglichen Rahmen hinausging.
Die exorbitante Menge des von Kiamul gekauften Weins – alleine für den Transport würden mehr als 50 große Amphoren und etwa 12 Kamele benötigt – provoziert die Frage nach dem Ausmaß des üblichen Weinkonsums. Man denkt unweigerlich an jene rauschenden Feste, die aus der griechisch-römischen Antike mannigfaltig in Bild und Text überliefert sind. Wein war nicht nur ein beliebtes Getränk und Genussmittel, sondern untrennbar mit dem Sozialleben des kultivierten Griechen verknüpft. Beim Symposion (griechisch für „gemeinsames Trinken“) traf man sich im Haus eines Teilnehmers, widmete sich dem geistigen Austausch, hielt Reden zu einem bestimmten Thema, sang Kultlieder und trank eben Wein. Zu Beginn des Gelages wurde ein Symposiarch gewählt, der das Mischungsverhältnis des Weins festlegte und damit auch über den zu erwartenden Grad an Betrunkenheit entschied. Die Ritualisierung des geselligen Trinkens steht in direktem Zusammenhang mit dem Kult des Gottes Dionysos. Wer beim Symposion trank, tat dies zu Ehren des Dionysos, und im Rausch wiederum offenbarte sich der Gott den Trinkenden.
Dabei gab es bereits kritische Stimmen, die vor zu großem Weingenuss warnten. Wenn etwa Plinius der Ältere in seiner Naturgeschichte (nat. hist. 14, 141) mahnt, dass „in vino veritas“, im Wein also die Wahrheit läge, so bezieht er dies auf die Unfähigkeit des Betrunkenen, etwas für sich zu behalten, weswegen sich so mancher in der Trunkenheit wörtlich um Kopf und Kragen geredet habe.
Waren es also ungesunde Trinkgewohnheiten, die Kiamul zum Ankauf eines so ansehnlichen Weinvorrats veranlassten? Die Bestellung würde immerhin für die Ausrichtung einer ganzen Reihe von Trinkgelagen ausreichen.
Wein war allerdings nicht nur Rauschmittel, sondern darf zusammen mit Getreide und Öl zu den antiken Grundnahrungsmitteln gezählt werden. Das mag medizinische Gründe gehabt haben: Vielfach wurde dem Trinkwasser Wein zugesetzt, um es zu desinfizieren. Angestellte, Soldaten, sogar Frauen und Kinder erhielten zusammen mit Lebensmittelrationen regelmäßige Zuteilungen von Wein, meist im Umfang von etwa 1/4 Liter pro Tag, aber auch Rationen von einem Liter täglich kamen vor.
Auf diese Weise lässt sich die Großbestellung des Kiamul einordnen, ohne ihn zum notorischen Trinker erklären zu müssen. Es könnte durchaus sein, dass Kiamul mit diesem Kauf seinen gesamten Jahresvorrat decken wollte. Dann bliebe zwar immer noch eine reichliche Ration von 3,7 Litern Wein pro Tag, doch könnte diese auf mehrere Personen aufzuteilen gewesen sein: seine (Groß-)Familie oder seine Angestellten in einem Betrieb. Eventuell war der Wein auch gar nicht zum direkten Konsum, sondern für den Weiterverkauf gedacht, weil etwa Kiamul nur Zwischenhändler war oder ein Gastronom, der in seiner Schenke unter anderem Wein anbot.
Nicht nur die Menge des bestellten Weins ist erklärungsbedürftig. Interessant ist auch, wieso Kiamul überhaupt bereit war, den gesamten Kaufpreis Monate im Voraus zu bezahlen – und damit Danielis funktionell ein Darlehen zu gewähren – anstatt im kommenden Winter den fertigen Wein direkt zu erwerben.
Durch den Vertrag sicherte sich Kiamul frühzeitig den Erhalt der von ihm gewünschten Weinmenge zur nächsten Ernte – und zwar unabhängig davon, wie reich diese ausfallen würde. Er war damit vor Engpässen, aber auch vor Preisschwankungen durch Missernten gefeit. Gleichzeitig fungierte er als Investor in die Weinproduktion, der dem Winzer die Aufwendungen der nächsten Monate, insbesondere für die Ernte, vorfinanzierte. Der Weinbauer wiederum wird tunlichst danach getrachtet haben, die bereits verkaufte Menge Wein tatsächlich zu produzieren, um nicht teure Nachkäufe zur Vertragserfüllung tätigen zu müssen. Vermutlich fiel der Kaufpreis wegen der Vorauszahlung sogar deutlich niedriger aus, worin der eigentliche ökonomische Mehrwert für den Weinbesteller gelegen sein mag.
Dabei dürften sich die Vertragspartner der potentiellen Schwierigkeiten bei der späteren Lieferung des bezahlten Weins durchaus bewusst gewesen sein, weswegen für den Fall der Nichterfüllung eine hohe Ersatzleistung in Geld vereinbart wurde:
„Sofern ich dir aber den Wein nicht zu diesem Termin liefern sollte, stimme ich zu, dass ich dir für seinen Wert vier Goldsolidi zahlen werde, sofort nach dem Termin, auf meine Gefahr und unter Haftung meines gesamten Besitzes.“
Der Winzer sollte aber nicht nur für die Menge des Weins haften, sondern auch für dessen Qualität – und zwar konkret für die Güte des Weins nach der Gärung:
„Und wenn er von da an bis zum Monat Tybi [Dezember/Jänner] desselben Indiktionsjahres für sauer, unausgegoren oder kahmig befunden werden sollte, verspreche ich, dass ihn dir ohne Aufschub in guten Wein umtauschen werde.“
Der im Sommer dem Kiamul zuzumessende Weinmost sollte offenbar noch weitere Monate zur Gärung in der Obhut des Winzers verbleiben. Erst im darauffolgenden Winter würde er verkostet und im Anschluss daran an den Käufer übergeben. Etwaige Probleme bei der Gärung gingen damit immer zu Lasten des Winzers – Gärfehler ebenso wie eine unverschuldete Verschlechterung der Weinqualität. Bei Weinkäufen von solch großen Dimensionen war dies ein beachtliches Risiko für den Weinbauern, dem im Fall von Missernte oder schlechter Gärung vielleicht kein ausreichender Pool für eine Ersatzlieferung zur Verfügung stand. Dann könnte er seine Verpflichtung nur noch durch Zukäufe von fremdem Wein erfüllen oder müsste die Strafzahlung in Geld leisten.
So bleibt es im Sinne des Winzers zu hoffen, dass 638 n. Chr. ein guter Jahrgang war und Danielis seinen Käufer Kiamul im folgenden Winter mit 1.350 Liter schmackhaftem Wein erster Güte zufriedenstellen konnte.
Zur Autorin: Frau Dr. Claudia Kreuzsaler ist stellvertretende Direktorin der Papyrussammlung der Österreichischen Nationalbibliothek.
Weitere Informationen und Literatur zum Objekt: http://data.onb.ac.at/rec/RZ00001699
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