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Case Study: Erich Fried: „Intimus“, 17.1.1966

Transkribierter und kommentierter Text


Vorbemerkung

 

Die folgenden Ausführungen stellen eine erste vertiefte Auseinandersetzung mit einer BBC-Sendung von Erich Fried vom Januar 1966 dar (zu den „Intimus“-Sendungen Frieds siehe den Beitrag im » Forschungsblog). Neben den Scans des Sendungstexts, der sich als Matrizenabzug im » Nachlass Erich Frieds am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek erhalten hat, findet sich hier der vollständig transkribierte Text. Markiert sind Registereinträge (Personen, Orte/Länder, Periodika, Werke) sowie Stellenkommentare. Übergreifende Kommentare geben erste Einblicke in den historischen Kontext und die Rezeption der Sendung. Darüber hinaus wird die Argumentationsstrategie analysiert.

Da es sich somit nur um eine vorläufige Einzelanalyse handelt, bleiben bestimmte Bereiche wie etwa die Einbettung der „Intimus“-Sendungen in die Geschichte der BBC und die Infrastruktur ihres ‚Ostzonenprogamms‘ vorerst ausgeklammert. Zu den weiteren Aspekten, die einer umfassenden Untersuchung des Gesamtkorpus vorbehalten bleiben, gehört etwa auch die Geschichte des Eurokommunismus oder – auf einer anderen Ebene – die Analyse von Frieds Informationsquellen.

Auch die Kurzbiographien mit ihren Bezugnahmen auf Fried und weitere intertextuelle Verschränkungen dürfen erst im Laufe einer entsprechenden umfassenden Untersuchung als abgeschlossen betrachtet werden. Anknüpfen können die Kommentare an Vorarbeiten zu Erich Fried von Volker Kaukoreit und an die Forschungsarbeiten von Carsten Gansel (siehe Literaturnachweise).

 

Überlieferung

 

Literaturarchiv der Österreichische Nationalbibliothek, Nachlass Erich Fried (ÖLA 4/90, Gruppe 16.2.1.1), BBC-Matrizenabzug, datiert: 17.1.1966, 5 Seiten. Permalink zum Katalogisat: http://data.onb.ac.at/rec/AC13854827

Matrizenabzug der „Intimus“-Sendung vom 17. 1. 1966 (LIT, Nachlass Erich Fried, ÖLA 4/90)

 

Der Text

 

In den letzten Wochen habe ich hier immer wieder Namen wie Robert Havemann und Wolf Biermann genannt. Ich habe die Anklagen, die bei Ihnen drueben gegen Havemann und Biermann verbreitet wurden, zitiert, und ich habe mich bemueht, an Hand der Aeusserungen eines Robert Havemann oder eines Wolf Biermann selbst, zu zeigen, dass diese Aeusserungen, die bei Ihnen drueben nur angegriffen aber nicht nachgedruckt werden duerfen, ganz anders sind, als in dem Kesseltreiben gegen Havemann und Biermann immer wieder behauptet wird. Ich habe auch Stimmen zitiert, die gegen die Verleumdung dieser Menschen als Schaedlinge und Feinde des Sozialismus und der DDR protestiert haben. Ich habe Peter Weiss und Heinrich Boell genannt [Stellenkommentar 1], ich habe den fuehrenden italienischen Kommunisten Professor Lombardo-Radice genannt, der Havemann verteidigt hat, in einem langen enthusiastischen Artikel in I' UNITA  [Stellenkommentar 2], ich habe die oesterreichische kommunistische Kulturzeitschrift TAGEBUCH genannt, in der Ernst Fischer eine von Grund auf positive und unvergleichlich ueberzeugendere Einschaetzung des Dichters Biermann [Stellenkommentar 3] gibt als die Schimpfreden und Verleumdungen gegen Biermann bei Ihnen drueben, die man doch gar nicht als Einschaetzung bezeichnen kann!

