Kindheit und Überleben
Eine konfliktreiche Mutter-Tochter-Beziehung
Ruths Mutter Alma Klüger wird am 4. März 1903 als Tochter des jüdischen Zuckerfabrikdirektors Wilhelm Gredinger in Wien geboren. Bereits mit 22 Jahren bringt sie ihr erstes Kind, Jiři Mendl, zur Welt. Nachdem sie sich vom Vater ihres Sohnes getrennt hat, heiratet sie den Arzt Viktor Klüger. Im Jahr 1931 wird ihre gemeinsame Tochter Susanne Ruth Toni Klüger geboren. Mutter und Tochter überstehen die Jahre bis zu ihrer Deportation 1942. Das Leben in den Konzentrationslagern im Angesicht der Vernichtung belastet die Beziehung von Mutter und Tochter auf kaum vorstellbare Weise. Das Verhältnis der beiden Frauen ist zeitlebens geprägt von Konflikten, die später in Ruth Klügers autobiografisches Werk Eingang finden. In anklagenden Schilderungen verarbeitet sie den durchwegs paranoiden und von Grund auf misstrauischen Charakter ihrer Mutter, der seit frühen Kindheitstagen ein unbehagliches Miteinander schafft. So beschreibt sie in einer eindrücklichen Szene, wie sie als Mädchen die Handtasche ihrer Mutter aus Rache zerschneidet. Da Alma Klüger nach der Auswanderung jeglichen Kontakt mit der deutschen Sprache ablehnt, liest sie die Memoiren ihrer Tochter nicht. Um ihr die schmerzhaften Passagen nicht zuzumuten, verfasst Ruth Klüger ihre englischsprachige Autobiografie erst, als Alma Klüger im Sterben liegt.
Die Abwesenheit des Vaters
"Nicht los werde ich den Impuls, ihn zu feiern, eine Zeremonie, eine Totenfeier für ihn zu finden oder zu erfinden.“1, schreibt Ruth Klüger in den wenigen Passagen ihrer Memoiren, die den Vater betreffen. Als Klüger neun Jahre alt ist, muss er die Familie verlassen, um einer Verhaftung durch die Nationalsozialisten zu entgehen. Der jüdische Arzt schlägt sich über Italien nach Südfrankreich durch, von wo er ins Baltikum deportiert und ermordet wird. In ihrem Gedicht „Mit einem Jahrzeitlicht für den Vater“ wird nach jüdischer Sitte eine Totenkerze angezündet und Klüger verarbeitet den plötzlichen Verlust und die Sehnsucht nach dem Vater. Kleine Anekdoten prägen ihr vages Vaterbild: wie er vor der Schule auf sie wartet, geduldig und vornehm an ein Gitter gelehnt, wie er ihr das Schachspiel lehrt oder sie wegen Kleinigkeiten streng zurechtweist. Aber vor allem ist er für sie das Gespenst, das ihr entschlüpft, aber doch durch ihr Leben spukt. Jahrzehnte später erst spricht sie mit ihrer Mutter über sein Verschwinden und ihr Zurückbleiben, rekonstruiert seine Flucht aus Wien und erfährt von alten Freunden und Bekannten Details über seine letzten Jahre im Exil.
1 Weiter leben. Eine Jugend. dtv 1994, S. 24-25.
Der Verlust des Bruders
Einfühlsam schildert Ruth Klüger ihre kurze Zeit mit ihrem sechs Jahre älteren Halbbruder Jiři Mendl. „Er war mein erstes Vorbild und wohl das einzige uneingeschränkte.“2 In Kindheitstagen darf sie mit ihm und seinen Freunden spielen, sein Fahrrad und seine Taschenlampe bewundern. Und obwohl ihm die anhängliche kleine Schwester öfters auf die Nerven fällt, weiß sie von Kuscheleinheiten zu berichten. Doch es sind nur wenige Erinnerungen, die das junge Mädchen sammeln kann. Jiřis Vater wird nach der Scheidung das Sorgerecht zugesprochen und er lebt fortan in Prag. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wird er in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, doch seine ebenfalls dort inhaftierte Mutter und Schwester wird er nicht wiedersehen. Jiřis Schicksal bleibt für Ruth Klüger viele Jahre ungewiss. Erst Jahrzehnte später erfährt sie zufällig, dass er bei einem Transport nach Riga erschossen wird. Wie der Vater begleitet sie auch der Bruder als ein Gespenst, das immer wieder auftaucht und auf sich aufmerksam macht. In ihrem Gedicht „Halloween and a ghost“ stellt sie ihre beängstigenden Gespenster der Vergangenheit in Kontrast zu den verkleideten Kindern, die sich auf Süßigkeiten freuen – während für Klüger Halloween zu einer Hölle verkommt.