Ich koennte diese Aufzaehlung fortsetzen. Die offizielle polnische Fachzeitschrift fuer philosophische Studien, STUDIA FILOSOFICZNE, enthaelt eine 33 Seiten lange Besprechung der Vorlesungen und Seminare Professor Havemanns [Stellenkommentar 4] an der Humboldt-Universitaet, eine keineswegs unkritische aber aeusserst positive Besprechung, in der es heisst: „Mit Recht betont Havemann die Wechselwirkungen zwischen dem Dogmatismus in der Philosophie und im gesamten Geistesleben, und zwischen dem Stalinismus im Bereich der Politik und der Administration.“ Sie sehen also, was die polnischen Genossen loben, das wird bei Ihnen zum eigentlichen Grund fuer das Kesseltreiben gegen Professor Havemann. Man kann die polnischen Genossen nur beglueckwuenschen, dass die Volksrepublik Polen nicht vom Politbuero der SED beherrscht wird, sonst wuerde es im polnischen Kulturleben vielleicht nicht gar so viel besser zugehen wie seinerzeit unter deutscher Besatzung im Zweiten Weltkrieg.

Verzeihen Sie, ich habe mich vielleicht von der Bitterkeit zu weit treiben lassen. Das war ein Gleichnis. So arg, wie unter hitlerdeutscher Besatzung waere es natuerlich nicht! Aber meine Bitterkeit kommt daher, dass das, was heute in der DDR verzapft wird, Schande genug ist! Und dass man dieser Flut von Entstellungen, von Luegen und Verleumdungen – ich kann leider kein hoeflicheres Wort finden – fast hilflos gegenuebersteht. Denn was nuetzt es, wenn italienische und polnische Genossen, englische, franzoesische und oesterreichische Genossen gegen die Verunglimpfung eines Havemann, eines Biermann, und so vieler anderer, empoert protestieren oder ratlos und entsetzt den Kopf schuetteln; solange diese Proteste in der DDR einfach totgeschwiegen werden, solange in der DDR solche schaendlichen Gemeinheiten veroeffentlicht werden koennen, wie der schmutzige Artikel in der Wochenendbeilage der JUNGEN WELT vom 11./ 12. Dezember ueber Wolf Biermann [Stellenkommentar 5]. Ich lese die JUNGE WELT nicht regelmaessig und hatte diesen Artikel nicht gesehen. Englische Kommunisten haben ihn mir unter die Nase gehalten und haben mich gefragt, ob diese Schmierfinken, die das schreiben, und drucken, ueberhaupt noch als Sozialisten bezeichnet werden koennen. Und ich muss sagen, der Artikel erinnert an nichts so sehr wie an die Nazizeitung „Der Stuermer“ unseligen Angedenkens.

[Die Frage, die einen wirklich beschaeftigt, ist, was eigentlich dahinter steht?] Stalin haette diese Politik natuerlich fuer voellig richtig gehalten. Aber Stalins Lehre, dass sich nach der Eroberung der Macht durch die Kommunisten der Klassenkampf noch intensiviert, ist doch laengst als verhaengnisvolle Irrlehre entlarvt worden, die nur den Vorwand fuer die blutigen Saeuberungsaktionen geliefert hat, die das Ansehen und die Verteidigungsbereitschaft der sozialistischen Laender und den guten Namen des Kommunismus in aller Welt aufs schwerste geschaedigt hat.

Und doch ist es offenbar diese Lehre Stalins von der Intensivierung des Klassenkampfes, die heute in der DDR wieder auflebt, auch wenn sich die verantwortlichen Funktionaere noch nicht trauen, sich zu diesem moerderischen Irrsinn wieder offen zu bekennen, weil sonst ihre Freundschaftsbeteuerungen gegenueber der Sowjetunion sehr zweifelhaft erscheinen muessen und sie sich als Brueckenbauer zwischen Stalin von vorgestern und China von heute enthuellen.