2 Weiter leben. Eine Jugend. dtv 1994, S. 22.
Ruth Klüger: "Die Toten sind die eigentlichen Opfer."
Quelle: » literaturepochen.at
Das düstre Wien der Kindheit
Als die etwa 5-jährige Ruth Klüger um 1936 in die Kamera lächelt, spitzt sich in Wien die Lebenssituation für ein jüdisches Mädchen bereits bedrohlich zu. Radikale Überzeugungen und Hass durchziehen die Gesellschaft und ebnen schrittweise den Aufstieg der NSDAP und den Anschluss an Hitler-Deutschland. Noch aber schützen Wintermantel, Mütze und Muff vor dem eisigen Wind, der durch die engen Gassen pfeift. Sie tobt mit Gleichaltrigen durch den Esterházypark des 6. Wiener Gemeindebezirks, den sie als „Hasipark“ bezeichnet und der zum Ort des fantasievollen Spielens wird. Jahrzehnte später beschwört Ruth Klüger in einem Gedicht den ausgestorbenen „Geister-Hasipark“: „Auf verlassenem Spielplatz wirbelt der Sand […] / Stadt, die ein Kind […] verbannte“. Während die SpielgefährtInnen allmählich spurlos verschwinden und die Einsamkeit auf das junge Gemüt schlägt, findet Ruth Klüger Bestärkung in Büchern, die sie wahllos verschlingt, in Gedichten, die sie auswendig lernt, in vergnüglichen Reimen, die sie im Kopf verfasst. Nach langen Streifzügen durch die feindliche Stadt, die allerorts mit aggressiver Propaganda ihre „Auslöschung“ fordert, versteckt sie den Judenstern und flüchtet in die Zerstreuung des Kinos. Im September 1942 wird sie gemeinsam mit ihrer Mutter und Großmutter aus Wien in das KZ Theresienstadt deportiert.
Ruth Klüger über Wien als eine judenfeindliche Stadt
Quelle: » literaturepochen.at
Theresienstadt oder "Das Talent der Freundschaft"
Das KZ Theresienstadt ist für Ruth Klüger der Ort der Krankheiten und Seuchen, der Ort, an dem sie ihre geschwächte Großmutter verliert. Während mit ihr der mütterlich-herzliche Familienmittelpunkt und die traditionell gelebten jüdischen Werte zu Grabe getragen werden, erwacht in dem vereinsamten Mädchen allmählich das eigene soziale Bewusstsein. In der streng geregelten Kindergemeinschaft blüht die 11-Jährige auf und entwickelt jene eigentümliche Eigenschaft, die sie später nicht ohne Stolz als „Talent zur Freundschaft“3 bezeichnen wird. Dort findet Ruth Klüger auch ihre beste Freundin, die Wienerin Hanna Ungar. Nach ihrer Befreiung wird Ungar nach Australien auswandern und zeitlebens mit ihr verbunden bleiben. Gemeinsam besuchen sie auf verborgenen Dachstühlen den behelfsmäßigen Unterricht bei inhaftierten GelehrtInnen, die den vernachlässigten Kindern die jüdische Geschichte, Kultur und Sprache lehren. Das lange schon ersehnte Gefühl des Zusammenhalts und die gestillte Wissbegierde trügen aber nicht über die Ausweglosigkeit der Situation hinweg. Ungeduldig hält Klüger Ausschau nach ihrem unauffindbaren Bruder, hört unglaubliche Geschichten über tödliche Gasduschen und verabschiedet ihre neugewonnenen FreundInnen an den Güterwagons gen Osten.