Es ist natuerlich von allem Anfang an klar, dass es den Verfolgern Professor Havemanns und Wolf Biermanns nicht nur um diese zwei Menschen ging und geht, und auch nicht um zehn oder zwanzig Menschen, sondern um viel mehr, um die zwangsweise Wiedereinfuehrung von Herrschaftsmethoden, die sich sowohl in der Praxis der Laender des sozialistischen Lagers als auch in der Wiedergeburt des marxistischen Geisteslebens seit Stalins Tod als unpraktisch und falsch erwiesen haben, als unvereinbar mit dem Geist von Marx und Engels, von Lenin und Rosa Luxemburg; jener Rosa Luxemburg, die uns daran erinnert hat, dass Freiheit nur dann Freiheit ist, wenn auch Andersdenkende Freiheit haben, und die im Jahre 1918 dem Genossen Lenin die Gefahr des Stalinismus vorausgesagt hat. Nun, die von Ihnen, die marxistisch gebildet sind, wissen, dass dieses Werk Rosa Luxemburgs, Die Russische Revolution [Stellenkommentar 6], in der DDR bis auf den heutigen Tag unterdrueckt ist. Und die das wissen, die wissen auch, dass es ein furchtbarer Hohn auf das Andenken Rosa Luxemburgs ist, dass gerade Paul Verner ihr die Gedenkrede [Stellenkommentar 7] gehalten hat, Paul Verner, der sich auf der letzten ZK-Tagung [Stellenkommentar 8] so verhalten hat, als haette er sich ausdruecklich vorgenommen, jede einzelne Mahnung Rosa Luxemburgs mit Fuessen zu treten. Paul Verner hat vom Vietnam-Krieg, von amerikanischer Aggression gesprochen und von der Bundesrepublik, die er als permanenter Stoerenfried jeder Entspannung bezeichnet hat. Nun, die von Ihnen, die mich entweder oefter hoeren oder die Zugang zu westdeutschen Zeitungen haben, werden wissen, dass auch ich die amerikanische Aussenpolitik, den Vietnam-Krieg und die Haltung der Bundesrepublik wiederholt scharf kritisiert habe und weiterhin kritisiere und bekaempfe. Aber, bedenken Sie: Alle Entwicklungen in der Bundesrepublik, vor denen man in der DDR warnt, aller selbstherrlicher Duenkel deutscher Menschen als gottgewollte Waechter und Kaempfer gegen den Kommunismus – das alles wird ungemein gefoerdert und gestaerkt und erhaelt geradezu erst eine Massenbasis durch die Rueckfaelle in den Stalinismus in der heutigen DDR, durch die Luegen und Verleumdungen gegen anstaendige Menschen aus den eigenen Reihen, in einer Sprache, die nicht nur buerokratischer Jargon ist, sondern in des Scherzwortes blutigster ernster Bedeutung mehr und mehr ein »Parteichinesisch«. Wenn ich ein polnischer, tschechischer oder russischer Kommunist waere, wuerde mich der neue Ton in der DDR mit Schrecken erfuellen. Wenn ich ein Mitglied der chinesischen Parteifuehrung waere, wuerde ich hoffnungsvoll aufhorchen. Mittlerweile kaempft das Regime gegen die ehrlichsten und begabtesten kommunistischen Dichter, Kuenstler, Philosophen und Wissenschaftler und isoliert sich immer mehr von der eigenen Bevoelkerung. Wohin soll dieser Irrweg fuehren? Er ist verderblich, und er ist – immer noch – leicht zu vermeiden. Er hilft auf die Dauer nur den Feinden der DDR.

Personen

 

    

Werke

 

    

Orte/Länder

 

    

Periodika

 

    

Institutionen/Organisationen

 

   

Stellenkommentare

 

    

Übergreifendes

 

    

Literaturnachweise

 

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