3 Weiter leben. Eine Jugend. dtv 1994, S. 89.
Unbändiger Lebenswille in Auschwitz-Birkenau
Das Tageslicht muss in den Augen geblendet haben, als das Kind aus dem finsteren, stinkenden Güterwagon gestoßen wird und auf die gefürchtete Rampe des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau fällt. „[…] die Luft war nicht frisch, sie roch wie sonst nichts auf der Welt.“4 In wenigen Stunden wird die 12-Jährige dem Vorschlag ihrer hoffnungslosen Mutter, sich gemeinsam in den elektrischen Stacheldraht zu werfen, impulsiv und voller Lebenslust trotzen. So wie die KZ-Nummer A-3537 in feinen Punkten auf die junge Haut gestochen wird, schreiben sich die traumatischen Erlebnisse der folgenden zwei Monate tief in das Gedächtnis der Überlebenden ein: Stundenlange Appelle in der brütenden Sommerhitze, unsäglicher Durst in schlaflosen Nächten, Lastwagen voller nackter, unterernährter Leichen und die Todesangst angesichts anstehender Selektionen. Mit viel Glück, der entscheidenden guten Tat einer völlig unbekannten Mitgefangenen und einer Lüge kann Ruth Klüger Auschwitz-Birkenau lebendig verlassen. Gemeinsam mit ihrer Mutter wird sie in das Arbeitslager Christianstadt, Groß-Rosen verlegt. Bis zu ihrem Lebensende wird sie in den USA wie in Europa gegen alle Widerstände als Zeitzeugin auftreten, von Auschwitz-Birkenau erzählen und entschlossen für ein Erinnern einstehen.
4 Weiter leben. Eine Jugend. dtv 1994, S. 112.
Rachegedicht aus Christianstadt
An einem kalten Nachmittag des Winters 1944/1945 steht die 13-jährige Ruth Klüger vor ihren ergriffenen Mitgefangenen im Arbeitslager Christianstadt und lässt in einem Rachegedicht den personifizierten Kamin in Auschwitz nach den Tätern dürsten. „Und die mich gebaut als Grab, schling ich selbst zuletzt hinab […]“. Noch Jahrzehnte später erinnert sich Vêra Hájková, eine Leidensgenossin in schweren Kälte- und Hungerstunden, in einem Brief an den Auftritt der Freundin. Gemeinsam mit dem Gedicht „Auschwitz“, das am Ende die Hoffnung auf Freiheit ausspricht, zählt „Der Kamin“ zu den frühesten Werken der Lyrikerin. Die erst nach dem Krieg platzsparend auf eine Doppelseite gekritzelten Verse belegen eindrucksvoll Ruth Klügers Auseinandersetzung mit dem Erlebten und den Mut, passende Worte finden zu wollen. Nach der hektischen Auflösung des Arbeitslagers im Frühjahr 1945 gelingt es Alma Klüger gemeinsam mit Ruth und ihrer in Auschwitz adoptierten Stieftochter Susi, die entgegengesetzte Richtung des Todesmarsches einzuschlagen. In euphorischer Freiheitsstimmung schlägt sich der kleine Familienverband mit falschen Ausweispapieren quer durch Deutschland nach Straubing in Bayern durch, beißt in langersehnte frische Äpfel und scherzt mit anderen Geflüchteten am Wegesrand. Noch überstrahlt die wiedergewonnene Freiheit alles erlebte Leid. Bald aber werden die Erinnerungen wiederkehren.
Erinnerungsarbeit oder der Ausbruch aus dem „Käfig der Vergangenheit“
Was bleibt einem Kind anderes übrig als zu verdrängen, wenn es existenziellen Notsituationen ausgesetzt ist, wenn es traumatische Verluste erleben muss? Nach jahrzehntelangem Abstand entdeckt die gereifte Schriftstellerin in einem Gedicht ihr junges, wütendes Ich in einem „Käfig der Vergangenheit“. Sie reflektiert die mit Angst erfüllte Last des Erinnerns. Als Überlebende des Holocausts fordert sie ihre Mitmenschen dazu auf, die Orte aus Respekt vor den Ermordeten bei ihren Namen zu nennen und zu wiederholen: „Theresienstadt, Auschwitz, Groß-Rosen. / […] Sprich sie nach.“ So wie bereits die frühesten Gedichte klare Worte für die Krematorien in Auschwitz finden, zeichnen sich auch diese Verse durch eine schlichte Sprache und provokante Einfachheit aus. Das Gedicht reiht sich in Ruth Klügers unerbittliche Erinnerungsarbeit ein, die mit der Anklage eines verklärten „KZ-Kitsch“ ihren Höhepunkt findet. In den Bonner-Poetik-Vorlesungen im Wintersemester 1994/1995 warnt sie vor der sensationell-drastischen Darbietung von Schuhen, Zähnen oder Haaren in der Gedenkstätte Auschwitz. Im Gegensatz zu emotionsüberladenen Schockmomenten findet Klüger einen menschenwürdigen Ausweg: Authentisches Erzählen auf der einen, aufmerksames Zuhören auf der anderen Seite. Erst in einem respektvollen Miteinander von Überlebenden, TäterInnen und Nachgeborenen gelingt in ihren Augen die angemessene Aufarbeitung der beispiellosen Katastrophe des 20. Jahrhunderts.
Ruth Klüger über die Wirkung von Gedenktstätten